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Kregel nickte. Dann wandte er sich ab und ging in Richtung Lara, die etwas abseits stand und mit Nolte redete.
Jan ließ seinen Blick schweifen. Ihn hielt nichts von dem, was er sah, auch nur eine Sekunde länger hier. Er hatte vor allem einen Vorwand gesucht, das Gespräch mit Kregel zu beenden.
Sein Blick fiel plötzlich auf den Obelisken, der nur wenige Meter von der männlichen Leiche entfernt stand. Er trat näher an den Sandstein heran, der etwas kleiner als er selbst war, und las gedankenverloren die eingravierten Worte: »Komm gern zu mir, doch schone mich, denn alles hier geschah für Dich.«
Jan wiederholte den Satz noch einmal leise für sich. Obwohl es ihm nicht gelang, aus diesen Worten einen tieferen Sinn abzuleiten, blieb die Botschaft in ihm hängen.
Im nächsten Augenblick hallte Cengiz’ tiefe Stimme durch die warme Sommerluft. »Kommt mal her!«, rief er. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.«
Subkulturen
Jan musste unwillkürlich lächeln, als er den Besprechungsraum des Kriminalkommissariats 11 betrat, das für Todesermittlungen, Sexualdelikte und häusliche Gewalt zuständig war und sich auf der zweiten Etage des Bielefelder Polizeipräsidiums befand.
Ein bitteres Lächeln, weil ihm in diesem Moment wieder einfiel, dass die erste Sitzung im Rahmen der letzten großen Ermittlung, in die er eingebunden gewesen war, ebenfalls an einem Samstagnachmittag stattgefunden hatte. Es war der Tag gewesen, nachdem er von der Tournee mit seiner Band zurückgekehrt war. Die Stimmung im Team war damals aus auf den ersten Blick unerfindlichen Gründen am Tiefpunkt gewesen. Es herrschten Misstrauen und Egoismus und taktische Spielchen, vorgelebt von Vera, der damaligen Leiterin des KK 11. Kein Vergleich zu der Zeit vor Jans Sabbatjahr.
Immerhin hatte Ben Kregel es in den vergangenen Monaten geschafft, dieses vergiftete Klima unter den Kollegen durch viele Einzelgespräche und Teambuildingmaßnahmen zu verbessern. Einzig Kai Stahlhut schien das alles nicht zu interessieren. Er agierte noch immer wie ein Bulldozer im Blindflug. Als habe sich die Welt ausschließlich um ihn zu drehen.
Jan lächelte allerdings auch noch aus einem anderen Grund. So grauenhaft und verstörend die Bilder auf dem Velmerstot vorhin auch gewesen waren, er war tatsächlich froh darüber, wieder mit dem Team gemeinsam an einem Fall arbeiten zu können.
Lara saß allein an dem großen Besprechungstisch und nippte an ihrem Becher Kaffee. Sie hatten vorhin nur kurz miteinander gesprochen. Ausschließlich über das, was auf dem Velmerstot passiert war. Nichts Persönliches, obwohl Jan sie allzu gern gefragt hätte, wie es ihr ging. Er wusste nicht, ob sie die Sache mit ihrem Freund in Hamburg bereits geklärt, ihre Beziehung vielleicht sogar schon beendet hatte, so wie er es ihr durch die Blume geraten hatte. Aber für ein solches Gespräch war nicht der richtige Moment.
Einige Minuten später saß das komplette Team der Mordkommission am Tisch und wartete darauf, dass Kregel das Wort ergriff. Er hatte als Letzter den Raum betreten und blätterte seitdem einige Unterlagen durch.
Jan blickte in die Gesichter seiner Kolleginnen und Kollegen. Niemand verzog auch nur eine Miene. Selbst Stahlhut hatte sich bislang zurückgehalten. Vielleicht hatte Kregels Ansprache heute Morgen auf dem Velmerstot ja doch etwas bei ihm bewirkt.
»In Ordnung.« Kregel räusperte sich und blickte nun in die Runde. »So wie es aussieht, haben wir bereits ein paar Informationen über die Opfer vorliegen. Aus den persönlichen Gegenständen, die Cengiz gefunden hat, konnten wir so einiges schließen. Bettina hat vorhin eine erste Verifizierung vorgenommen, die ergeben hat, dass die gefundenen Personalausweise und wahrscheinlich somit auch die übrigen Gegenstände den Opfern gehört haben. Demnach handelt es sich bei dem männlichen Toten um einen achtundvierzigjährigen Mann aus Lage. Sein Name ist Christoph Brok.«
Kregel nahm einen Zettel in die Hand und las das Folgende ab. »Ledig, weder Kinder noch Geschwister. Soweit wir wissen, leben auch seine Eltern nicht mehr. Er war zuletzt Inhaber eines Geschäfts für Fantasy- und Mangaliteratur, Rollen- und Brettspiele sowie allerlei Zubehör. Vorher hat er lange Zeit als Business- und Mental-Coach gearbeitet. Bei den beiden Frauen handelt es sich um die dreißigjährige Anna Laukötter und die neunundzwanzigjährige Michelle Möller, wohnhaft in Oerlinghausen beziehungsweise Leopoldshöhe. Details über familiäre oder berufliche Verhältnisse liegen uns momentan aber noch nicht vor.«
»Rollenspiele und Fantasy?«, wiederholte Jan fragend.
»Ja.« Kregel nickte und stand auf. Er trat neben das Whiteboard und nahm einen der schwarzen Stifte in die Hand. Dann schrieb er den Namen »Christoph Brok« auf. »Als ich vorhin gelesen habe, dass Brok dieses Geschäft geführt hat, musste ich sofort an deine Worte von vor ein paar Stunden denken. Die Kombination aus Mittsommernacht, Fundort und beruflicher Tätigkeit Broks könnte einen ersten Hinweis liefern, weshalb sich die drei gestern Abend überhaupt auf dem Lippischen Velmerstot aufgehalten haben. Dazu kommen weitere Details, die ebenfalls in eine gewisse Richtung zeigen könnten.«
»Okkulte Rituale in OWL«, stieß Stahlhut laut aus. »Darauf willst du doch hinaus.«
»Noch reden wir über nichts Konkretes«, sagte Kregel. »Weil wir im Grunde auch noch gar nichts wissen. Und um von okkulten Ritualen zu sprechen, wie du es nennst, ist es noch etwas zu früh. Gleichwohl könnte es durchaus sein, dass die drei aus einem ganz bestimmten Grund auf dem Velmerstot gewesen sind, und nicht bloß, um zu wandern.«
»Sprich doch aus, was wir alle gesehen haben«, entgegnete Stahlhut. »Die wollten ungestört zu dritt ein wenig die Natur genießen. Mit allem, was dazugehört.«
»Ich hatte gehofft, du würdest dich etwas zurückhalten, nachdem ich heute Morgen mit Jan und dir gesprochen habe. Aber offenbar musst du deine unqualifizierten Kommentare einfach unentwegt loswerden.« Kregels Stimme wurde scharf. »Eines sollte dir aber klar sein: Niemand hier findet das lustig, und die Rückendeckung, die du bei meiner Vorgängerin gehabt hast, werde ich dir nicht länger geben. Ich habe es dir mehrfach im persönlichen Gespräch gesagt und wiederhole es jetzt noch einmal hier vor allen: Entweder du hältst dich in Zukunft zurück und benimmst dich kollegial wie alle anderen im Team, oder ich muss mir Gedanken machen, welche Aufgaben ich dir in Zukunft noch gebe. Einen Querulanten im Team kann ich jedenfalls nicht gebrauchen, vor allem nicht, wenn wir es mit einem schwierigen Fall wie diesem zu tun haben.«
»Das haben schon viele gesagt«, antwortete Stahlhut. »Und am Ende sind sie eingeknickt und mussten mir doch recht geben. Ich mache nichts anderes, als auszusprechen, was die meisten denken. Nur dass es eben etwas radikaler klingt, weil ich einfach kein Blatt vor den Mund nehme. Aber nichts daran ist falsch oder ein Grund, mich aus dem Team zu schmeißen. Du kannst mir nicht den Mund verbieten. Wo kämen wir denn hin, wenn ich meine Meinung nicht mehr sagen dürfte!«
»Du sagst nicht deine Meinung, du willst uns lediglich provozieren«, warf Jan unaufgeregt ein. »Ich sehe das als unsere Herausforderung an, damit umgehen zu müssen.«
»Ihr könnt mich natürlich ausgrenzen, gar kein Problem«, sagte Stahlhut mit verschränkten Armen. »Aber vielleicht wäre es besser, wenn ihr manchmal auf mich hören würdet.«
»Das ist das Letzte, was wir wollen. Ich denke und hoffe, dass ich damit für alle spreche. Solange du das Team eher sprengst als unterstützt, möchten wir uns einfach gar nicht mehr mit dir beschäftigen. Sofern möglich, ignorieren wir dich ganz einfach.«
»Es wäre schön, wenn wir jetzt auf den eigentlichen Grund unserer Besprechung zurückkommen«, warf Bettina Begemann ein. Sie war die Jüngste im Team und neben Cengiz die Kollegin, mit der Jan am engsten zusammenarbeitete. »Niemand hier hat Lust auf Kais blödsinnige Sprüche.«
»Hört, hört.«
»Du beweist wirklich mit jedem deiner Worte, dass du nicht zum Team gehören willst. Warum gehst du nicht einfach zurück nach Herford und kümmerst dich dort darum, dass alles läuft? Wir kommen gut ohne dich zurecht.«
»Schluss jetzt!« Mit einer Handbewegung brachte Kregel Bettina zum Schweigen. »Kai gehört zu unserem Team, und wenn er sich an die Regeln hält, wird das auch so bleiben. Ich erwarte, dass ihr vernünftig miteinander arbeitet.« Er ließ seinen Blick über die Gesichter kreisen und schien sich zu sammeln. »Wir sitzen hier zusammen, weil wir über das reden müssen, was gestern Abend oder vergangene Nacht passiert ist«, sagte er schließlich und sah auf seine Unterlagen.
»Der abschließende Bericht der Rechtsmedizin liegt natürlich noch nicht vor, aber wir haben bereits eine erste Einschätzung, und die ist einigermaßen eindeutig. Dr. von Allwörden schreibt, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich das männliche Opfer mit dem Schwert selbst getötet hat. Vielmehr geht sie davon aus, dass eine dritte Person die Morde begangen hat. Ich betone allerdings noch einmal, dass das nicht der finale Bericht ist, sondern eine vorläufige Stellungnahme.«
»Wir müssen uns auch die Tatwaffe vornehmen«, warf Lara ein. »Das Schwert lässt vielleicht Rückschlüsse auf den Täter zu.«
»Oder die Täterin«, ergänzte Kregel. »Aber du hast natürlich vollkommen recht. So eine Waffe kauft man nicht beim Händler um die Ecke. Wir müssen herausfinden, wo so etwas erhältlich ist und wer überhaupt in dessen Besitz kommen darf. Außerdem sollten wir in Betracht ziehen, dass die akkurate Anordnung der beiden Köpfe vielleicht eine tiefere Bedeutung haben könnte.«
»Ihre Augen waren in Richtung des Mannes gerichtet«, sagte Lara. »Ich denke, es sollte symbolisiert werden, dass sie sich den Tod von Christoph Brok gewissermaßen ansehen mussten.«
»Möglich.« Kregel klang nachdenklich und noch nicht überzeugt.
»Was wissen wir eigentlich über diese beiden Frauen, die die Opfer gefunden haben?«, fragte Jan.
»Offenbar zwei ältere Wanderinnen, die die Morgenstimmung auf dem Velmerstot erleben wollten. Wir hatten ihnen unsere polizeipsychologische Betreuung angeboten, aber sie haben es vorgezogen, sofort nach Hause zu fahren. Laut eigener Aussage haben sie am Tatort nichts berührt, sondern uns sofort verständigt.«
»Kennt jemand diesen Laden von Christoph Brok? Bettina, du vielleicht?« Cengiz blickte seine Kollegin an, als würde er tatsächlich erwarten, dass sie dort Stammkundin war.
»Kennst du überhaupt die Unterschiede zwischen einzelnen Subkulturen?«, fragte Bettina provokant. »Ich komme vom Punk, mit Mangas und Fantasy hatte ich nie was am Hut.«
»Schon gut«, sagte Cengiz beschwichtigend. »War ja nicht ganz ernst gemeint. Aber klar ist, dass wir, wie vorhin schon erwähnt, so schnell wie möglich herausfinden müssen, ob es zwischen dem, was Brok beruflich gemacht hat, und dem, was letzte Nacht passiert ist, irgendeinen Zusammenhang gibt.«
»Vollkommen richtig«, stimmte Kregel zu. »Jan und Cengiz, legt bitte fest, wer sich um was kümmert. Wir müssen alles über Brok wissen. Auch über die Tatwaffe müssen wir mehr erfahren. Und versucht bitte, so viel wie möglich über die beiden weiblichen Opfer herauszufinden. Was sie beruflich gemacht haben, in welchem Verhältnis sie zu Brok standen, ob sie in Beziehungen gelebt haben oder was auch immer. Ich würde gerne so schnell wie möglich wissen, was die drei dort oben auf dem Gipfel des Velmerstot gemacht haben. Sie hatten mehr vor, als sich nur den Sonnenunter- und -aufgang in der Mittsommernacht anzusehen. Denn das, was Cengiz gefunden hat, ist ziemlich eindeutig.«
Kregel schien auf die Details des Funds nicht eingehen zu wollen. Alle im Raum waren selbst auf dem Velmerstot vor Ort gewesen. Außerdem war einiges von dem, was Brok und die beiden Frauen offenbar geplant hatten, so unangenehm, dass Kregel es anscheinend nicht offen thematisieren wollte.
Jan hatte den Inhalt der beiden großen Rucksäcke genau vor Augen. Zumindest die Decken waren unverdächtig gewesen, aber dann waren die Fetisch-Kleidung und das unzweifelhafte Equipment zum Vorschein gekommen. Neben einigem Sex-Spielzeug, das offenbar zur Kategorie Sadomaso gehörte, waren auch zwei GoPro-Kameras dabei gewesen. Noltes Leute hatten bereits überprüft, ob sich verwertbares Material auf den Kameras befand, aber offenbar waren die Speicherkarten leer.
»Ich befürchte, dass wir das Wochenende wohl durcharbeiten müssen«, redete Kregel weiter. »Jedenfalls können wir nicht bis Montagmorgen mit weiteren Ermittlungen warten. Zumal wir morgen früh eine Pressekonferenz geben müssen. Die Berichterstattung dürfte äußerst unangenehm werden. Die ersten Artikel sind online. Auf den einschlägigen Social-Media-Kanälen geht bereits die Post ab.«
»Dann schlage ich vor, dass wir sofort loslegen.« Jan stand auf und beugte sich über den Tisch, wobei er sich mit beiden Händen abstützte. »Cengiz und ich setzen uns gleich zusammen und erstellen einen Plan, wer sich worum kümmert. Bis dahin könnt ihr schon mal alles über Brok und die Frauen zusammentragen, was ihr findet.«
Sein Blick wanderte von links nach rechts und wieder zurück. Nur Stahlhut sah er dabei nicht in die Augen. Der machte allerdings sofort mit einem Räuspern auf sich aufmerksam.
»Verratet ihr mir auch, wen ich mir vorknöpfen soll?«
»Da ich euch Streithähne aktuell nicht zusammenarbeiten lassen möchte, wirst du dich aus dieser Angelegenheit komplett heraushalten«, antwortete Kregel. »Zumindest solange wir nicht gezwungen sind, noch mehr Leute für diese Ermittlungen abzustellen.«
»Verstehe, ich werde hier als Neuer also anders behandelt als die Alteingesessenen. Hätte nicht gedacht, dass ich Vera so vermissen würde.«
»Wenn ich dich daran erinnern darf, bin auch ich neu hier«, sagte Lara entschieden. »Und trotz einiger Anfangsprobleme habe ich keineswegs das Gefühl, dass hier ein Unterschied zwischen Alteingesessenen und neuen Kollegen gemacht wird. Könnte also sein, dass es doch einfach nur an dir selbst und deiner ziemlich unangenehmen Art liegt.«
Jan blickte seine Kollegin überrascht an. Das hatte gesessen. Wenn er nicht ohnehin schon ein wenig verliebt in sie gewesen wäre, dann wohl jetzt. Während Kregel die Besprechung kurzerhand für beendet erklärte und die anderen am Tisch aufstanden, sah er Lara noch immer fasziniert hinterher.
Schließlich verließ auch Jan den Raum. Allerdings mit dem festen Vorsatz, Lara noch auf dem Flur abzufangen und sie um eine Wiederholung ihres Dates zu bitten. Vielleicht sogar noch heute Abend.
Als er auf den lang gezogenen Gang trat und Lara am Kaffeeautomaten erkannte, spürte er plötzlich sein Herz schlagen. So heftig wie schon lange nicht mehr.
Ritual Worlds
Jans Erinnerungen an Lage waren ziemlich verschwommen. Vor über zwanzig Jahren, mit achtzehn, hatte er eine zwei Jahre jüngere Freundin gehabt, die dort bei ihren Eltern gewohnt hatte. Damals war er meistens mit dem Zug von Herford nach Lage gefahren. Eine Zeit, die ihm jetzt wieder seltsam präsent war und andererseits doch so weit weg, dass er Probleme hatte, sich das Gesicht dieser Frau vor Augen zu rufen. Dieses Mädchens, korrigierte er sich.
Lage war größer, als er es erinnerte, fuhr es ihm durch den Kopf, als Cengiz und er durch die Innenstadt fuhren. Jedenfalls war eine gewisse Infrastruktur vorhanden. Sie parkten in der Schulstraße schräg gegenüber von Christoph Broks Laden.
Bevor er losgefahren war, hatte sich Jan den Namen des Geschäfts geben lassen und unweigerlich an die Besprechung mit den Kollegen vor knapp zwei Stunden zurückdenken müssen. »Ritual Worlds« hieß das Geschäft. Stahlhut war es gewesen, der flapsig über einen Ritualmord spekuliert hatte. Ausgerechnet Stahlhut.
Jan war von einer Art Spielwarengeschäft für Erwachsene ausgegangen, wo Fantasy-Bücher, Brett- und Rollenspiele für irgendwelche Nerds verkauft wurden, aber »Ritual Worlds« hörte sich nach wesentlich mehr an.
Cengiz und er blieben vor dem verschlossenen Laden stehen und sahen sich um. Fast alle anderen Geschäfte Lages hatten an diesem Samstagabend ebenfalls geschlossen, immerhin war es bereits kurz nach achtzehn Uhr. Da der Inhaber dieses Ladens vor wenigen Stunden verstorben war, war es aber ohnehin wenig überraschend, dass er nicht geöffnet hatte.
Die beiden betrachteten das kleine Schaufenster und die wenigen ausgestellten Exponate darin. Eine lebensgroße männliche Puppe mit einem samtenen Umhang. Darunter versteckte sich offenbar ein großes Schwert.
Es war in etwa so groß wie das, was in Christoph Broks Oberkörper gesteckt hatte, erinnerte sich Jan. Aber es sah anders aus. Während dieses hier verspielter und geschwungener war und eher wie ein Degen wirkte, hatte die Tatwaffe auf dem Velmerstot wie die eines Ritters aus dem Mittelalter ausgesehen.
»Ich denke, wir werden hier wohl auf niemanden treffen«, sagte Jan schließlich. »Gut möglich, dass dieser Brok den Laden ganz allein geführt hat.«
»Dann machen wir es so wie besprochen«, sagte Cengiz mit gewohnter Deutlichkeit in der Stimme. »Kregel hat uns die Erlaubnis gegeben. Worauf warten wir also noch?«
»Es wäre klüger, wenn wir warten, bis der Durchsuchungsbeschluss offiziell vorliegt. Oder wenigstens, bis Noltes Leute hier sind und den Laden weiträumig abgesichert haben. Aber man muss sich ja nicht immer klug verhalten.«
Er nickte Cengiz zu. Als Zeichen, sich unerlaubterweise Zutritt zum Laden zu verschaffen. Cengiz war auf diesem Gebiet der Beste, den er kannte. Mit einem Gefühl in den Fingern, das mit Sicherheit auch eine Karriere als professioneller Langfinger ermöglicht hätte.
Keine dreißig Sekunden später standen die beiden bereits in dem kleinen Verkaufsraum des »Ritual Worlds« und blickten auf ein Sammelsurium aus Fantasy-Brettspielen, Büchern und Comics, Masken und Kostümen, Waffen, die, wie Jan hoffte, nicht echt waren, und allerhand seltsam anmutenden, größtenteils mittelalterlich aussehenden Gegenständen, deren Sinn sich Jan fürs Erste nicht erschloss.
»Genau so habe ich es mir vorgestellt«, sagte er nach einer Weile. »Als ich achtzehn oder neunzehn war, hatte ich ein paar Freunde, die jedes Wochenende mit Rollenspielen verbracht haben. Das waren eigentlich ganz nette Typen, aber irgendwie auch ziemlich schräge Vögel. Ich schätze mal, dass dieser Laden genau solche Leute anspricht.«
»Warum wundert es mich nicht, dass du mit solchen Freaks abgehangen hast?«
»Das waren nicht nur Freaks«, entgegnete Jan. »Einige von ihnen hatten die hübschesten Mädels am Start, aber an den Wochenenden wollten sie einfach mit ihren Kumpels in andere Welten abtauchen, statt in die Disco zu gehen.«
»Ich kannte auch solche Typen«, sagte Cengiz. »Die waren mir immer suspekt. Meine Befürchtung war, dass die irgendwann nicht mehr zwischen ihren Rollenspielen und der Realität unterscheiden können.«
»Wenn ich daran denke, was wir da heute Morgen gesehen haben, liegst du mit deiner Befürchtung wahrscheinlich nicht allzu falsch. Trotzdem passiert so eine Tat nicht einfach so. Es muss irgendetwas Einschneidendes geschehen sein, dass Brok und die beiden Frauen sterben mussten.«
Sein Finger glitt über einige Buchrücken in dem Regal zu seiner Linken. Jan runzelte die Stirn, als er einzelne Wörter der Buchtitel las. Reinkarnation. Palingenese. Wiedergeburt. Seelenwanderung.
Plötzlich war ein Poltern aus den hinteren Räumlichkeiten zu hören. Da war offenbar jemand, der durch ihren unerlaubten Einstieg in den Laden aufgeschreckt worden war. Jan und Cengiz sahen sich einen kurzen Augenblick lang in die Augen, dann stürmten beide los.
Sie folgten dem Geräusch durch einen schmalen Flur in den hinteren Bereich des Hauses, bis sie schließlich in einer Art Lagerraum standen. Und vor ihnen eine Frau, die Jan auf Mitte dreißig schätzte. Sie war offensichtlich außer Atem, versuchte das jedoch zu verbergen.
»Was wollen Sie hier?«, fragte die Frau so ruhig wie möglich.
Jan brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, weshalb sie so ängstlich war. Falls sie hier arbeitete, hielt sie ihn und Cengiz womöglich für Einbrecher. Oder sie wusste bereits, dass Brok tot war, und befürchtete, jetzt auch in Gefahr zu sein. Jedenfalls war sie in Panik.
»Wir sind von der Kripo Bielefeld.« Cengiz zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn hoch. »Sagen Sie uns bitte, wer Sie sind?«
»Welche Rolle spielt das?«
»Die Fragen stellen wir«, antwortete Cengiz unbeeindruckt. »Haben Sie etwas mit diesem Laden zu tun?«
»Natürlich habe ich das.« Die Frau war ungehalten. »Weshalb sollte ich sonst hier sein?«
»Also arbeiten Sie hier?«
»Auch.«
»Auch? Was denn noch?«
»Ich wohne hier in diesem Haus.«
Cengiz und Jan tauschten einen flüchtigen Blick. Beide hatten offenbar denselben Gedanken.
»Verstehen wir richtig, Sie und Christoph Brok haben gemeinsam hier gelebt?«
»Wir waren zusammen.«
Jan erkannte, dass die Frau, deren Namen sie noch immer nicht wussten, ihre Tränen nur schwer unterdrücken konnte. Offenbar wusste sie, dass Brok tot war. Ihm kamen die Dinge aus den Rucksäcken von Brok und den Frauen, die sie auf dem Velmerstot gefunden hatten, in den Sinn. Und die spärliche Bekleidung der Opfer. Wenn Brok eine Partnerin gehabt hatte, mussten sie die ganze Situation neu bewerten. Wobei sie bislang ohnehin noch keine Schlussfolgerungen hatten ziehen können.
»Verraten Sie uns bitte Ihren Namen.« Jan gab sich zurückhaltender als Cengiz. Mit etwas mehr Empathie, hoffte er.
»Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie nicht längst Bescheid«, antwortete die Frau noch immer trotzig. »Christoph und der Laden waren mein Leben. Und jetzt ist alles vorbei. Zerstört von irgendeinem Verrückten.«
»Ihr Name?«, drängte Jan vorsichtig.
Die Frau schwieg. Jan spürte, dass er allmählich die Geduld verlor.
»Meines Wissens haben wir Sie nicht über den Tod Ihres Lebensgefährten informiert. Woher wissen Sie überhaupt davon?«
»Seit heute Mittag läuft keine andere Meldung mehr in den Nachrichten.«
»Es wurden keinerlei Namen genannt«, sagte Cengiz scharf.
»Glauben Sie ernsthaft, es spricht sich nicht sofort herum, wenn so etwas passiert? Ich wusste es wahrscheinlich schon vor Ihnen.«
»Dann dürfte es wahrscheinlich auch kein Problem für Sie sein, uns zu verraten, wer Ihnen die Namen der Opfer genannt hat.«
»Natürlich nicht, aber vielleicht will ich das gar nicht. Sie haben nicht verhindern können, dass Christoph ums Leben gekommen ist. Wieso sollte ich jetzt ausgerechnet mit Ihnen zusammenarbeiten?«
»Moment mal.« Jetzt reichte es auch Jan. »Würden Sie uns bitte verraten, wie Sie das meinen? Wie hätte die Kripo Ihren Lebensgefährten davor schützen sollen, was passiert ist? Wenn es im Vorwege irgendwelche Anzeichen gegeben hat, von denen Sie womöglich wussten …« Jan brach seinen Satz ab, als ihm klar wurde, dass die Frau ihn offensichtlich nur provozieren wollte. Ob mit voller Absicht oder aus Unsicherheit und Trauer um Christoph Brok, konnte er noch nicht einschätzen.
Er beobachtete sie und versuchte zu verstehen, wen er da vor sich sah. Die Frau passte zu dem, was er vorne im Laden gesehen hatte. Sie trug komplett schwarze Kleidung. Eine enge Kunstlederhose und Schnürstiefel mit Absatz. Obenrum einen ebenfalls eng anliegenden Pullover mit tiefem V-Ausschnitt. Obwohl eigentlich überhaupt nicht sein Typ, fand er sie auf gewisse Weise attraktiv. Sie war schlank und ihr nur dezent blass geschminktes Gesicht hübsch. Aber vor allem ihre Frisur stach ins Auge. Die schwarz gefärbten Haare hatte sie zu einem hohen Zopf gebunden. An den Seiten waren die Haare bis auf wenige Millimeter Ansatz komplett abrasiert.
Jan musste an frühere Zeiten denken. Wenn er sich an Tagen, an denen nur Dark Wave und Gothic gespielt wurde, ins Bielefelder PC 69 oder in die Herforder Großdisco Kick verirrt hatte. Dort waren er und sein bester Freund Philipp die Einzigen gewesen, die keine schwarze Kleidung getragen hatten. Sie hatten gleichermaßen fasziniert wie verständnislos den schwingenden Tanzbewegungen der Gothic-Anhänger zugesehen.
Er hatte keinen Zweifel daran, dass die Frau, die vor ihnen stand, ebenfalls dieser Szene angehörte. Und wenn er an die Bilder auf dem Velmerstot dachte, war er sich auch sicher, dass die drei Toten ähnliche optische Merkmale aufgewiesen hatten. Auch wenn sie nur wenig Kleidung getragen hatten.