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»Angenommen«, setzte Jan wieder an, »Sie und Christoph Brok waren ein Paar –«
»Warum stellen Sie das in Frage?«, unterbrach ihn die Frau rüde. »Glauben Sie mir etwa nicht?«
»Doch, natürlich. Aber umso wichtiger ist es, dass Sie uns bei unseren Ermittlungen helfen. Wie Sie sich vorstellen können, haben wir jede Menge Fragen.«
»Die habe ich auch«, entgegnete sie knapp.
»Nennen Sie uns doch am besten erst einmal Ihren Namen. Das wäre ein guter Anfang für eine vernünftige Zusammenarbeit. Wir werden ihn ohnehin herausfinden.«
»Ich sage gar nichts«, blieb die Frau stur. »Verschwinden Sie jetzt einfach von hier. Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbeschluss oder so etwas?«
»Glauben Sie etwa, wir verschaffen uns hier ohne offizielle Erlaubnis einfach so Zutritt?« Cengiz sprach so überzeugend, dass die Frau augenblicklich einen Schritt zurücktrat. »Wenn Sie sich weiter querstellen, werden wir Sie direkt mit aufs Präsidium nehmen. Dort werden wir uns dann ganz in Ruhe mit Ihnen unterhalten.«
»Und weshalb? Ich wüsste nicht, was Sie dazu berechtigt.«
»Ihr Lebensgefährte wurde umgebracht«, sagte Jan eindringlich. »Genau wie zwei Frauen, über die wir noch so gut wie gar nichts wissen. In welcher Beziehung standen die beiden zum Beispiel zu Christoph Brok? Vielleicht könnte der Verdacht auf Sie fallen, diese Tat begangen zu haben.«
»Wie bitte? Ist das Ihr Ernst?« Sie schüttelte den Kopf und lächelte bitter. Im Zusammenspiel mit der Unsicherheit und Angst, die sie noch immer ausstrahlte, wirkte sie in diesem Augenblick verletzlich. Aber ihre Haltung blieb angriffslustig.
»Sie wollen uns also gar nichts sagen?«, bohrte Jan weiter. »Sie wollen nicht dabei helfen, den Tod Ihres Partners aufzuklären? Bleibt es dabei?«
»Sie wissen nichts über mich«, blaffte die Frau zurück. Für einen Moment hatte Jan das Gefühl, sie würde in Tränen ausbrechen. »Ich werde auch nichts sagen. Da müssen Sie mich schon unter Zwang hier herausschleppen.«
Jan und Cengiz tauschten erneut Blicke. Cengiz wirkte irgendwie abwesend. Offenbar hatte auch er keine Idee mehr, wie sie wichtige Informationen noch herauskitzeln könnten.
»Schade«, sagte Jan schließlich. »Dann werden wir –«
»Natürlich!«, platzte Cengiz unvermittelt heraus. »Diana Spies.«
Jan sah ihn überrascht an.
»Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass wir uns kennen, und jetzt gerade ist es mir wieder eingefallen. Ist schon ein paar Jahre her, damals haben Sie noch in Bad Salzuflen gelebt. Und vor allem waren Sie noch blond und sahen auch sonst etwas anders aus.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, antwortete die Frau.
»Doch, das wissen Sie genau. Schließlich haben Sie sich damals selbst bei der Polizei gemeldet. Sie haben Ihren damaligen Freund angezeigt. Ich kann mich noch genau an unser Treffen erinnern. Wir mussten einen Notarzt rufen, weil wir vermuteten, dass Ihre Verletzungen nicht nur äußerlicher Art waren.«
»Schön, dann wissen Sie jetzt, wer ich bin. Trotzdem werde ich Ihnen nicht helfen.«
»Wir haben Ihnen damals aber sehr wohl geholfen«, entgegnete Cengiz. »Ihr Freund wurde noch an demselben Tag festgenommen.«
»Einen Scheißdreck haben Sie«, brach es aus Diana Spies hervor. »Dieser Typ hat mich kaputt gemacht. Selbst aus dem Knast heraus hat er mir nicht nur gedroht, sondern mir seine widerlichen Kumpel auf den Hals gehetzt. Niemand hat mich vor diesem Psychopathen geschützt.«
»Davon höre ich zum ersten Mal.« Cengiz hob entschuldigend die Hände.
»Wie auch immer«, sagte Jan. »Irgendwann sind Sie jedenfalls offenbar von Ihrem Ex-Freund losgekommen und haben hier in Lage ein neues Leben begonnen. An der Seite von Christoph Brok. In diesem Haus und dem ›Ritual Worlds‹. Ist das richtig?«
»Sie können es noch so oft versuchen, ich werde nichts über Christoph und uns beide sagen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es Sie nichts angeht.«
»Das dürfte die Staatsanwaltschaft wahrscheinlich anders sehen.« Jan blieb ruhig. »Bei einem solchen Verbrechen werden Sie sich einer Befragung oder einer Vernehmung nicht entziehen können.«
»Wir werden sehen.« Diana Spies zuckte mit den Schultern.
»Wer sind die beiden getöteten Frauen, mit denen Christoph Brok vergangene Nacht auf dem Velmerstot gewesen ist?«, probierte Jan es noch einmal. »Wir kennen die Namen, aber in welchem Verhältnis standen sie zu Brok? Haben Sie eine Ahnung?«
»Schluss jetzt!«, sagte Diana Spies plötzlich wieder aufgebracht. »Lassen Sie mich mit meiner Trauer um Christoph endlich allein. Ich habe hier noch ein paar Dinge zu erledigen, und dann muss ich dringend etwas schlafen.«
»Werden Sie hier in der Wohnung über dem Laden schlafen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Was käme denn sonst in Frage?«
»Ich habe genügend Möglichkeiten.«
»Sicher«, sagte Jan.
Er zögerte. Obwohl die dringlichsten Fragen noch immer unbeantwortet waren, sah er im Moment keinen Sinn mehr darin, heute Abend noch länger mit dieser Frau zu sprechen. Sie hatte sich dazu entschieden, vorerst zu schweigen. Das würden sie ihr aber nicht lange durchgehen lassen. Spätestens Montagmorgen würden sie sie aufs Präsidium vorladen.
»Wir brauchen eindeutige Angaben«, kam Cengiz ihm zu Hilfe. »Wo können wir Sie in den nächsten Tagen antreffen?«
»Wie eben schon gesagt, das weiß ich noch nicht.«
»Dann geben Sie uns jetzt bitte Ihre Telefonnummer.«
Es dauerte einige Augenblicke, bis Diana Spies sich durchgerungen hatte, ihre Nummer herauszurücken. Jan und Cengiz speicherten sie auf ihren Handys ab. Während Cengiz bereits zurück in den Verkaufsraum ging, wählte Jan die eben gespeicherte Nummer.
Sofort hörte er einen Freiton in der Leitung. Aber das Telefon in Diana Spies’ Hand klingelte nicht. Nach einigen Sekunden meldete sich eine ältere Männerstimme. Jan legte auf.
»Es hätte mich auch gewundert, wenn Sie plötzlich kooperieren und uns einfach Ihre Nummer geben.« Jan trat auf die Frau zu und fixierte sie.
»Ich habe keine Ahnung, wovor Sie Angst haben. Oder was Sie zu verschweigen haben. Warum Sie uns nicht helfen wollen, den Tod Ihres Partners und der beiden Frauen aufzuklären. Aber wir werden es herausfinden, auch ohne Ihre Hilfe. Sie sollten sich auf jeden Fall darauf vorbereiten, dass wir Sie in Kürze aufs Präsidium in Bielefeld vorladen werden. Wir werden sogar so nett sein und Sie abholen. Und wir werden Sie finden, egal wo Sie heute Nacht schlafen. Ich kann allerdings nicht versprechen, dass wir dann noch so nachsichtig sein werden wie heute.«
Jan holte tief Luft, dann setzte er erneut an. »Wir sehen uns jetzt noch ein wenig im Laden um. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, der uns hilft. Bitte fassen Sie hier nichts mehr an. Die Kriminaltechniker sind auf dem Weg und werden hier in Kürze alles absperren.«
Er nickte ihr mit ernster Miene zu, bevor auch er sich von ihr abwandte.
Seine Hoffnung, sie vielleicht doch noch zum Reden gebracht zu haben, erfüllte sich jedoch nicht. Wortlos ließ Diana Spies die beiden gehen.
Knochenbrecher
Als sie die Tür öffnete und ihn anlächelte, war ihm sofort klar, dass sie es bereits wusste.
Das Lächeln überspielte die Skepsis und vermutlich sogar die Angst, die sie in diesem Augenblick empfand. Vielleicht nicht unbedingt direkt vor ihm. Aber zumindest vor der Ungewissheit darüber, was gestern geschehen war.
»Gut, dass du da bist«, sagte sie mit leicht zitternder Stimme. »Komm rein.«
»Woher weißt du es?«, fragte er, nachdem er die Wohnung betreten und sich an den kleinen Tisch in der Küche gesetzt hatte.
»Wanda hat mich angerufen. Keine Ahnung, woher sie es schon wusste.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Ich denke mal, zu Hause«, antwortete sie.
»Sie werden mit ihr sprechen.«
»Wer?«
»Die Bullen natürlich.«
»Da muss sie durch«, sagte sie vorsichtig. »Wie wir alle.«
»Ich werde vorher mit ihr reden, so wie wir es jetzt tun. Sie muss aufpassen mit dem, was sie sagt.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.« Sie schien verwirrt. »Was soll sie denn Falsches sagen?«
»Du verstehst es wirklich nicht«, antwortete er. Etwas zu abfällig, wie er selbst bemerkte. »Aber lassen wir das. Was glaubst du eigentlich, warum waren die drei gestern Abend oben auf dem Gipfel? Was haben sie vorgehabt? Wir hatten doch nichts besprochen.«
»Keine Ahnung.«
»Wirklich nicht?«
»Natürlich habe ich mir auch meine Gedanken gemacht, aber ich weiß es einfach nicht.«
»Weshalb werde ich das Gefühl nicht los, dass du mehr weißt, als du mir sagen willst?«
»Nein, das stimmt nicht. Wie kommst du denn darauf?«
»Als wüsste ich nicht Bescheid …«, sagte er vielsagend und atmete mehrere Male tief durch. Er musste ruhig bleiben. Dass er sich innerlich aufregen würde, hatte er einkalkuliert. Eine schlechte Eigenschaft, aber er hatte gelernt, die Funktionen seines Körpers zu regulieren.
Nachdem er vor einigen Monaten verstanden hatte, was um ihn herum geschah, war er einige Tage lang außer sich vor Wut gewesen. Wäre am liebsten Amok gelaufen. Hatte sich letztlich doch wieder beruhigt und einen Plan geschmiedet.
Er hatte sich nicht einmal anmerken lassen, wie sehr es ihn belastete, was man ihm angetan hatte. Für ihn war alles zusammengebrochen, was er sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte. Hintergangen und ausgenutzt von Menschen, denen er vertraut hatte. Die er überhaupt erst in diese Gruppe gebracht hatte. Denn ohne ihn hätte es ihren gemeinsamen Glauben an eine neue Welt gar nicht gegeben.
Jetzt waren Christoph, Anna und Michelle tot. Natürlich war da die Hoffnung, dass mit den anderen alles wieder so werden würde wie zu Beginn. Aber er war realistisch genug, um zu wissen, dass es ab jetzt nur noch schwieriger werden würde. Wofür sie standen und was sie taten, würde mit Sicherheit in die Öffentlichkeit gelangen. Er musste gewappnet sein und genau wissen, wen er in dieser Phase an seiner Seite haben wollte.
Ob Britta zum Beispiel diese Person war, konnte er noch immer nicht einschätzen. Er kannte sie nicht gut genug. Sie war erst vor zwei Jahren zu ihnen gekommen. Als letztes Mitglied ihrer Gruppierung. Er mochte sie, gleichwohl fiel es ihm schwer, sich ein Bild von ihr zu machen. Er hoffte, dass sie ehrlich zu ihm war. Aber konnte er ihr wirklich vertrauen? Was zum Teufel sollte er mit ihr machen?
Er rief sich in Erinnerung, dass auch sie sich von ihm abgewendet hatte. So wie alle in den vergangenen Wochen und Monaten. Aber er würde ihr eine Chance geben. »Wann hat das angefangen?«, drängte er Britta unvermittelt.
Sie schüttelte den Kopf und stand auf. Ohne etwas zu sagen, drehte sie sich weg und trat an das kleine Küchenfenster.
»Wann?«, wiederholte er.
»Warum fragst du mich das?«
»Weil ich wissen will, was passiert ist. Wie es überhaupt so weit kommen konnte.«
»Ich bin nicht die Richtige, um dir das zu beantworten. Du weißt selbst, dass ich euch erst seit knapp zwei Jahren kenne.«
»Ja«, sagte er und klang nun deutlich nachdenklicher. »Natürlich weiß ich das. Christoph war so begeistert von dir, dass ich nicht lange gezögert habe, dich aufzunehmen.«
»Ich hoffe, du weißt, dass Christoph mir damals sehr geholfen hat. Ohne ihn wäre ich heute längst am Ende.«
»Und das bist du jetzt nicht mehr?«
»Doch, es geht mir schlecht«, antwortete Britta mit belegter Stimme. Bislang hatte sie ihre Trauer um den Tod der anderen noch einigermaßen überspielen können, doch jetzt schien es so, als bräche alles aus ihr heraus.
»Mir geht es auch nicht gut.« Er heuchelte Verständnis, spürte aber selbst, wie unbeholfen er klang. »Umso wichtiger ist es, zu verstehen, was passiert ist«, kam er zurück zum Wesentlichen. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mir alles sagst, was du weißt. Über die letzten Wochen und Monate. Wer von uns steht auf welcher Seite? Wenn du etwas verschweigst, werden wir in große Schwierigkeiten geraten.«
»Warum glaubst du mir denn nicht?«, fragte sie verzweifelt. »Mir reißt der Tod von Christoph, Anna und Michelle den Boden unter den Füßen weg. Ich verstehe einfach nicht, wer zu so etwas Grauenhaftem fähig ist.«
»Den Boden unter den Füßen wegreißen«, wiederholte er leise und lächelte bitter in sich hinein. »Vielleicht spendet es dir etwas Trost, wenn ich dir sage, dass es mir genauso geht.«
Jetzt erst drehte sich Britta wieder zu ihm um und blickte ihm tief in die Augen. »Nicht, dass ich es wirklich denken würde«, sagte sie mit festerer Stimme, »aber sag mir bitte, dass du nichts mit der ganzen Sache zu tun hast.«
»Was glaubst du denn?«
»Ich hoffe einfach nur, dass es irgendeine andere Erklärung gibt«, antwortete sie unschlüssig. »Eine, die nichts mit uns zu tun hat.«
»Das war keine Antwort auf meine Frage.«
»Natürlich glaube ich nicht, dass du es warst …«
»Aber?«
»Ich mache mir doch nur meine Gedanken. Und Wanda wird es mit Sicherheit nicht anders ergehen.«
Er nickte. Längst hatte er verstanden, was er von Britta halten sollte. Sie zweifelte an ihm. An seinem Plan. Seinem Glauben. Und Zweifel konnte er nicht zulassen. Es war unmöglich, den Weg, der noch vor ihm lag, gemeinsam mit ihr zu gehen.
»Es ist dein gutes Recht, dir Gedanken zu machen«, sagte er schließlich kühl. »Ich kann dich beruhigen. Was passiert ist, hat nichts mit uns zu tun. Aber wir werden damit klarkommen müssen, und wenn wir uns geschickt anstellen, wird alles gut.«
»Hast du denn keine Vermutung, wer es gewesen sein könnte?«
»Nicht ansatzweise«, antwortete er. »Ich kann es mir nicht anders erklären, als dass sie zufällig Opfer geworden sind.«
»Ich werde niemandem etwas verraten«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens.
»Was verraten?«, fragte er irritiert.
»Von uns natürlich. Davor hast du doch Angst, oder nicht?«
Wieder nickte er. Nicht, weil er ihr zustimmte. Vielmehr, weil er endgültig verstanden hatte, dass er nicht auf sie zählen konnte.
»Ich glaube, es ist am besten, wenn jeder von uns erst einmal für sich alleine mit der Sache klarkommt«, sagte Britta jetzt.
Er fixierte sie. Nahm sie sich wirklich heraus, das Gespräch einfach zu beenden und ihn zum Gehen aufzufordern?
»Wir werden sehen, wer seinen Mund halten kann«, sagte er. »Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht.«
Britta sagte nichts. Mit einer zurückhaltenden Handbewegung gab sie ihm jedoch tatsächlich zu verstehen, dass er ihre Wohnung verlassen solle.
Das hier verlief komplett anders, als er gedacht hatte. Er fühlte die Wut hochsteigen. Es konnte nicht sein, dass sie ihn so behandelte. Niemand hatte das Recht, und schon gar nicht sie, ihm zu sagen, wann er zu gehen hatte. Und ihn so an der Nase herumzuführen. Er war derjenige, der bestimmte, was passierte. Und wer das nicht befolgte, musste bestraft werden.
»Was wirst du sagen, wenn die Polizei hier auftaucht?« Er ließ nicht locker und versuchte es noch einmal. »Vielleicht hast du noch bis morgen oder übermorgen Zeit, dir die passenden Worte zurechtzulegen.«
»Um ehrlich zu sein, sehe ich kein Problem darin, der Polizei von uns zu erzählen. Sie muss ja nicht alles erfahren.« Sie lächelte zögerlich. Aber es schien so, als schwinge plötzlich viel weniger Unsicherheit mit. Ihre Angst hatte sie abgelegt.
»Du wirst denen gar nichts erzählen«, schmetterte er ihr mit einem Mal ins Gesicht. Er wusste sofort, was seine Worte anrichten würden.
Von einer auf die andere Sekunde war die Angst in ihrer Mimik zurück. Sie wusste offenbar, was ihr drohte. Wahrscheinlich hatte sie gehofft davonzukommen, ihn in Sicherheit wiegen zu können. Allein die Vorstellung, dass sie so gedacht und ihn derart unterschätzt hatte, machte ihn noch wütender.
Seine Gedanken rasten. Er war unbewaffnet, weil er nicht mit der Absicht hergekommen war, ihr etwas anzutun. Sollte er sich auf sie stürzen und sie mit bloßen Händen erwürgen?
Einige Sekunden lang stand er einfach da und verharrte. Schließlich hatte er sich wieder unter Kontrolle.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dir keine Angst einjagen. Aber die ganze Sache geht auch an mir nicht spurlos vorbei.«
Sie schwieg. Aber ihr Blick blieb ängstlich.
»Glaubst du mir nicht?«
»Ich würde jetzt wirklich gerne wieder allein sein«, antwortete Britta ausweichend.
Sie wollte also nicht mehr. Sie wollte nicht länger Teil der Gruppe sein. Und sie wollte nicht länger auch nur irgendetwas mit ihm zu tun haben.
Vielleicht würde sie sogar ihr Leben lang dichthalten. Über ihre Gruppierung. Ihre Ziele. Und das neue Leben an einem anderen, besseren Ort. Und womöglich auch über das, was sie ahnte. Was er getan hatte. Aber es war einfach zu riskant.
Ganz langsam ging er auf dem Flur einige Schritte rückwärts, bis er die Wohnungstür erreicht hatte. Dann öffnete er sie mit der linken Hand, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. »Du wirst heute noch deine SIM-Karte wechseln, verstanden?«
Sie nickte.
»Wir telefonieren ab jetzt nicht mehr. Ich werde sooft es geht hier bei dir vorbeikommen.«
»Mach dir keine Gedanken, ich komme klar. Ich will nur ein wenig allein sein.«
Weshalb wimmelte sie ihn so hartnäckig ab? Sie wollte doch nicht etwa abhauen?
Ohne ein weiteres Wort trat er hinaus in den Hausflur. Heute war nicht der Tag, er war nicht vorbereitet. Und Britta würde gegenüber der Polizei vielleicht auch nicht sofort einknicken, hoffte er. Aber sicher sein konnte er sich natürlich nicht.
Sie nickte ihm noch einmal zu. Dann schob sie die Tür langsam vor ihm zu.
Das Gefühl der Demütigung stieg unvermittelt wieder in ihm hoch. Heftiger als zuvor. Und stärker als der Drang, weitere Eskalationen momentan um jeden Preis zu vermeiden.
Doch direkt vor seinen Augen fiel die Tür zu. Im letzten Moment stellte er seinen linken Fuß in den Spalt. Augenblicklich spürte er den Druck der Tür. Britta stemmte sich offenbar mit aller Kraft dagegen.
Er schob sein Gesicht jetzt ganz nah an die Tür heran. Bis er ihren Atem hören konnte. Sie kämpfte. Und ahnte mit Sicherheit, dass sie keine Chance gegen ihn haben würde.
Er stellte seinen Fuß jetzt quer in den Spalt, ohne allzu große Anstrengungen. So weit, bis er seinen Kopf zwischen Tür und Rahmen stecken konnte. Er wollte ihr noch einmal in die Augen sehen. Nur für einen kurzen Augenblick.
Er hatte sich keine Gedanken gemacht, welcher Gesichtsausdruck ihn erwarten würde. Vielleicht Verzweiflung und Angst. Oder Tränen, die ihr übers Gesicht liefen. Aber in ihrem Blick lag etwas, mit dem er nicht klarkam. Sie lächelte. Ein Lächeln voller Verachtung, aber auch Gleichgültigkeit. Da war keine Angst mehr in ihren Augen zu erkennen.
Es war kaum zu ertragen, aber er musste sich eingestehen, dass er sie und womöglich alle anderen auch verloren hatte. Ohne zu wissen, wie es dazu gekommen war.
Nein, das stimmte nicht. Er wusste es nämlich genau. Er wusste, wer schuld daran war und wann es begonnen hatte.
Er zog seinen Kopf zurück und trat mit dem rechten Fuß einen Schritt zurück, den linken noch immer im Türspalt. Es war jetzt noch ruhiger als zuvor. Nicht einmal mehr das leise Knarzen der Holztür oder ein Atemgeräusch waren zu hören.
Nur noch Stille.
Er hatte sich entschieden. Auch wenn es ihm schwerfiel. Ganz kurz schloss er noch einmal die Augen. Dann drehte er sich seitlich nach hinten.
Ein letztes Innehalten.
Mit einer schnellen Bewegung zog er den Fuß aus dem Spalt. Dann sprang er mit voller Wucht gegen die Tür und rammte sie in Brittas Körper. Der dumpfe Aufprall durchschnitt die Stille. Gefolgt von dem Geräusch brechender Knochen und einem röchelnden Stöhnen als untrügliches Zeichen, dass es Britta zwischen Tür und dahinterliegender Wand regelrecht zerquetscht hatte.
Er wartete einige Sekunden und lauschte, ob er noch irgendein Lebenszeichen von ihr vernahm. Obwohl er nichts dergleichen hörte, holte er noch einmal aus und presste seinen eigenen Körper gegen die Wohnungstür.
Und noch ein weiteres Mal.
So lange, bis er sich sicher sein konnte, dass Britta tot war.
Er verzichtete darauf, die Wohnung noch einmal zu betreten und einen Blick auf sie zu werfen. Stattdessen zog er die Tür rasch zu und verließ das Mietshaus so unauffällig und schnell, wie er gekommen war. Im vollen Bewusstsein, dass er weitere Menschen töten musste.
Guinness und Nachos
Die Gedanken an das Gespräch mit Diana Spies hingen Jan noch nach, als er den Irish Pub am Rand der Bielefelder Altstadt betrat.
Er hatte noch im »Ritual Worlds« die Kollegen im Präsidium angerufen, damit sie möglichst schnell mindestens zwei Streifen nach Lage schickten. Diana Spies musste dringend observiert werden. Falls sie das Haus in der Schulstraße verließ, durften sie sie nicht aus den Augen verlieren. Fotos von ihr, die sie hoffentlich im Internet finden würden, sollten an alle Kollegen und Kolleginnen verteilt werden. Außerdem würde Kregel bei der Staatsanwaltschaft schnellstmöglich einen Durchsuchungsbeschluss auch für die Wohnung beantragen.
Die Eindrücke aus dem Laden hatten sich bei Cengiz und ihm tief eingebrannt. Je länger sie in den Regalen gesucht, je mehr Schränke und Schubladen sie geöffnet hatten, desto klarer war ihnen geworden, dass es sich tatsächlich nicht einfach um einen Spielzeugladen für Erwachsene handelte.
Nicht nur, dass die meisten Brett- und Computerspiele sowie die unzähligen Comics und Fantasyromane mit dem FSK-18-Label versehen waren, es waren vor allem die Waffen aller Art, die sie in verschlossenen Schränken und Vitrinen gefunden hatten. Auffällig viele historische Waffen, die – so vermutete Jan – womöglich Rollenspielen dienten. Schusswaffen, Hieb- und Stichwaffen und diverse Armbrüste. Auf den ersten Blick hatten sie nicht einschätzen können, ob alle Waffen auch tatsächlich einsatzfähig waren, aber zumindest bei den Messern und Schwertern waren sie sich sicher gewesen, dass es sich nicht um Attrappen handelte. Bei dem Gedanken an das Schwert, das in Christoph Broks Oberkörper gesteckt hatte, lag zweifellos die Vermutung nahe, dass es aus diesem Fundus stammte.
Er hatte kaum glauben können, welches Bild sich ihnen bot. Wie hatte es sein können, dass Brok mitten in Lage einen Laden geführt hatte, in dem die Beschaffung jeder erdenklichen Waffe offenbar kein allzu großes Problem darstellte? Unter der Ladentheke in einem Geschäft angeboten, das nach außen hin vielleicht etwas speziell, aber keineswegs kriminell wirkte.
Jan hatte nach dem Telefonat mit den Kollegen noch einmal zu seinem Handy gegriffen. Diesmal hatte er Nolte angerufen. Er hatte die Kriminaltechniker gebeten, noch heute Abend, aber spätestens morgen früh, wenn der dringliche Durchsuchungsbeschluss hoffentlich vorlag, nach Lage zu fahren und bestenfalls nicht nur den Laden, sondern das komplette Haus auf den Kopf zu stellen.
Während Jan darüber nachdachte, ob Noltes Leute am heutigen Samstag überhaupt noch irgendeinen Zentimeter des Gebäudes untersuchen konnten, erkannte er Lara. Sie saß ganz hinten in dem Pub an einem kleinen Hochtisch. Mit ihrem blonden Kurzhaarschnitt stach sie immer sofort aus der Menge heraus. Zumindest empfand er das so.
Die Folkmusik, die von einer Band in der anderen Ecke des Pubs gespielt wurde, war so laut, dass er bezweifelte, heute Abend eine tiefergehende Unterhaltung mit Lara führen zu können. Es war ihre Idee gewesen, sich hier zu treffen. Vielleicht hatte sie auch gar keine Lust auf Gespräche.
»Schön, dass es geklappt hat, auch wenn es nicht der beste Abend für ein Treffen ist«, sagte Jan, nachdem beide eine Weile eher schweigsam in die Speisekarten geblickt hatten. »In unserem Job kann man das nun mal schlecht planen. Als ich heute Morgen wach geworden bin, war noch alles in Ordnung. Jetzt befürchte ich, dass in den nächsten Tagen die Hölle auf uns wartet.«
»Ich weiß, du bist gerade eben noch in Lage gewesen, aber ich würde heute Abend gerne nicht über die Arbeit reden.«
»Natürlich«, sagte Jan. Froh darüber, dass sie so direkt war. Gleichzeitig spürte er, dass er wie ein Roboter klang. Als wäre er gar nicht bei der Sache, was der Wahrheit tatsächlich ziemlich nahe kam.