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»Also, erstens heißt das Flugbegleiterin, Sie Machoschwein. Und zweitens sagen Sie mir kurz, wie Sie heißen?«, rattert sie bestimmt, aber noch im Grundsatz freundlich Seite eins des Störfallprotokolls herunter.
Guck mal an, das Kostüm kann deutsch! Dumm nur, dass in dieser Situation mein selbst diagnostizierter Sexmangel in einer launisch-riskanten Diskussionsfreudigkeit mündet. Immerhin habe auch ich meine klaffenden Wunden soeben um Haaresbreite überlebt.
»Ja, dürfen Sie, aber ich denke, die Blutung wird dadurch nicht ins Stocken geraten. Falls Sie also gerade nichts anderes vorhaben, könnten Sie einen Arzt ranholen. Oder kleben Sie das hier gewöhnlich mit Mutti-Spucke, Miss Poppins?«
In welchem Seminar sie gelernt hat, dass Konfliktmanagement am besten mit einer saftigen Beleidigung gereicht wird, werde ich sicher nie erfahren. Dafür aber, wie lange sie schon bei der Airline ist. Ja, es lässt sich deutlich an ihren feurig schimmernden Pupillen erkennen, dass sich da einiges angestaut hat. Was das jetzt mit der von mir verursachten Muschelattacke und dem scheinbar nun verblutenden Mittfünfziger zu tun hat, bleibt mir vorerst schleierhaft. Ich lenke die Aufmerksamkeit auf das jaulende Anschlagsopfer. »Tschuldigung, der Mann bricht uns hier gleich weg. Der schaut doch schon aus wie Sichtbeton. Der hat hier schon alles eingesaut. Selbst in Reihe fünfzehn sind Spritzer.«
Nur um sicherzugehen, beuge ich mich zu ihm hinunter.
»Aids haben Sie nicht, oder?«
Nein, hat er nicht, aber museumsreifen Karies und Mundgeruch im fortgeschrittenen Stadium sowie nicht zu leugnenden steigenden Blutdruck. Wenn Blicke töten könnten! Da die Stewardess nun wieder ansetzt, mir bunt bebildert ihren Lebenslauf zu schildern und mit propagandaartig wiederholtem »Wir werden hier alle maßlos unterschätzt« aufzuspritzen, schreite ich selbst zur Tat und frage Reihe für Reihe nach, ob sich in die Maschine vielleicht auch ein Arzt verirrt hat. Es soll ja auch Mediziner geben, die in die Dom-Rep fliegen. Und bei über zweihundert Passagieren ist die Chance statistisch nicht gering. Irgendwie will keiner so recht bei der Rettung des Verletzten mitmachen, denn das Fress-Beschäftigungsprogramm läuft auf vollen Touren und bindet alle Kapazitäten der mampfenden Bordinsassen. Egal ob Pasta oder Hühnchen, kalt schmeckt’s auch nicht besser. Möglicherweise sind ein paar Leute tendenziell etwas angeekelt von meinem blutgetränkten Ärmel.
Ganz vorn meldet sich doch noch jemand. Endlich! Hätte mich auch sehr gewundert, wenn … Nachdem ich mich durchgekämpft habe, entpuppt sich die bisher gehobene Hand als Körperteil eines Sonnenbrandjunkies. Hört, hört! Man sei Physiotherapeut, erfahre ich und ich versuche klarzumachen, wen ich dringend suche. Zeit, etwas zu klären.
»Hey, ich sagte ›Arzt‹. Der Mann hat keine Verspannung, der hat ’ne Eins-a-Platzwunde und kleckert meine Freundin voll. Das sieht echt nicht schön aus. Also, meine Freundin schon, aber der Rest nicht. Was also soll ich mit ’nem Massage-Fuzzi?«
Neben den Blutfleck am Ärmel gesellt sich nun etwas Pastabelag, als der Herr sich der Überbleibsel seines Nudelgerichts an meinem stressgebügelten Hemd entledigt. Ich folge dem freundlich vorgebrachten Vorschlag und sehe zu, dass ich Land gewinne. Zurück am Platz finde ich mich als Zuschauer wieder, weil bereits ein echter Arzt an der Wunde herumdoktert und sich dabei mit merkwürdig intensivem Einsatz mit Delia unterhält, deren bestialische Kopfschmerzen wie von Wunderhand schlagartig verflogen sein müssen. Schön, wenn man vermisst wird. Da war ich mal kurz auf dem Schlachtfeld der Ehre unterwegs, um ein Leben zu retten, und die Zurückgelassene vergnügt sich mit dem Sanitäter. Zu meinem Pech muss ich zugeben, dass der Typ echt sympathisch wirkt und sein Verband beeindruckend professionell daherkommt. Um sowas wie ein Gespräch zu entwickeln, frage ich ihn, ob ich helfen kann.
»Nein danke! Ich hab alles im Blick«, ertönt es mit basslastiger Stimme.
Ja, das merke ich. Und dass man beim Verbinden einer aufgerissenen Glatze gierig in den Ausschnitt der nächstbesten Unfallzeugin stiert, das nennt mal wohl qualitätsgesichert, wie? Das gefällt mir alles nicht. Ich stehe dumm im Gang herum, die Stewardess organisiert den nächsten Streik, der Doc baggert Delia an und die Drohungen der Blutglatze, dass das alle noch ziemlich teuer für mich werden wird, sind für meine wachsende Eifersucht nicht gerade hilfreich. »Nein, ich habe auch keinen Anwalt, und schon gar keinen Billig-Rechtsschutz-Fallschirm, aber danke für den Tipp!«, kontere ich leicht genervt.
»Könnten Sie bitte mal hier kurz Ihren Ringfinger aufdrücken.«
Delia kommt der Bitte gern nach und gibt freie Sicht auf ihren Beziehungsstatus. Nein, ich habe in den letzten Tagen keinen perfekten Moment gefunden, ihr meinen so lang geplanten und völlig makellos einstudierten Antrag zu machen. Wir waren ja immer viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Sonderwünschen nachzukommen. Mal war der Drink zu schwach, mal das Poolwasser zu kalt. Ich kann ihn immer noch vor mir sehen, Pedros Gesichtsausdruck, als ich ihn bat, die Poolheizung hochzuschrauben. Die Mit-mir-nicht-Verlobte presst ihren Finger auf das Ende des Verbands.
»Mach ich das richtig so, Conrad?«, haucht Delia zum Doc, der überaus charmant auf ihre Blicke reagiert.
Ach, man ist bereits beim Vornamen und er sicher schon beim Sprung in ihren Vorbau, der wohl noch immer mir zusteht. Hallo!
»Ich wünschte, ich würde das immer so sanft erleben. Wissen Sie, Heilung beginnt mit Mitgefühl«, säuselt der Medizinmann in seinem Armani-Sweater zurück.
Hätte ich mein Hühnchen schon gegessen, es würde mir unerbittlich wieder hochschnellen. Was auch immer das hier vor meinen Augen ist, diese Soap muss ich umtexten. Zeit für einen eiskalten Stimmungsbruch.
»Und wo fliegen Sie hin?«, plauzt es überfallartig aus mir heraus.
»Zum Flughafen«, schallt es nüchtern zurück.
Das Lachen in Reihe neunzehn schwappt gleichmäßig bis zu den Lauschenden in zwölf und vierundzwanzig hinüber. Haha, ein echter Komiker! Heute halten sich wohl alle Weißkittel für Spaßgranaten. Gut, was frage ich auch so blöd. Um jede Fortführung einer gepflegten Verlegenheitskonversation meinerseits abzukürzen, legt der Herr generös Verbal-Holz nach.
»Passen Sie auf, wir landen alle in Frankfurt. So viel haben wir gerade noch gemeinsam. Danach geht’s nach Schönefeld. Mit ein bisschen Glück fährt die Bahn pünktlich. Wenn alles gut läuft, bin ich noch heute in meiner allein bewohnten Doppelhaushälfte.«
Bei »allein« meine ich ein leichtes Aufleuchten in Delias Gesicht zu sehen, während die Umsitzenden im engeren Kreis eifrig zischend ihre geschüttelten Mitleidsdosen aufreißen.
»Ooooohhh!«
Als er dann noch erwähnt, gerade mal zwanzig Autominuten von mir entfernt in unserem Kochstedt zu leben, dreht mein Kopfkino richtig auf. Das macht es für mich definitiv nicht besser. Was geht hier ab, Leute! Womöglich würde meine Herzdame gleich noch den Pik-König hier in unseren Shuttle einladen. Mann, das wird ja ’ne lustige Heimfahrt über die A 9. Ich mach doch hier nicht den Pflaume! So muss sich ein Winterreifen fühlen, wenn der Frühling naht. Huhu! Hier steht noch einer. Und der heißt Henry. Und der wird hier nicht treuhänderisch abgewickelt. Und schon gar nicht von diesem Schmalspur-Landarzt. Doppelhaushälfte!
»Für ein ganzes Haus hat die Praxisgebühr wohl nicht gereicht, hä!«, schießt es aus mir heraus.
Stille. Er schaut mich kurz an und widmet sich dann wieder dem bereits stattlich angewachsenen Verband des Anschlagsopfers. Also, ich fand’s lustig. Leider der Rest der Bordinsassen nicht, was mir neben dem Vortrag über die von den Kassen unterdrückten Provinzmediziner zusätzlich das verständnislose Kopfschütteln der glotzenden Passagiere einbringt. Wie lange braucht man eigentlich für ’ne Platzwunde! Keine Ahnung, aber die Sitzung hier dauert und dauert. Wenn alle Ärzte so bummeln, muss ich mich nicht wundern, warum die Warteräume aus allen Nähten platzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verzieht sich der Medizinmann wieder in die First-Class-Zone hinter dem tiefblauen Vorhang. Ein bitterer Beigeschmack bleibt mir als Andenken auf der Zunge zurück.
Das Flugzeug nimmt auf dem Anflug nach Frankfurt noch ein paar unterhaltsame Luftlöcher mit. Der Umstieg in den Luftshuttle nach Berlin bleibt zwischen mir und Delia dagegen äußerst ereignisarm. Wir sitzen wieder am Fenster, zusammen und doch auf dem Weg in verschiedene Welten.
Berlin gibt sich nassgrau und regnerisch. Willkommen in der Hauptstadt, da wo die Merkel lacht und das Volk arm, aber sexy logiert. Das Gepäckband in der Ankunftshalle wirkt trostlos. Einsam zieht ein bunter Koffer aus Thailand seine Bahnen. Durch eine Lautsprecheransage piepst eine Frauenstimme furchtbar freundlich, dass nun die Koffer unserer Maschine durch die kleine, mit Gummilamellen dekorierte Öffnung einmarschieren. Die Glatzwunde schnappt sich zwei mausgraue Schalenkoffer, seine Frau eine mattbraune Rolltasche. Als sie gehen, nehmen sie wenigstens auch ihre verächtlichen Blicke mit, mit denen sie mich die ganze Zeit dankbar bedacht haben. Völlig entnervt diskutiert Delia mit dem Rollband. Und als ob sie einen besonderen Draht zu ihm hätte, erscheint zu meinem Erstaunen Sekunden später ihr knallroter Koffer, der sich dem mir gewidmeten hingebungsvollen Ignoranzgehabe entsprechend genauso hartschalig gibt. Gerade als ich ihr gentlemanlike zur Hand gehen will, drückt sie mich seitlich weg und zieht ihr Gepäck herunter. Sie klappt den Griff aus, würdigt mich dabei keines Blickes und … geht. Ja, sie geht. Das macht sie doch nicht wirklich, oder?
»Delia! Jetzt komm schon. Wo willst du denn hin? Ich mein, du kannst uns doch nicht einfach so …!«
Ja, was eigentlich? Wegwerfen? Aufgeben? Abschreiben? Quatsch, Henry, locker bleiben! Die ist sicher nur sauer wegen der Nummer im Flieger. Ein Blick von ihr lässt mich erschauern und meine Gelassenheit direkt in die Luft jagen. Mann, das wird jetzt aber echt nicht nett. Die wird doch nicht …! Spinnt die jetzt? Junge, wenn du nicht gleich was tust, dann ist das die längste Zeit ein »Wir« gewesen. Ich muss sie rumkriegen. Natürlich muss ich das! Okay, was war das Highlight am Strand? Mach schon, Henry! Hier geht’s doch um Delia, dein Schnuckelschnäuzchen … einfach die bestimmt größte Liebe deines Lebens. Hey, was heißt bestimmt, ganz sicher. Na klar! Wir sind das Paar, für immer und ewig, wie man das eben so ist. Mann, wie billig und abgedroschen das alles klingt. Nein, das will und kann ich ihr so nicht servieren. Das muss krachen, ganz tief drinnen. Ich schließe meine Augen. Junge, mir muss doch was einfallen, bevor sie sich ihre Koffer schnappt und einfach auf und davon ist. Also! Komm schon! Und? Jetzt! Ein verzweifelter Schrei entweicht durch meine weit auseinandergerissenen Lippen.
»Was uns nicht umbringt, macht uns härter.«
Autsch! Das … war … nix! Japp! Blödester Spruch ever zum definitiv falschesten Moment. Langsam öffne ich meine Lider und starre direkt auf ihre Hand. Ihr Mittelfinger prangt deutlich vor meiner Nase und zeigt keine erwähnenswerte Regung. Willkommen zurück in Deutschland, wo das klare Wort triumphiert und der unattraktive Dödel ohne Tamtam aus dem Beziehungsamt gejagt werden kann. Der Copy-and-Paste-Minister, der hatte wenigstens noch seinen ganz öffentlichen Zapfenstreich, aber ich fürchte, dass ich das bald selbst wieder aber sowas von allein für mich feiern darf.
»Hey, Delia, was wird das denn jetzt? Hier? Mit uns?«, frage ich mitleiderregend, nicht ganz ohne provoziert jämmerliche Moll-Note, und muss mich dabei völlig bedeppert anhören.
Sie neigt ihren schmalen Kopf und schaut mir noch immer regungslos in die Augen, als sie sich anschickt, die Eiszeit über uns auszubreiten. »Schau auf meinen Status bei F...!«
»Was?«, falle ich ihr komplett orientierungslos ins Wort und bemerke dabei nicht, dass Sie weitergeht, während ich unter der Kälteglocke zu bibbern beginne.
Was soll ich machen? Das ist doch alles ein bekloppter Scherz. Kein »Komm schon, Henry, wir fahren heim«? Keine Umarmung? Kein »So, und nun sind wir alle mal wieder normal«? Ich soll mich an den Rechner schmeißen und nachlesen, woran ich bei ihr bin? Sag mal, geht’s noch! Scheiß auf das Fratzenbuch! Was haben bloß alle damit? Kann denn keine Sau mehr was sagen, wenn es angebracht ist? Direkt, ungepimpt, einfach analog, ohne dass die halbe Welt mitliest! Das Kofferband leert sich, doch mein Gepäck kann ich einfach nicht entdecken. Delia taucht gerade in eine Menschentraube ein, als ich ihr nochmals nachrufe.
»Delia!«
Es bringt nichts. Ein paar Passanten schauen mich blöd an, als hätte ich ihnen frisch verkündet, dass das Ende aller Tage sowas von nah wäre. Da geht sie, meine … was auch immer … zum Taxistand und hebt ihren Arm. Sie winkt. Und winkt. Nur nicht nach mir.
Das Gepäckrollband bleibt leer und steht nun still. Langsam sacke ich auf der Metallkante ab und rutsche zu Boden. Ich habe doch immer gewusst, was ich wollte. Ich wollte sie, irgendwie bei mir, das musste doch so sein. Das war doch schon immer so. Sie kann jetzt nicht einfach hinschmeißen, sich selbst auf den Markt werfen und mich als Ladenhüter zurücklassen. Das ist sie mir schuldig. Ich meine, alles war klar und wir beide … zusammen und glücklich … aber sowas von zusammen glücklich … mit all unseren Träumen von Haus, Kind und … na eben Pipapo. Glücklich. Glücklich? – Natürlich … glücklich! Na ja, eben was man so erträumt. Mit jeder stummen Wiederholung auf meinen trockenen Lippen wird es blasser, unwirklicher, kälter. Aber es ist doch das, was ich will. Was jeder will. Natürlich nach und nach und wohlüberlegt, nicht überstürzt. All das soll jetzt nicht mehr sein wegen einer lächerlichen Frage nach Chicken or Pasta? Wegen eines blassen Karibikurlaubs und einer klaffenden Platzwunde. Sie hat sich entschieden – allein entschieden. Ich bot ihr blass durchgekochtes Chicken, aber sie verlangte wohl nach unbekannter Pasta. Basta! Mit einem Spontananfall an verletztem Stolz blicke ich ihr verächtlich hinterher. Soll sie doch glücklich werden. Mit mir war sie es wohl nicht. Und ich? War ich es je gewesen? Mein Gepäck hockt in diesem Augenblick, so soll ich später erfahren, übrigens noch in Amsterdam. Meine Klamotten sind also noch kiffen und mich beschleicht ein beschissenes Gefühl, dass nicht nur meine dreckige Wäsche völlig vom Kurs abgekommen ist, sondern auch ich mich gründlich verflogen habe.
Ich könnte jetzt also gehen und Delia wäre mein persönlicher Hans-Dietrich Genscher, der heute nun zu mir gekommen ist, um mir mitzuteilen, dass meine Ausreise – bei mir will kein frenetischer Jubel einsetzen – aus ihrem Leben bewilligt ist. Da stehe ich also, am Flughafen, ohne Koffer, ohne Freundin und ohne eine Ahnung, was ich eigentlich verloren habe. Mein altes Ich ist noch immer in Punta Cana und schlürft Piña Colada. Mein altes Ich hatte einen klar durchdachten Lebensplan, der wie ein Bordcracker im Nichts zerkrümelt ist.
BLANKGEZOGEN
Die Fahrt von Schönefeld nach Hause vergeht wie in Trance. Es ist völlig egal, wann ich daheim ankommen werde. Delia hat wohl schon beim Passieren des Ortschildes unserer in sich selbst zerrissenen Doppelstadt den Landarzt im Social Net gesucht, gefunden und sicherlich zehn Minuten später durchgedated. Und ich würde die Reste aus meinem übersichtlich bestückten Kühlschrank vernichten wollen, nur mager fündig werden und bei bestellter Pizza und Bier vor der inhaltsarmen Glotze versacken. Nein, ich habe es wahrlich nicht eilig und der Shuttle-Chauffeur sicherlich auch nicht. Immerhin habe ich ihm fünfzig Euro extra in die Hand versprochen, wenn er die Klappe halten und einfach über die Autobahn juckeln würde.
»Willkommen im Land der Frühaufsteher! Ja, ihr mich auch, Leute! Ihr mich auch.«
Ja, wir in Sachsen-Anhalt stehen früher auf, weil die guten Tage einfach kürzer sind. Allein für diesen Slogan lohnte sich schon die Flucht in den Westen. Noch immer sind es siebenundvierzig Kilometer bis Dessau. Siebenundvierzig Kilometer Abstand vom Heute ohne sie.
Als ich die Wohnungstür – bepackt mit fälligen Rechnungen und Werbeblättern – mit leisem Knarren öffne, kommt mir nicht der erwartete Duft von verfaulten Zimmerpflanzen und Partymief entgegen. Wann immer ich für längere Zeit nicht zuhause bin, gebe ich Tacko die Schlüssel, damit er sich ums Grün kümmert. Und bisher hatte er nicht den Hauch einer Ahnung, dass jene im Baumarkt günstig erkämpften Fauna-Trophäen auch jämmerlich ersaufen, wenn man es darauf anlegt. Vielleicht ist es ihm auch einfach egal.
»Hey, guck mal an, DSL wird billiger«, murmele ich vor mich hin, als ich nebenbei einen der Umschläge sichte und plötzlich eine Einladung in die Vergangenheit in der Hand halte: Ehemaligentreffen Abschlussjahrgang ’97? Schon Anfang September, am Ersten!
»Na super! Was soll ich denn da? Und ausgerechnet jetzt. Feiern? Weltkriegsbeginn sicher nicht, obwohl ich ja gerade genug frische Trümmer ins Haus schleppe. Danke, Dörte!«, reiße ich gedanklich an und komme nicht umhin, mit der Nase hastig umherzuschnüffeln.
Komisch! Hier riecht’s so merkwürdig neutral? Hat Tacko etwa gelüftet? Nee, das wäre zu abwegig. Hausfrauenarbeit lehnt er kategorisch ab, irgendeine im Internet gefundene Religion würde ihm das streng verbieten. Bestimmt die gleiche, nach der sich gebrauchte Kondome auch in der Wohnung des besten Freundes als Innenraumdeko drapieren lassen. Als Gegenleistung, als ob man sich für die Vernichtung von Zimmerbegrünung noch erkenntlich zeigen müsste, kann er während meiner Abwesenheit hier tun und lassen, was er will. In seiner Welt heißt das, bei Dates, die später nerven könnten, ist das die ideale Alibi-Absteige. Reinkommen, flachlegen und abschieben. Na ja, bisher hat er seinen …
Ich zucke zusammen, als hätte ich einen Geist gesehen. Der Schreck fährt mir in die Tennisschuhe, prallt in den schweißgefluteten Einlagen zurück, schnellt mir unter mein straßenköterblondes Haupthaar und hinterlässt ein geschocktes Stechen in der Brust. Für einen Moment glaube ich, freien Blick auf die total weiß gehaltene Flurwand zu haben, als ich meinen Blick von der Ladung Post in meiner Hand abwende. Nein, ich glaub das nicht! Muss ich auch nicht, denn ich sehe es. Ich meine, ich sehe da nichts, gar nichts, nicht mal die Ahnung von einem Etwas. Nichts, was steht, hängt oder liegt. Alles leer!
»Wo ist mein Schuhschrank?«, entfährt es mir. Ja, ich atme es aus, als trete eine neue Eiszeit mit ganzer Macht aus meinen Hirnwindungen hinab in meine Glieder, die sich allesamt zusammenziehen, als müssten sie in der Stunde der nackten Not zusammenhalten. Meine Stimmbänder möchten versagen, aber das Herz gibt sich kämpferisch. »Wo ist das ganze Zeug hin?« Mein Bauhaus-Kunstdruck-Triple, der Wandteppich aus Pamukale und der original Star-Wars-Film-Schnipsel von 1977?
Und die sauer erstandenen Monster-Movie-Filmplakate, auf denen elegante Sci-Fi-Türme, Panzerkreuzer und ganze Luftwaffenverbände unter gigantischem Geschrei geschlachtet werden? Was habe ich bei Ebay ausgeharrt für jene Frankensteins meiner Kindheit, heimlich aufgesaugt durch das Schlüsselloch zum fernsehgefüllten Wohnzimmer. Poster samt Original-Autogramm aller bereits sicher abgelebten Hauptdarsteller, wenn ich auch zugeben muss, bei Frankenstein selbst immer einen gewissen Zweifel gespürt zu haben, dass so etwas je real existierte. Egal, das waren Erinnerungsstücke. Meine, meine, meine! Allein die Rahmen haben so viel gekostet wie ein halbes Jahr genussvolle Zigarettensucht, der ich als Finanzierungskompromiss danach gänzlich entsagte. Und wo ist meine Vitrine mit der Jahrzehnte aufgebauten und gehüteten Sammlung originaler Ford-Modelle, die Matchbox je rausgebracht hat.
»Mann, wo sind meine Matchis?«, stammele ich völlig perplex gegen die Raufasertapete und suche weiter nach einem Hauch von eingerichtetem Ich.
Die Gästehausschuhe, das abgenutzte Schlüsselbrett, die Willkommen-Matte – alles Geschichte. Ich stürze durch den kahlen Flur. Der Schall meiner Schritte bis zur Wohnzimmertür ist das Einzige, was neben mir hier zu finden ist. Ich reiße die abgerundete Klinke nach unten und starre in die gleiche Leere, als hätte ich heute hier den Besichtigungstermin zur Unterzeichnung des Mietvertrages. Vier Wände und kein Halleluja! Ich komme mir vor wie beim Ausverkauf. Selbst die abgrundtief hässlichste Sammeltasse, die ich nur aus falscher Sentimentalität meiner Uroma zuliebe geduldet habe, ist wie vom Erdboden verschluckt. Letzterer auch. Besser gesagt das von mir in mühevoller Kleinstarbeit gesetzte Parkett. War nicht perfekt gelegt, aber meins. Und nun? Ich bin allein, allein … allein … im Zwiegespräch mit dem nackten Estrich, der sich devot vor mir ausbreitet. Fassungslos sacke ich zusammen und der Stress des Rückfluges scheint dagegen so harmlos wie ein Schulwandertag in der ersten Klasse auf den Gipfel des Spitzbergs mit gekochtem Ei und einem fröhlichen Pionierlied auf den Lippen. »SCHEEEIIIISSSEEE!!!«
»Mensch, Herr Thomas, sinn ja noch da! Dachte schon, Sie sinn schon wech«, brummt eine tiefe Altherrenstimme in die Stille meines ausgeweideten Zuhauses.
Meine Nase ist schneller als die müden Augen. Und so erkenne ich an der aufdringlichen Zigarrenwolke, dass das nur einer sein kann. Der Meier aus dem Erdgeschoss, nebenbei Hausmeister für die ganze Wohnanlage und Security für die Restmülltonen, sieht viel zu blendend aus in Anbetracht der Situation, in der ich mich befinde. Während er mir freundschaftlich auf die Schulter klopft, zieht er mit der anderen Hand einen Schlüsselbund aus dem von ihm prall ausgefüllten Blaumann.
»Ich wechsele nur mal ehm de Schlösser. Wissen Se! Is Vorschrift, zur Absicherung für Ihre Nachmieter. Übrijens, Sie hamm echt dolle Kumpels. Machen den janzen Umzuch für Sie. Mann, warn die schnelle. Sollte ’ne Überraschung wer’n, woah! Sauber, nich!«
»Hä!«, stottere ich und überlege, wo ich mein Handy hingesteckt habe, als würde ich da ein Wörterbuch »Hausmeister – Ich/Ich–Hausmeister« finden.
Ich verstehe rein gar nichts. Neue Mieter? Überraschung? Und was für Freunde?
»Ich war doch nur zwei Wochen in der Karibik, hab den Pelz in die Sonne gestreckt und …«
Meier unterbricht mich mit sanftem Ton, als ich ihm gerade klarmachen will, dass ich nur noch ’ne kalte Dusche will.
»Und? Wars scheen?«
»Ja … äh … nein! Das weiß ich noch nicht … Mann, wo sind meine Sachen hin?«, gebe ich mit steigender Unruhe zurück.
»Keene Ahnung! Sicher in de neue Wohnung. De Jungs hamm den janzen Lkw volljepackt. Also, ich weeß ja nich, wo Sie de Polen herhatten, aber faul warn die Brüder nich. Sacht mer doch so, woah. Mein lieber Scholli, ’ne Fünf-Raum-Wohnung in ’ner Dreiviertelstunde! Respekt, mein Lieber! Kannste echt nicht meckern.«
Ich hab keine Ahnung, welche verdammte Kamera-Verarsche hier abläuft, aber mir ist absolut nicht danach, hier noch zusätzlich einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde für die schnellste Zwangsräumung meines Lebens zu feiern und wiederhole mich: »Wo sind meine Sachen?«
Meier mit seinen sportlichen hundertzwanzig Kilo ist mittlerweile damit beschäftigt, die Schrauben der Türklinken zu lösen, als ich mich fasse und bestimmt auf ihn zugehe.
»Äh, das können Sie lassen. Ich ziehe nicht aus. Haben Sie vielleicht mal nur einen kurzen Gedanken daran verschwendet, dass die mir hier alles geklaut haben!«
Meier guckt mich ungläubig von unten aus der Hocke an.
»Nee! Wieso? Die war’n doch total nett!«
Stimmt! Nette Leute klauen nicht. Denn Typen, die Wohnungen ausrauben, tragen ja alle rote Pullover mit ’ner Nummernkombi auf der Brust, Dreitagebart und das fieseste »Hehehe« aller Zeiten im Gesicht. Mensch Meier!
»Wir sind doch hier nicht in Entenhausen, Mann!«
Meier, der nun gar nichts mehr versteht und seinen letzten Satz nochmals liebevoll ernüchtert, aber leiser wiederholt, lässt von der aufatmend hochschnellenden Klinke ab. Und als bräuchte ich jetzt noch einen Nachruf für meine tote Wohnung, stammelt der Haus-Hobbit verwirrt in sich hinein. »Na ja, sinn ja nur Sach’n. Kam’mer ja willer koofen, woah! Des Lehm jeht weiter. Hauptsache jesund, wie! Besser de Couch is weg als deene langbeenige Matratze fürs Schlafzimmer.«
»Was? Meine Matratze ist noch da?«