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Meine Alterherrenwitzsensoren laufen nicht mal mehr auf Standby und so fühlt sich der Meier genötigt, mir den Witz auch noch mit reichlich Nachschlag zu erklären. »Ich meente eigentlich nur, na ja … de hübsche Freundin?«
Aha! Ja, haha! Köstlich! Ich könnte kotzen vor Freude. Mein gezwungenes Lächeln ist ohne Frage kein Kick-off für eine legendäre Männerfreundschaft, was Meier auch nicht ignorieren kann. »Kam’mer nüschts mach’n. Aber seh’n Ses ma so, in Afrika hamm de Leute nich mal was, was ihnen eener klauen kann.«
Richtig! Da geht’s mir ja hier eindeutig besser. Danke Meier, du hast Eier! Die Motivationsansprache war ja wohl voll ein Schuss in die Omma! Okay Henry, jetzt mal ganz ruhig. Mit meinen angespannt zuckenden Händen fahre ich über mein ebenso angespanntes und hochrot angelaufenes Gesicht. 1-1-2 anrufen, keine Frage. Nein, erst Tacko, danach die Bullen. Mit drei kräftigen Hieben schlage ich mir mit der flachen Hand in den Nacken in der Hoffnung, aus einem ganz bekloppten Traum aufzuwachen. Nein, ich sitze nicht in einer Traumebene fest. Das hier ist vollkommen real und verfickt noch mal richtig scheiße. Nachdem ich mit voller Wucht die Fingerknöchel meiner Rechten an die massive Mittelwand meiner Null-Komma-Nichts-Galerie geschlagen habe, krame ich nach meinem Handy, das sich alle Mühe zu geben scheint, in meiner Tasche unentdeckt zu bleiben. Schwarze Gehäuseschale in schwarzer Tasche. Wer denkt sich sowas aus? Mode! Gut, dann eben auskippen.
»Macht meene bessere Häfte och immer so, Herr Thomas«, bestätigt mir das Hausmeisterchen engagiert und stochert mit seinen zugekniffenen faltigen Guckerchen durch das bunt bestellte Beet an Fundstücken. »Was issn des? Va-gi-nal-pilz-cre-me?«
»Wie? Vagi... was?«
Na klar! Reviermarkieren 2.0 – danke, Delia! Ich probiere es erst gar nicht zu erklären, was einer wie Meier, der sich seine Hanni Kittelschürze wohl noch vor Erfindung des Faustkeils direkt aus der Bärenhöhle gerissen haben würde, mit der Tube anstellen könnte. Und das muss ich auch nicht, denn ich habe gefunden, wonach ich noch eben völlig entnervt gesucht habe. Blitzschnell fahre ich übers Telefon.
»Tacko, komm schon, geh ran! Bitte!«
Durch die weit offen stehende Eingangstür vernehme ich einen prolligen Klingelton. Die Schritte sind bestimmt und in unangenehm gut gelauntem Grundrhythmus. Noch bevor ich auch nur einen Körperteil erahnen kann, baut sich vor mir ein fantastisch durchgestylter Typ in hautenger Jeans, Kapuzenjacke und voll verspiegelter Magnum-Brille auf. Unbelievable! It’s him! Tacko!
»Na Alter! Geil, oder?«
Achtung, mein Lieber, das wird doch nicht wieder so eine Film-Quiz-Scheiße, bei der ich am Zitat den Titel reißen soll.
»Geil!?«
Geil ist jetzt ja wohl überhaupt nicht das, was ich als ersten Kommentar erwartet hätte, aber in Anbetracht der aktuellen Leere in meinem Kopf und in Kenntnis seiner exzessiv gelebten Selbstliebe ist mir klar, dass er mit »geil« wohl nur mal wieder sich selbst hypen mochte.
»Japp, siehst gut aus, Tacko! Na ja, wie immer eben, ne!«
Sein postwendend abgeschicktes, überzogen verlachtes »Du aber auch, Schmucker! Du auch!« als willkommen heißendes Wiedersehens-Hallo nehme ich sofort dankbar an. Etwas Gutes, das die nunmehr geräumige Wohnung mit ein wenig Gefühl auffüllt. Hey, ich nehm jetzt echt, was ich kriegen kann, und wir umarmen uns herzlich. Die Schläge auf den Rücken sind wie Balsam. Der feste Männergriff von meinem besten Kumpel wird von meiner Verwirrung aufgesaugt wie Penicillin von einem Schwerstkranken. Tacko nimmt die Brille commerciallike mit dramatischem Seitengriff von der einen Schläfe zur anderen ab und lässt diesen »Ich würd mich am liebsten selbst bespringen«-Blick auf mich niederregnen.
»Hab doch gesagt, auf mich kannste dich verlassen. Sauber! Echt gründlich! Ach hier, der neue IKEA!«
Ich muss mich kurz schütteln und versacke in einem komplett wirren Gedankensalat. Was? IKEA? Was soll ich denn mit ’nem Katalog? Irgendwelche bis dato ungenutzten Hirnregionen machen plötzlich einen auf Teambildung und kotzen lustig kleinere Erkenntnisbrocken aus, die sich über mir zu einer gewaltigen, übel stinkenden Gewissheitswolke zusammenpappen.
»Nee nicht, oder!«
Der will mir doch …! Moment, so lange war ich nun nicht weg, dass hier ein fetter Aprilscherz in der Luft liegt. Wir haben Sommer!
Mit einem nüchternen Handschlag haut Tacko mir einen knittrigen Hunni in die Linke. »Hier, die Auslöse, war weniger wert, als ich dachte, aber du hättest das ja eh alles weggekloppt.«
Völlig bedeppert betrachte ich den Schein, als wäre er mein lang ersehntes Begrüßungsgeld. Ich weiß nicht, ob ich mich nun hier wie ein naiver Ossi nach der Maueröffnung freuen oder eher wie ein von Schulden zerfressener Grieche komplett austicken soll.
»Tacko, du bist doch mein Freund …?«, frage ich mit preisverdächtiger Zurückhaltung, dabei aber überdeutlich artikuliert, als wäre er gerade im Integrationskurs »Deutsch für Anfänger« – Basislevel, versteht sich.
»Auf jeden, Henry. Auf jeden!«
»Gut! Dann … schauen wir uns doch mal hier um? Und was fällt uns da ein klitzekleines bisschen auf, was nicht so ganz normal sein könnte?«
»Ähm, na ja, wenn du so fragst. Ich hätte als dein Freund ja nix gesagt, aber … du riechst aus’m Schritt. Musst ja ordentlich gedödelt haben, wenn die Dusche das Einzige ist, was du nicht benutzt hast. Könnte wetten, Delia läuft nur noch Gangnam Style, was?«
Keine Ahnung, ab wann Blut kocht, aber über diesen Punkt bin ich mehr als hinaus.
»JA, MIR STINKT’S! UND ICH HAB SEIT MONATEN NICHTS ›GEDÖDELT‹, HERR TACKO! Was, verdammte Scheiße, ist hier los? Du solltest Blumen gießen? Meine bekloppten Blumen gießen! BLUMEN … verstehste! Und ›gießen‹ … nur ›gießen‹! Nicht umtopfen, nicht beschneiden, nicht besudeln und schon gar nicht weghauen … wie alles andere hier. WO IST MEINE WOHNUNG? Wieso sieht’s hier aus, als hätte ich im Wahn die ganze Hütte entkernt?«
»Na, weil du das so wolltest. Hey, wenn einer extra aus dem Urlaub den Obama macht, dann schmeiß ich mich rein.« Mit einem in Dessau nur vom Zaziki-Tempel an den Sieben Säulen bekannten Service-Grienen setzt er nach: »Aber nur für meine guten Freunde.«
»O-B-A-M-A?«
»Na hier, ›Change is coming‹. Und ich bin dabei. FREEDOM FOR HENRY! Keine Ursache!«
Nein, mir ist jetzt nicht nach Freundschaft feiern und einer lockeren Ouzo-Ziehung mit meinem selbst ernannten Heiland, obwohl hier kein Zweifel besteht, dass TACKOBAMA wie Katrina-Wirbelsturm über meinem bis dato liebevoll eingerichteten Lebensraum gewütet hat. Nennen wir es einfach Schockstarre, aus der ich mich ganz im Sinne von Tackos Gesundheit besser noch nicht lösen sollte.
»Was hab ich! Was? Hör mal, mein Gepäck ist in Amsterdam, ich habe meine Beziehung mit Delia im Bordklo versenkt und nun noch selbst meine Bude blankgezogen? Erklär’s mir, Tacko. Egal wie! Aber erklär’s mir! Und hör auf zu grinsen, als würdest du den Lemuren im Tierpark beim Ficken zuschauen.« Was ich gerade tue, ist kein Schreien mehr, es ist kurz vor dem finalen Klick, ganz nah an der feierlichen Verleihung der goldenen Dauerkarte für den Aufenthalt in Uchtstpringe. Schwester, die Pillen für Herrn Thomas, bitte!
»Wieso? Koffer? Delia? Hey, Henry, ganz locker, ja! Du hast mich angerufen, aus der Karibik. Völlig wirre Kacke! Alles durcheinander.«
Richtig, ich hatte angerufen. Einfach mal Hallo sagen, nur um … na ja, … um Hallo zu sagen.
»Aber was für ein Hallo!«, steigt Tacko energisch begeistert ein. »›Beschissen‹ und ›endlich raus aus dem Mief‹. Das haste gesagt. Ey, komm! Und dann haste was von ›innerer Leere‹ gefaselt oder so. Ja, du wolltest dich jetzt endgültig ›freimachen‹, von allem … irgendwie. Da war auch ›Wohnung‹ dabei. Sei froh, dass ich überhaupt rangegangen bin? Weißte, an wem ich da grad dranhing? Nein, da bin ich mal Kumpel wie Sau und lass die Mädels auf dem Kneipenklo abkühlen, weil Herr Henry sich halt mal auskotzen will. Da musste nicht Danke sagen. So bin ich!«
Als wären wir mitten in einer dieser mit Coolness gestopften Gangster-Rapper-Schmonzetten, bumpert er sich mit geballter Faust auf die aufgepumpte Männerbrust, um mir sein Herz zu Füßen zu legen.
»Da drin, da biste! Ich spür alles. Dein Gesabbel, das klang auch alles irgendwie okay, also, das zwischen dem Knacken und Rauschen. Komm schon, Dicki?«
»Hey, jetzt ist nicht die Stimmung für neue Spitznamen, ja! Provozier mich nicht, Eddi!«
Aus offenkundiger Angst, seinen zweiten, zu seinem Übel verhassten Vornamen nun möglicherweise öfter zu hören, flüchtet er sich in die Fortsetzung seiner Version der Geschichte. »Warum soll ich dir das nicht abkaufen? Pack den Ochsen am Schwanz! Ach übrigens, ich sag mal Glückwunsch, dass du Delia abgeschossen hast. Das nenn ich echt mal korrekt. Keinen Sex haben kannste auch allein. Oder willste jetzt doch behaupten, dass die am sonnigen Arsch der Welt mal ihr Bermudadreieck gelüftet hat, oder was? Komm, klatsch ab, Alter!«
Ja, echt toll! Tacko hat sich innerhalb von Millisekunden wieder gefangen, was ich von mir gar nicht behaupten kann.
»Hey, und keinen Depri schieben. Ich besorg dir ’ne Neue. Weiß schon, was jetzt passt. Also, unten rum. Vertrau mir.«
Wie auch immer er sich den Umschlag geangelt hat, plötzlich fuchtelt er mit Dörtes Einladung vor meiner Nase herum und garantiert mir in bestem Versicherungssprech, dass er sich bis zur Deadline um alles kümmern werde und dass dieser Event mein ganz großer Triumph werden könne.
»Das ist alles ein Zeichen. Easy!«
»Tacko, halt die Fresse. Halt einfach mal die Fresse!«
Was er auch tut.
Er würde mir das nicht nachtragen, auch wenn es mir im Moment vollkommen egal ist. Und so ergießt sich eine Tsunamiwelle nach der nächsten über ihn, in denen meine gute Erziehung qualvoll ersäuft, wobei ich durchaus erstaunt bin, welch buntes Beleidigungsarsenal in meinem Gedächtnis eingelagert ist. Als ich seine Mutter bildhaft ausgeschmückt den Bordstein vorm Bahnhof lecken lasse, fange ich eine ein. Der Schrecken verzieht sich langsam, während ich mich an der Raufaserwand hinuntergleiten lasse und auf meinen Hausschlüssel starre. Ohne einen Blick an Tacko zu verschwenden, werfe ich ihm meinen Schlüssel hin.
»Hier, das ist noch da.«
Ein schwacher Hauch von Reue zieht in ihm auf. »Verdammte Kacke, Henry … dann poste halt das nächste Mal wie jeder … an alle … da gibt’s keine Netzschwankung.«
»Entschuldige, Herr Tackoschisski! Stimmt, wie konnte ich das übersehen. Ich bin ja selbst schuld.«
Den Startknopf hatte ich per Fernsteuerung also selbst aktiviert. Ich hatte einfach mal die Freiheit des Funknetzes genutzt, das für sich allein entschied, welche Kommunikationsfetzen übers Wasser gingen, und ursprünglich nur jene Botschaft, die auch ohne Umschweife auf einer belanglosen Postkarte hätte Platz finden können, nach Deutschland geplappert:
»Hi Tacko, der Flug war beschissen, hier alles super, endlich mal aus dem Mief raus. Deutschland im Februar ist was für Suizidjunkies. Ich werd mal richtig frei machen, keine Arbeit, also ich check auch keine Mails. Übrigens hab ich was Schönes für die Wohnung gefunden.«
So banal, wie das alles klingt, aber das war alles, was ich ihm morsen wollte. Dem, der mich vorbehaltlich nimmt, wie ich bin, habe ich genau das zu verdanken und werfe es ihm sogleich vor. Und – wie überraschend – das bringt mich kein Stück weiter.
»Tacko …? Ach Mann, Tacko!«
Gut, fassen wir also zusammen. Die Bude ist ausgeräumt, der Nachbar hat Polen ausgemacht und das Schloss wurde von selbigem ausgiebig befummelt. Wenigstens etwas, das hier befriedigt ist. Mein Dispo hat nicht nur Kammerflimmern. Nein, der ist schon längst im Walhalla.
»Also, was tun und nicht klauen?«, sinniere ich laut in die Kühle des Wohnzimmers.
Und dann? Es gibt Momente, da schaut man sich an und weiß eine Hundertstel später, was zu tun ist. Wir wissen und wir tun. Mein Vater wäre in diesem Augenblick ohne Zweifel stolz auf mich, einfach nur, weil die Entscheidung steht.
GROUND ZERO
»Prost, du alter Sack. Auf dich!«, sage ich adrenalinbesoffen zu Tacko.
»Auf jeden!«, grölt er – sanft wie ein großer Bruder, den ich niemals hatte – zurück.
Mit festem Griff hebt sich das Bier und fließt erwartungsvoll erfrischend in meinen Rachen. Nein, das Hausbräu hier im Spikes kann erleichternder nicht schmecken. Kaum zu glauben, aber es ist gerade einmal schlappe zwei Stunden her, dass Meier nach erfolgreicher Wiederinstallation des Türschlosses mit ’nem Hunni im Blaumann die Abreise angetreten hat. Gemäß unseres Plans wurde die Tür anschließend von Tacko CSI-gesichert, fachmännisch eingetreten, die Polizei verständigt und natürlich die Versicherung informiert. Die Dame am anderen Ende der Leitung war sichtlich bemüht, mich in der von mir – wie ich meine – vortrefflich vorgegaukelten Verzweiflung zu trösten. Drei Jahre Schultheater waren eben doch nicht umsonst. Danke, Frau Mehlich! Zugegeben, dass ich auch die abgelaufene Bio-Milch mit satten drei Komma acht Prozent Fett auf die Verlustliste setzen wollte, war übertrieben. Aber hey, gestohlen ist gestohlen und lässt sich wieder holen. Da wird auch nicht geschludert. Sagen wir es so, ich war die ganze Zeit neben der Spur und Zuschauer eines merkwürdigen Films, an dessen Ende hoffentlich die Zusage leuchtet, dass der entstandene Schaden irgendwie übernommen wird.
»Alter! Keen Kopp! Die Brüder zahlen immer! Immer!«
Woher Tacko seine Zuversicht nimmt, ist mir schleierhaft. Und so wandert mein schweigender Blick vom sich allmählich leerenden Bierhumpen über Tackos überwältigendes Grinsen nach oben und ich spüre, wie der Alkohol den Stress aus dem Nacken spült.
Die Partyleuchten an der Decke haben sicher schon bessere Zeiten gesehen. Alles wirkt auch jetzt noch wie kurz nach ’89 renoviert und dann gründlich durch Zigarettenrauch konserviert. Die Scheiben waren schon immer mit schwarzer Folie abgedunkelt. Und das ist auch gut so! Wer wollte schon rausgucken? Immerhin, hier drin ging’s ab. Jeden Freitag gab’s hier NDW auf die Ohren und die Wodka-Cola, die nur palettenweise verhökert wurde, für neunundneunzig Cent in die Backen. So auch hier und jetzt. Mit Blick auf eine Truppe sich motiviert abfüllender Kerle in Tarnfleckmontur gebe ich mir gerade die erbärmliche Bierpfütze aus dem mittlerweile widerwärtig ausgelebten Glas. Die Hütte ist voll. Kein Wunder! Das Konzept »Billiger Alkohol plus Achtziger-Jahre-Mucke« geht für die Masse der Unter-Dreißigjährigen auf. Ü30 hat hier Seltenheitswert, was uns garantiert, dass uns alle für die Typen vom Ordnungsamt halten. Neues Bier kriegt man dadurch aber auch nicht schneller.
Ich habe Mandy schon gewinkt. Und doch steht mein Glas, immer noch leer, so trostlos vor mir, mit einer klebrigen Erinnerung daran, dass mal etwas Feierabendsaft in ihm gewesen ist. Die aus den einsam heruntergelaufenen Gerstentropfen gesammelte Restsuppe schlummert deprimiert am Glasboden und wartet auf einen Ortswechsel. So wie ich, obgleich ich nicht gierig geschluckt oder in der Kneipenspüle versenkt werden wollte. Als Tacko was von Steckdose faselt und rumpelnd unter dem Tisch verschwindet, frage ich mich, wie man nur so schwanzgesteuert sein kann. Dass er wirklich nur einen Stromanschluss sucht, um sein Netbook anzuschließen, muss ich nach den mir im Vertrauen erzählten Stories kategorisch ausschließen. Plötzlich taucht Mandy, die selbst nach einer Zwanzig-Stunden-Schicht rotzig heiß wirkt, vor mir auf, schiebt die Gläser auf dem Tablett zurecht und fragt lässig: »Noch mal das Gleiche, Jungs?«
»Ja, Schnucki!«, ertönt Tackos Stimme hinter dem flackernden Spielautomaten, der mit rotierenden Nummernscheiben und elektronisch verzerrtem Gedudel was von neuer Chance klimpert.
»Japp!«, nicke auch ich, mich selbst belügend.
Nein, ich will nicht das Gleiche, ich will was anderes. In meinem Schädel drehen sich die Gedankenfetzen und verschwimmen wie die Ziffern vor mir.
»Mandy!«, rufe ich ihrer noch sichtbaren Kellnerschürze hinterher. »Nein, nicht wie immer, ich nehm … ich nehm …«
Meine Fragezeichen tanzen kurz in der pommesschwangeren Kneipenaura, um nun klirrend am Boden zu zerschellen. Sie dreht sich wieder weg und schlägt dem neben ihr aufgetauchten Suffi eiskalt auf die Grabschgriffel, die ihr gewünschtes Ziel nicht mehr erreichen. Ich hocke gänzlich neben mir. Ich muss hier raus, die ganze Nummer macht einfach keinen Sinn mehr. Das ist doch krank. Warum harren wir hier aus … hier im Osten? Seit gefühlten hundert Jahren. Aber … was will ich denn eigentlich? Hab ich mich das überhaupt schon mal gefragt? Okay, mit Delia wär alles klar. Wir würden in ein paar Jahren das Grundstück in Meckelfeld übernehmen, mit dem Haus, in dem Onkel Freddy seit dem Tod meiner Tante allein sein Dasein fristet. Leider. Leben kann man das echt nicht mehr nennen. Meckelfeld! Das war der Plan. Gut, es hat ewig gedauert, bis ich Delia auch nur ein halbes Ja zum Umzug entlocken konnte. Wenn’s nach ihrer Familie ginge, müsste sie gar nichts tun. Toll, wenn der greise Herr Papa ’ne Spedition führt und die Prinzessin einzig zu repräsentativen Zwecken mal das Firmengelände betreten soll. Aus irgendeinem Grund hat der seit ihrem vierzehnten Geburtstag, was auch immer da gelaufen ist, tierische Panik, dass sie mit einem seinem Trucker durchbrennen würde, was alles andere als dem Stand entspräche, zu dem er sich selbst zählt. Er, der aus dem Nichts kam und alles mit seiner Hände Arbeit und ein paar stadtbekannten Winkelzügen zu einem bis ins hinterste Sibirien agierende Kipperlädchen gebracht hatte. Nicht schwer zu glauben, dass ich fürs Erste, als ich auf seiner Bildfläche erschien, als beziehungstechnische Übergangslösung und bessere Notstandsbegleitung offiziell geduldet wurde. Wann immer es passte, rückte er meine familiäre Position in seinem erlesenen Dunstkreis ins einzig von korrekt interpretierte Licht. Jedes noch so belanglose Zusammentreffen mutierte binnen Sekunden zum alles entscheidenden Bewerbungsgespräch, jedes sonntägliche Kaffee-und-Kuchen-Stelldichein zum Tribunal, dem ein standesrechtliches Erschießungskommando folgen müsste. Was immer ich vorher zu sein glaubte, danach wusste ich, dass ich nichts wusste. Würde mich heute jemand aus dem Schlaf reißen, ich könnte Unmengen Bibelpsalme aus meinem Unterbewusstsein leiern, als gäb’s kein Morgen, und in jeder drittklassigen Popelprovinz den Stadtführer mitsamt allerlei übernützlichen Anekdoten mimen. Hauptsache, man hat immer was zu babbeln und zu präsentieren. Es hätte manches Mal nicht viel gefehlt und ich wäre an Übermissionierung verreckt. Er konnte alles, er kannte alles und hatte alles, sogar für jeden Anlass das passende Parteibuch. Matrosen, wechselt die Fahne, der Wind hat gedreht! Mit jedem Bissen, mit jedem Schluck Kaffee schrie es in mir nach Flucht. Auf ins gelobte Land ohne Vaterbrust. Ja, selbst diese stillende Rolle riss ihr werter Herr erzählerisch irgendwann an sich, auch wenn ich mir das nicht vorstellen mochte. Nein, nein, nein! Delia und ich, wir beide in Meckelfeld. Wir hätten eine Chance auf eine eigene Zukunft. Das ganz sichere Ding für uns im Hamburger Speckgürtel. Hätten, hätten, hätten! Tja! Aber warum eigentlich nur zu zweit? Nieder mit der Pärchenkacke! Mann, das ginge doch auch ohne sie. Dort könnte ich locker einen Job in Freddys Firma bekommen, obwohl ich mit Fliesenlegen – geschweige denn handwerklicher Schaffenskraft – nun wirklich noch nie etwas am Hut hatte. Und wenn schon! Dann steige ich bei der Windkraftbude von Dietmar, seinem Schwager, ein. Marketing. Sicher, Marketing geht immer. Das würde schon klappen. Wenn man will. Und ich würde wollen, diesem ausgelebten Kaff hier endlich den Rücken kehren und zusehen, dass mich nicht alle für einen Versager hielten, bloß weil ich den Absprung nicht geschafft und einfach nicht genug Mut gehabt hätte, die vergilbten Sicherungen rauszudrehen. Als stünde das Ende meiner Welt unmittelbar bevor, beschließe ich, eine Mayday-SMS an Dietmar abzusetzen, dessen Nummer sicherlich noch irgendwo im hintersten Winkel meines Handys herumvegetiert. Gedacht, getan! Da sag noch einer, ich sei nicht spontan. Entscheidungen. Genau! Ich hätte das Bier bestellen sollen – das Gleiche wie immer. Mann, ist mir schwindelig.
»Sag mal, ist die Luft hier immer so dünn?«, brülle ich zu meinem Kumpel, der gerade den femininen Neuzugang mustert und mich bestens ignoriert.
Was bitte fesselt ihn eigentlich an seine poppend abgegraste Heimat? Er müsste doch wirklich schon jede dunkle Ecke gesichtet haben. Allein bei dem Bild will ich weg aus meinem Kopf. Mann, wir waren uns doch so einig. Wann immer wir nachts zur Tanke liefen, weil uns der Wodka ausgegangen war, waren wir wie zwei einsame Wölfe auf der Suche nach Menschenfleisch. Nicht zum Fressen, versteht sich. Wir fühlten uns so häufig – unausgesprochen – einfach allein in dieser Provinzklitsche, von deren höchstem Punkt, einer längst geschlossenen Müllkippe, jeder Tourist eindrucksvoll die zerrissene Kultur nachwendezeitlicher Stadtplanung erblicken kann. Die leergewohnten Ratio-Bauten, zwischen denen wir als Kinder bis weit nach Sonnenuntergang unbesorgt herumtoben konnten, weichen Grünflächen, die niemand pflegen wird. Wer auch immer noch etwas auf sich hält, flüchtet halbherzig, an den Rand der Stadt oder pfercht sich in das hippe Wohnviertel im Norden. Wenn es die oberste Bürgermeisterpflicht ist, ein neues Tankstellenklo einzuweihen, ansonsten dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr den frisch gebackenen Hundertjährigen den selbst gezauberten Streuselkuchen wegzufressen und die Sahne vom Törtchen zu lutschen, dann ist dieses Glück nicht von Dauer. Noch aber brennen die Lichter der Stadt, auch wenn es vielleicht selbst gelegte Brände sind, aus Angst, im Dunkel der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Lichter, Leuchten, Blinken. Blink, Blink, Blink.
Der Automat verspricht bei bestem Diodentheater schon wieder die große Chance. Mit einem kurzen Knall gehen schlagartig die Lichter aus. Bumms – aus – Nikolaus! Das Gedudel versiegt und wir hören nur noch die sich selbst feiernde Menge.
»Na bitte, geht doch!«, stellt Tacko johlend fest.
Der soeben verstummte Kasten hat ausgespielt. Eigentlich logisch, immerhin ist mein bester Kumpel unter diesen Voraussetzungen klar im Vorteil und hat seine Fähigkeiten, auch in der dunkelsten Ecke erfolgreich herumzufingern, schamlos eingesetzt. Tacko beendet seinen Tauchgang und hockt sich neben mich, wobei er der Maschine einen Blick völliger Missbilligung zuwirft.
»Ich konnte die Dinger noch nie leiden. Wenn ich was brauche, wo ich Geld reinstecke und nichts rauskriege, kann ich auch heiraten, was!«, brüllt er mir schallend ins Ohr.
Intakte Trommelfelle werden eben echt überschätzt! Da ich mir leider nicht sicher bin, ob die meinigen gerade einen ungünstig irreparablen Dauerschaden genommen haben, versuche ich mit aller Kraft das Lüftungssurren seines Computers einzufangen. Natürlich muss Mandy genau jetzt was frisch Gezapftes auf der Tischplatte abstellen. Rumsen würde ich noch mitkriegen, aber mir geht’s um die feinen Töne.
Mit ordentlichem Schwung haut sich Tacko das Bier rein. »Echt lecker!«
Unnötig zu fragen, wen er meint und wovon seine gierigen Augen sprechen.
»Mann, Henry! Weißte …«, will er jetzt galant einleiten, dass die gerade entflohene Bar-Maus, eine ganz besondere Nummer im Bett und vielleicht auch in seinem vor lauter One-Night-Stand ausgewaschenen Herzen haben könnte. Aber das wäre nicht drin, weil er sich ja nicht aufheben könne, weil ihn alle verdienen, und dass er sie fast alle schon hatte, die Brünetten, die Blondchens, die mit oder ohne Hängebrust, Selbstwertgefühl, Vaterkomplex und Wohlfahrts-Tattoo, ja auch mal einen Dreier mit zwei verwarzten Zwergen, gefesselt, mit Ketten und Wachs … Bondage! Hauptsache, immer was mit Bondage. Und jetzt, da mir diese ganzen Protzmärchen der Gebrüder Knick & Knack aus meinen zum Teil tauben Ohrmuscheln rausquellen, fällt mir ein, was ich ganz unbedingt will.
»Tacko, ich brauch einen Freund, was ganz Normales. Einen, der einfach mal stino bleibt, der genauso langweilig sein kann wie ich.«
Mit versöhnlich einlullendem Blick drückt er seinen Kopf an mich heran. »Aber Henry! Okay, alles, was du willst! Kein Thema. Und auch wenn du das nicht glauben kannst, wenn du frühmorgens an dir runterschaust, aber auch du … bist ein Mann.«