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Wer darauf hoffte, es käme noch besser, noch lauter, noch maschinenhafter, der hatte sich getäuscht. Ich erinnere mich an kaum einen Panzer, eine Flak oder eine Pak. Wahrscheinlich war kein Kriegsgerät mehr in Karlsruhe.
Wie gesagt, es war ein schöner Sommertag, wie es den in Karlsruhe häufiger geben mag als in anderen deutschen Städten, eben wärmer und sonniger. In einem der Kasernenhöfe bildete sich ein großer Kreis von Zuschauern auf Empfehlung des Lautsprechers, aus dem zuvor diese unheimliche Musik erschallt war. Plötzlich, weiß Gott woher, kamen zwei Radfahrer, diesmal nicht in Grau. Nein, ganz bunt angezogen mit hässlichen, furchterregenden Gesichtern, jedes mit unwahrscheinlich dickem rotem Mund, weiß umrandet, von einer Knollennase überragt, über der riesige Augen leuchteten und ein runzliger Glatzkopf thronte. Solche Menschen hatte ich noch nie gesehen. Und wie sie angezogen waren: bunter Ringelpullover und grelle Hosen. Wer kleidet sich schon so? Eines musste man ihnen allerdings lassen: Sie konnten unwahrscheinlich schnell und geschickt Rad fahren. Kreischend jagten sie hintereinander her. Sie schrien, beschimpften sich, lachten wieder. Je wilder sie es trieben, um so mehr freute sich das Publikum. Mir war das alles fremd. Ich hatte eher Angst. Die Zuschauer fanden die bunten Kerle lustig und grölten. Ich wollte kein dummes Kind sein, das die Scherze der Großen nicht versteht. Ich versuchte auch zu lachen. Ob meine Mutter gelacht hat? Ich glaube nicht. Sie lachte schon lange nicht mehr. Sie hatte eisern ihre Pflicht getan, indem sie meinem Bruder und mir das geboten hatte, was eine Stadt im Kriege zu bieten hat, eben so einen Tag der Wehrmacht, ein Vergnügen, das nichts kostete.
Wehrmacht? Hatte diese Wehrmacht ihr nicht schon zu viel geboten? Ihr den Mann aus dem jungen Haus genommen und in ein unwirtliches Land geschickt? Dort sollte er uns vor einem gewissen Iwan schützen, wer der auch immer sein mag. Nein, der Vater kam ebenso seiner Pflicht nach, wie sie es jetzt tat. Wir hatten uns daran gewöhnt, in einem Land zu leben ohne Väter. Die hatte der Krieg in Viehwaggons an die Front gefahren. Wo die auch immer sein mag. Auf jeden Fall, die Väter waren weg. Ein paar Alte waren noch da und ein paar Braune, die waren unabkömmlich. Und eben noch diese beiden Clowns, welche unentwegt schrien und Dinge machten, deren Sinn ich nicht verstand. Ein Clown verlor bei der unentwegten Raserei das Vorderrad seines Gefährtes. Alle schrien auf. Den Clown schien das wenig zu stören. Er fuhr mit einem Rad weiter. Alle lachten. Mich dauerte er. Mein Bruder reagierte auch nicht. Zu lachen hatten anscheinend nur die Großen – außer unserer Mutter.
An den Fahrrädern der Clowns ging noch vieles kaputt. Ich bedauerte die zwei immer mehr. Die Großen lachten weiter. Warum eigentlich? Weil die Clowns Pech hatten? Weil denen alles kaputtging? Wo doch sowieso so viel kaputtging. Wie viele Häuser waren schon in Schutt und Asche gegangen! Dabei haben die Großen nicht gelacht. Geheult und geschrien haben sie. Ich habe nicht geweint. Ich habe zugesehen, als die Hausbewohner in der Eisenlohrstraße vor einem rauchenden Trümmerhaufen standen, am helllichten Tag, und heulten. Ich habe nur geguckt und mich gewundert, wie das Dach des Hauses fast unbeschädigt auf einem Schuttberg lag, dem Rest von drei Stockwerken, und es hatte nach verbrannten Lumpen und Leuchtgas gerochen.
Irgendwann gab es dann über die Clowns nichts mehr zu lachen. Die Leute klatschten und verliefen sich.
Da gab es noch eine Gulaschkanone, aus der Erbsensuppe geschöpft wurde. So schmeckt der Krieg.
Dann knallte es noch. Zum Militär gehört das Schießen. Da war ein Stand aufgebaut, von einer Absperrung aus Holzbalken umgeben. Schießen ist gefährlich! An einem Kopfende des Schießstandes standen zwei Soldaten mit einem Gewehr und allerhand Volk um sie herum. Jeder, der wollte, durfte schießen. Die Soldaten öffneten das Schloss am Gewehr, gaben eine Kugel hinein und der Schütze lehnte sich auf einen Balken, zielte, und schon krachte es. Das Ziel war vorgegeben. Am anderen Ende des Schießstandes war ein fetter Blechmann aufgebaut, auf den galt es zu schießen. Rums, da fiel schon wieder ein Schuss. Edwin und ich schreckten nur ein wenig zusammen. Von den vielen Luftangriffen, die wir überlebt hatten, waren wir gestählt. Der fette Mann, auf den es zu schießen galt, sah gemein aus. Er rauchte eine dicke Zigarre, sein Bauch quoll aus Hose und Weste. Wer mochte wohl dieser Blechmensch sein, der schon einige Einschusslöcher hatte?
Das ist der Churchill, wurde uns erklärt. Das sei der böse Mann, der Deutschland den Krieg erklärt habe und jetzt die vielen Bomben auf unsere Stadt abwerfen ließe. Wer wollte hier zurückstehen und ihm nicht eine aufs Fell brennen?
Da waren etliche, die es versuchten. Es krachte ganz schön. Neue Löcher hat der Kerl aber keine bekommen. Das bemerkte ich schon. Mutter erklärte, dass hier nur mit Platzpatronen auf Churchill geschossen werde. Alles andere sei zu gefährlich. Mit richtigen Patronen schieße man an der Front. Offensichtlich war der Churchill dort nicht, schloss ich in meinem kindlichen Gemüt. Sonst hätte man ihn längst erschossen, und er könnte keine Bomben mehr auf uns werfen, und die Leute in der Eisenlohrstraße und der Nuber hätten ihren Frieden gehabt.
Ich habe eine natürliche Begabung, mich vorzudrängen, was mir beim Schlangestehen vor den Geschäften zugute kam. So stand ich bald neben dem Soldaten, der die Schießinstruktionen erteilte und einem die Flinte in die Hand drückte. Es galt, den Kolben gegen die Schulter zu drücken, den Kopf etwas über den Kolben zu beugen und sich mit den Ellbogen abzustützen. Für mich war der Schießprügel zu groß, zu schwer. Außerdem, beim Abfeuern gab es einen ganz schönen Schlag gegen die Schulter. Das hatte ich beobachtet. Ich hätte es doch besser nicht versuchen sollen. Mich jetzt aber zu drücken, wäre ein schlechtes Beispiel für meinen kleinen Bruder gewesen. Schließlich war kein Vater mehr da, weshalb ich der Tapfere sein musste. Auch Mutter wünschte und brauchte einen braven Jungen. Feig durfte ich nicht sein! Und schon gar nicht heute, wo es galt, dem Churchill zu zeigen, wer wir waren.
Der Soldat ahnte meine Ängste. Dennoch hatte er schnell für mich die Knarre geladen und mir diese in die Hand gedrückt. Geladen schien sie mir noch schwerer. Hätte ich nicht den Lauf auf den Balken gelegt, ich wäre samt der Flinte umgefallen. „So triffst Du den Churchill nicht“, meinte der Soldat und half mir, das Gewehr auszurichten. So wurde ich ein richtiger, kleiner Soldat. Jetzt galt es, den Hahn abzuziehen. Der Soldat lehnte sich über mich und unterwies mich auch hierzu. Gleich würde es fürchterlich krachen und ich bekäme einen heftigen Schlag gegen meine rechte Schulter. Ich zauderte. In solchen Momenten beginnen die Gedanken zu rasen. Immerhin sollte ich auf einen Menschen schießen, auch wenn der nur aus Blech war und der böse Churchill ohnehin.
Ich habe nicht geschossen. Ich war ein Feigling, und wir haben den Krieg verloren.
Still schweigt Kummer und Harm
Nach vielen Monaten der Hoffnung und des Leides war unser dreiunddreißigjähriger Vater im Heimatlazarett an den Folgen einer russischen Maschinengewehrgarbe gestorben. Unsere allsonntäglichen Fahrten mit der Eisenbahn in die Klinik nach Wiesloch bei Heidelberg waren zu Ende. Der Sommer und der Herbst vergingen schweigsam. Der große Weltatlas war weggeräumt worden, der bislang aufgeschlagen auf Vaters Schreibtisch lag. Es war die Karte von Russland zu sehen gewesen. Mit buntköpfigen Nadeln waren die Aufenthaltsorte unseres Vaters nach jedem Feldpostbrief von Mutter gekennzeichnet worden.
Es war kalt und klamm in unserer Wohnung geworden. Drei Zimmer waren beschlagnahmt, Ausgebombte waren eingewiesen, das Möbel zusammengestellt oder in die Mansarde gebracht worden. Die Einrichtung unseres Esszimmers hatte Mutter schweren Herzens verkauft. Die Hoffnung auf bessere Zeiten waren begraben.
Der Spätherbst ging zu Ende.
Jeden Abend brannte jetzt über dem Wohnzimmertisch eine einsame Glühbirne unter einem großen Schirm schwach vor sich hin. Die Kohlen reichten nur noch, einen einzigen Ofen zu beheizen. Man muss es erlebt haben, diese Mischung von Frieren und glühenden Ohren in der Nähe des Ofens, um nachvollziehen zu können, was ich beschreiben möchte. Noch war es nicht so kalt geworden, dass im Schlafzimmer an den Fenstern die Eisblumen wuchsen. Wenn aber in der Küche der Kohlenherd entzündet worden war, lief das Wasser in dicken Tropfen an den mit Ölfarbe gestrichenen Außenwänden herab. So kam der letzte Advent im großen Krieg.
Mutter in Schwarz. Viele junge Frauen in unserer Straße trugen jetzt Schwarz. Mutter hatte oft eine schreckliche Ahnung vom Tod ihres Mannes gehabt. Als ihm das Eiserne Kreuz verliehen worden war, meinte sie, zu ihrer Schwiegermutter gewandt, wenn daraus nur kein hölzernes wird. Jetzt war ein hölzernes daraus geworden. Was nutzten uns noch alle seine Orden und Ehrenzeichen.
Advent? Die Hoffnung auf das Göttliche und dessen Verwirklichung und Vollendung durch den Menschen, wo doch fast täglich der Feuerregen auf die verbliebenen Kinder und Mütter herabfiel. Mutter hielt durch mit ihren letzten Kräften. Ein Stück Hoffnung sollte für die Kinder bleiben!
Trotz all des Augenscheinlichen muss es noch mehr Menschen gegeben haben, die in ihrer Tiefe einen Funken dieser Hoffnung hatten bewahren können. Auf dem Markt am Gutenbergplatz gab es noch Adventskränze zu kaufen. Kleine Kränze, die zu Hause geziert wurden mit einem roten Band, aufgebügelt, vom letzten Jahr, vier roten Kerzen und einigen kleinen Fliegenpilzen aus Pappmaschée.
Und es wurde das erste Licht am Adventskranz angezündet, der nun in der Mitte des Esstisches lag. Edwin und ich reichten mit den Armen gerade auf den Tisch. Mutter saß auf der anderen Seite. Früher hatte Mutter Zither gespielt. Wir haben sie nie mehr gehört. Stattdessen wurde gesungen. Mutter zunächst mit fester Stimme. Edwin und ich etwas hinterher. Wir kannten den Text nur bruchstückhaft. Adventslieder singt man nicht das ganze Jahr. Die schwermütige Melodie hingegen habe ich nie vergessen. Sie löst heute noch bei mir die Gefühle von damals aus. Der Gesang der Mutter vom leise rieselnden Schnee und vom weihnachtlich glänzenden Wald wurde schnell schwächer, bis er endgültig in ihren Tränen unterging. Ob das Christkind so bald kommen wollte?
Es war kein Christkind in Aussicht. Die Ohren waren heiß, die Füße kalt, Mutter weinte und versuchte im gleichen Moment weiterzusingen. Ihre Augen seien entzündet, und das schmerze sie so sehr. Sie müsse erst Augentropfen nehmen. Diese brannten in den Augen, und Mutter musste der schmerzhaften Tropfen wegen weinen. Ich versuchte, sie zu trösten. Es war ein hilfloses Unterfangen. Ich kam mir sehr unfähig vor.
Irgendwann kam dann die zweite Strophe, wo es in den Herzen warm werden soll und Kummer und Harm still schweigen. Was Harm ist, wusste ich nicht. Dass die Sorge des Lebens verhallen soll, wenn das Christkind kommt, galt es da zu singen. Mutter versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
In der dritten Strophe erwacht dann der Engel Chor, der lieblich schallt. Bald ist heilige Nacht. Freuet euch, Christkind kommt bald. Mutter rief nach dem toten Vater. Edwin und ich schwiegen. Mutter nahm wieder Augentropfen. Die bissen in ihre Augen.
Und Mutter hatte etwas vorbereitet. Sie holte einen Pappteller aus der Anrichte. Einen bunten Teller, bedruckt mit Bildern von Tannenzweigen und Christbaumkugeln. In diesem lagen ein paar kleine, rote Äpfel und ein Lebkuchen. Das war ein rechteckiges Stück, so lange wie ein neuer Bleistift, braun und mit einem Bild vom heiligen Nikolaus beklebt. Das Bild des Heiligen wurde vorsichtig von dem braunen Gebäck abgelöst und diente so noch lange als Erinnerung. Mutter brach den Lebkuchen in drei gleich große Stücke, und wir konnten uns wieder freuen. Das war kein Kuchen aus Mandeln und Zitronat. Er war wohl aus dunklem Mehl und etwas Kunsthonig gebacken und gegen Brotmarken beim Bäcker Neff zu kaufen.
Jetzt wurde für die ewige Ruhe des Vaters gebetet, und es kehrte wieder Stille ein. Mutter nahm uns in die Arme und weinte nicht mehr. Wir waren ihre Hoffnung, ihre Christkinder.
Bombennächte
Ein Unrecht rechtfertigt nicht das andere. Ich werde meine Geschichten schreiben, wie ich sie als Kind erlebt habe und werde erzählen, wie nach meinem jungen Leben getrachtet und unsere Stadt zerstört wurde. Unvereinbare Gefühle von Geborgenheit, verströmt von der Hausgemeinschaft im Luftschutzkeller, und Todesangst leben in meiner Erinnerung fort. Nicht zuletzt aber auch eine heftige Neugierde, mit der ich verfolgte, wie sich die Hausbewohner auf die Bombardierungen vorbereiteten.
Zunächst gab es da wirklich viel Interessantes: Da war eine zähe, dunkelblaue Farbe, mit der Glühlampen angemalt wurden. Die sahen hinterher fast wie Ostereier aus und wurden im Treppenhaus und im Klo eingeschraubt. Man musste des Nachts schon einige Zeit im Treppenhaus stehen, um sich an diese Minimalbeleuchtung zu gewöhnen. Zusätzlich bekam das Treppenhaus noch Rollos aus schwarzem Papier. Die vier Frauen, die in unserem großen Stadthaus wohnten, waren mit allerhand ungewohnter Handwerksarbeit gemeinschaftlich beschäftigt.
Neben diesen Frauen lebten noch ungewöhnlich viele Männer in den vier Stockwerken der Bunsenstraße 3. Da gab es im zweiten Stock – die Karlsruher kennen kein Erdgeschoss, das ist dort schon der erste Stock – den Herrn Schröder, der hatte einen Buckel und kam für solche Arbeiten nicht in Frage. Darüber lebte der Gymnasialprofessor Bresch, der schon seines Berufes wegen keinen Nagel in die Wand schlagen konnte. Der Einzige, der dies hätte tun können, war Herr Metz aus dem vierten Stock. Den hat man aber selten gesehen. Der war für Starkstrom zuständig und wurde oft nach Luftangriffen dienstverpflichtet.
Es blieb wieder alles an den Frauen hängen. Die stellten halsbrecherisch Tische und Stühle übereinander, um an die hohen Fensterstürze dieses Bürgerhauses aus der Jahrhundertwende zu kommen. So bekamen nach und nach alle Fenster ihre schwarzen Rollos. An Schnüren, die durch Ringe geführt wurden, konnte man diese Papierbahnen auf- und abziehen. Das machte Spaß!
Zwischen die Alleebäume in der Kriegsstraße wurden Sandhaufen gekippt. Wir erhielten große Papiertüten. Zusammen mit unserer Kohlenschaufel, die sonst im Brikettkasten lag, zogen wir zu diesen Haufen und füllten die Tüten mit Sand. Sie waren so schwer, dass wir Kinder sie nicht heben konnten. Zunächst standen diese gefüllten Tüten im Hausflur, wo sie eigentlich nicht hingehörten. Sie sollten in erster Linie auf den Speicher gebracht werden, um einschlagende Brandbomben mit diesem Sand löschen zu können. Zuvor waren alle hölzernen Trennwände auf dem Speicher entfernt worden. Nichts durfte hier mehr gelagert werden. In die Mansarden, in denen in besseren Zeiten die Dienstmädchen hausten, wurde all das Gerümpel gebracht. Etwas Sand von dieser Aktion blieb dann dennoch übrig: für unseren Sandkasten. Mutter reagierte mit einem kleinen schlechten Gewissen.
Irgendwo gab es für mich einen geheimnisvollen Menschen im Hintergrund, der uns Farbe, Papierrollos und Tüten schenkte, aber auch die Frauen auf Trab hielt. Vielleicht hieß er Milch und war von Beruf Generalluftzeugmeister, was immer auch das sein möge. Diese meine Weisheit hatte ich von einem Plakat, das noch lange nach dem Krieg an der mit großen Hebeln bewehrten Tür zu unserem Luftschutzraum hing. Mit Mühe hatte ich Teile dieses Anschlages im Keller entziffert, der eben von diesem Herrn Milch unterschrieben war. Es unterrichtete uns, was man bei Luftschutzalarm alles berücksichtigen müsse und dass man den Anweisungen des Blockwarts unbedingt Folge zu leisten habe. Wer dieser Blockwart war, habe ich nie herausbekommen. Es musste aber ein bedeutender Mann sein.
Auch die Tür, an der dieses Plakat hing, war uns auf geheimnisvolle Weise wohl wieder von diesem fixen Herrn Milch geschenkt worden. Familie Metz, die im vierten Stock wohnte, hatte einen großen Teil ihres Kellers hergeben müssen, der nun zum Luftschutzkeller ausgebaut wurde. Die Decke wurde mit großen Balken gesprießt. Auf meine neugierige Frage hin, weshalb hier Holzsäulen aufgestellt werden, wurde mir erklärt, dass diese die Decke zu halten hätten, wenn Sprengbomben auf das Haus fielen und dieses einstürzte. Wie hoch der Trümmerhaufen eines vierstöckigen Hauses ist, das sollte ich bald erfahren. Das einzige Fenster des Raumes erhielt eine Eisenklappe. Sie war groß genug, um notfalls bäuchlings ins Freie kriechen zu können. Dass vor und über dem Fenster schon in wenigen Tagen meterdicker Schutt liegen könnte, daran durfte man nicht denken. Die Eingangstür zum Luftschutzkeller war durch eine primitive Gasschleuse aus Holz ersetzt worden. Zu mehr hatte es nicht gereicht.
Der Luftschutzraum sollte wohnlich eingerichtet werden, meinte Herr Milch auf seinem Plakat. Es wurden Doppelstockbetten aus leichtem, rohem Holz durch Pferdewagen angeliefert. Lastwagen sah man in Karlsruhe fast keine mehr. Pferde fressen kein Benzin. Diese Betten imponierten mir in mancher Hinsicht. Zunächst wie sie aufgebaut wurden. Das war einfach toll. Ganz ohne Nägel waren sie mit dicken Holzstiften zusammengesteckt. Das ging schneller und eindrucksvoller, als ich hätte Ähnliches mit meinem Märklin-Metallbaukasten zusammenschrauben können. Hinzu kam noch, dass ich noch nie Betten gesehen hatte, in denen man übereinander hat schlafen können. Ich fand das richtig gemütlich und kuschelig. Auf den Boden des Kellers wurden Holzröste gelegt. In der Ecke hatten Eimer mit frischem Wasser zu stehen und für jeden ein Tuch.
Ich freute mich auf den Luftschutzkeller. Da konnte die ganze Hausgemeinschaft beieinander sitzen und gemütlich plaudern. Abends, wenn es zu Bett ging, bekamen wir über die Schlafanzüge Trainingsanzüge gezogen. Man brauchte sich im Bett nicht mehr zudecken. Das war praktisch. Ein Koffer mit dem Wichtigsten stand im Gang bereit. Und da ich ohnehin sehr ungern ins Bett ging, wartete ich nur darauf, dass bald Voralarm käme, alle aufstehen müssten und in den Keller gehen könnten. Wenn ich ehrlich sein will, ich habe mich auf das Heulen der Sirenen gefreut. Dann musste ich nicht mehr im langweiligen Bett liegen. Jetzt war was los: Ein gellender Schrei durchs Treppenhaus: Alarm! Der konnte nur von Frau Schröder stammen. Wäre mit dem Schrei noch so etwas wie „Himmel hilf“ zu hören gewesen, hätte er aus dem dritten Stock von Frau Bresch gestammt.
Im Unterschied zu mir schlief mein Bruder fest. Der musste erst geweckt werden. Das war zuweilen schwierig. Ich trollte mich ins Treppenhaus, das auf die schon bekannte Weise beleuchtet war. Alles andere hatte weitgehend im Dunkeln stattzufinden. Darauf achtete ein geheimnisvoller Mann, der durch die Straßen eilte und, wie ich meinte, ein sehr unanständiges Wort zur Nachbarin hinaufbrüllte, weil diese die Toilette noch vor dem Angriff benutzte und nicht genügend verdunkelt hatte.
Streicht dieser geheimnisvolle Herr Milch bei Fliegeralarm durch die Bunsenstraße und brüllt unanständige Worte in die Treppenhäuser? Der fixe Herr mit dem unvergesslichen Namen scheint überall zu sein. Er mag sich um uns sorgen, aber bitte ohne Schweinekram zu rufen, der gehört nicht in unsere Straße!
Eine letzte Kontrolle: alle Lichter im Haus aus. Das Gas im Keller abgestellt. Alle Hausinsassen anwesend. Die Luftschutztür konnte geschlossen werden. Mein schlaftrunkener Bruder sank in die untere Etage des Stockbettes. Die Erwachsenen hockten meist im Kreise herum, und mich in der oberen Etage des Bettes konnte man schlecht zwingen, die Augen zu schließen. Merkwürdigerweise gab es im Luftschutzkeller viel zu lachen. Auch wenn ich dieses Lachen heute anders deute, damals fand ich es lustig im Keller. Geärgert hat mich eigentlich nur, dass ich die Witze des Professor Bresch nicht verstand. Immer wieder haben die Frauen aufgelacht, und ich wusste nicht, warum und schon gar nicht, weshalb gerade an dieser Stelle zu lachen war. Manchmal habe ich mitgelacht, um erwachsen zu erscheinen.
Der Leser wird fragen: „Passierte sonst gar nichts, außer dass der Professor die Damen unterhielt?“ Zunächst geschah meist wirklich nichts. Die feindlichen Verbände hatten sich eine andere Stadt vorgenommen, und für Karlsruhe wurde Entwarnung gegeben.
Mein fixer Herr Milch wirkte im Hintergrund weiter. In der Bunsenstraße stehen meistens zwei Häuser aneinandergebaut. Dann kommen jeweils die freien Seiten mit den Hauseingängen und dem Zugang zum Garten. So hatten auch wir ein Nachbarhaus, an das sich das unsere lehnte. Die beiden Häuser standen auf Grundmauern, die einen Meter dick waren. Durch diese Grundmauern wurde ein niedriger Fluchtgang geschlagen, für den Fall, dass wir verschüttet werden sollten. Dieser Gang war auf beiden Seiten mit hochkant gestellten Ziegeln zugemauert worden. Pickel hatte man für den Notfall daneben zu stellen.
Herr Milch erkannte sehr wohl die bösen Absichten des Feindes. Die Kellerluken der Nachbarhäuser, die nicht wie bei uns unter einem großen Balkon verborgen waren, erhielten schwere Betonhäuschen angebaut oder zumindest Betonklötze vorgesetzt. Bei uns hingegen wurde der ganze Balkon abgesprießt und Sand gegen flüssigen Phosphor vorgeschüttet. Dass diese Schutzmaßnahmen oft nichts taugten, ahnte ich. Wen der Phosphor nicht verbrannte, dem nahm er die Atemluft. Auch noch nach dem Krieg wurden die schlimmsten Geschichten erzählt, auf welch verschiedene Weise die Menschen im Keller elend oft nach stundenlangem Todeskampf ihr Ende fanden. Eine besondere Furcht hatten wir Kinder vor diesem Phosphor entwickelt. Es hieß, dass speziell die Engländer Phosphorkanister abwerfen würden. Dieser Phosphor entzünde sich von alleine. Von ihm erst einmal bespritzt, nutze es nichts, brennend ins Wasser zu springen und unterzutauchen. Beim Auftauchen entzünde er sich wieder. In unserer Vorstellung war dies die grausamste Weise, uns zu töten.
Herr Milch hatte da wohl noch differenziertere Vorstellungen, in welcher Weise man nach unserem Leben trachten könnte. So wurden auch von uns Kindern Aktivitäten zum Schutz unseres Lebens erwartet. Die harmloseste Übung war, die im Keller bereitgelegten Tücher anzufeuchten und umzubinden. Das sollte nach Sprengstoffangriffen die Lungen vor Staub schützen. In schlimmer Erinnerung hingegen habe ich einen Aufruf, sich Gasmasken anpassen zu lassen. Mutter, mein Bruder und ich hatten uns, ich meine, an der Kaiserallee, in einem ehemaligen Gasthaus einzufinden. Dort wurden Gasmasken entsprechend der Kopfgröße ausgegeben. Gemeinsam mit meiner Mutter sollten wir deren Gebrauch zu Hause üben.
Ich glaube, Mutter hatte auch Angst vor dieser Übung, was sich auf uns übertrug. Man stelle sich die dicken, sehr stramm anliegenden Gummihäute vor, die unseren Kinderköpfen angepasst über den ganzen Schädel und bis weit unters Kinn gezogen wurden. Das pfetzte und drückte ganz ordentlich und zu allem Überfluss wurden diese hässlichen, grünen Häute noch über dem Hinterkopf festgeschnallt. Durch die kreisrunden Fensterchen konnte ich meinen Bruder erkennen und mir vorstellen, wie hässlich und gespenstig auch ich aussehen musste. Es drückte am ganzen Schädel. Das Schlimmste kam aber noch. Auf das runde Loch vor meinem Mund schraubte Mutter jetzt das große Filter, über das ich mit meinen Bullaugen gerade noch wegsehen konnte. Jetzt meinte ich, in meiner Gummimaske ersticken zu müssen. Verzweiflung kam auf. Durch meinen Ohrschutz hörte ich Mutter brüllen. Fest ziehen! Ich zog Luft ein, so gut ich konnte. Nur schwer drang sie durch das Filter. Ich rang nach Luft. Hastig stieß ich sie wieder aus. Die Luft entwich durch ein Ventil über meiner Nase. Das war eine Art gequetschter Gummischlauch, der einige Zentimeter lang war und nur unter Innendruck wabbernd die Atemluft ins Freie entließ. Beim Einatmen schloss sich diese Gumminase wieder, und das Filter war an der Reihe. Ich zog aus Leibeskräften die Atemluft abermals ein, was nur sehr mühsam gelang. Schlimm war es, meinen kleinen Bruder sehen zu müssen, der genau so angstvoll nach Luft rang. Meine Mutter stand daneben – ich erinnere mich noch gut – es war am Küchentisch – und hatte auch diese grässliche Gasmaske übergezogen. Wir sahen aus wie ekelhafte Tiere, die nach Luft schnappten. Meine Mutter brach die Übung bald ab, und wir mussten sie nicht wiederholen.
Ersparen wir uns auszumalen, es wäre Gas abgeworfen worden. Geworfen wurden wir in den Feuerofen. Vollalarm. Es war so weit. Die Witze von Herrn Bresch verstummten. Zunächst Totenstille. Dann das fürchterliche, dumpfe Brummen der Flugzeuge. So dicht war die Luftschutztür des Herrn Milch nun auch wieder nicht! Wir hörten das Krachen der Granaten der naheliegenden Flak und dann das fürchterliche Heulen der Bomben, die Detonation und spürten den Luftdruck. Ich lebe noch. Andere mögen zerfetzt sein und tot. Ich nicht! Die Lampe schwankte an der Decke. Wir mussten uns alle flach auf den Boden legen, und die Bomben heulten wieder. Serien von Explosionen, das Licht erlosch, und Frau Bresch begann, laut ein Vaterunser zu beten. Der Boden vibrierte bei jedem Einschlag heftig. Pause ... und vergib uns unsere Sünden ... Niemand betete laut mit.