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Ich wollte es nicht wahrhaben, dass es so ernst ist. Frau Bresch übertreibt! Wieder das Heulen. Wieder schwankender Boden. Alle schwiegen. Nur Frau Bresch betete laut. Und dann kam nichts, nur Dunkelheit. Ob die zum Schluss Gas werfen, um wirklich alle umzubringen, die nicht verbrannt oder zerrissen worden waren? Muss ich in der Dunkelheit meine grässliche Gasmaske aufziehen? Das Licht begann wieder zu flackern. Mutter weinte nicht, ich auch nicht. Mein Bruder schlief. Vielleicht war es so besser. Meine verdammte Neugier.
Nach einer unendlichen Stille wieder eine Detonation, ohne jedes Vorzeichen. Ein Blindgänger, dem es erst jetzt einfiel zu explodieren? Dann heulten wieder Bomben. Alle stürzten wieder zu Boden. Frau Bresch begann ein Gegrüßest-seiest-Du-Maria.
Irgendwann war Entwarnung geblasen worden. Ich war sehr müde. Wir gingen in die Wohnung zurück. Wir schliefen in jenen Tagen alle im großen Elternschlafzimmer. Ich in Vaters Bett, mein Bruder im Kinderbettchen. In das konnte er jetzt nicht gelegt werden. Aus dem Kamin war eine Rohrabdeckung durch den Luftdruck herausgeschleudert worden, zusammen mit einer Fontäne von Ruß, die sich über Edwins Bett ergossen hatte.
Es war im frühen Herbst des vierten Kriegsjahres gewesen, als dieser schwere Angriff der Royal Air Force besonders heftig die Weststadt getroffen hatte. In der Körnerstraße sei eine Luftmine detoniert, die so schwer wie ein ganzer Lastwagen gewesen sein soll. Die Engländer hätten eine neue Methode entwickelt: Den Bomberverbänden würden sie spezielle Suchflugzeuge voranschicken, die strahlendhelle Leuchtmarkierungen absetzten, wonach sich die Bombenschützen richten könnten. Die Erwachsenen schämten sich nicht, sie als Christbäume zu bezeichnen.
Zum Nikolaustag waren für Karlsruhe wieder Christbäume gesetzt worden. Unser Herr Milch hatte aber vorgesorgt. Neue Flaks seien aufgestellt worden, die so viele Engländer abgeschossen hätten, dass der Rest schnell das Weite gesucht habe.
Manchmal haben wir auch unsere drei Flakgeschütze am Tag nach solch einem Bombenangriff aufgesucht. Diese standen unweit vom Ende der Bunsenstraße in den Schrebergärten. Wir haben nachgeschaut, wie viele Flugzeuge sie in der vergangenen Nacht abgeschossen hatten. Das konnte man ganz einfach erkennen. Für jeden Abschuss malten die Soldaten einen weißen Ring um das Flakrohr, und wir zählten ... heute Nacht wieder drei Abschüsse. Herr Milch wird uns noch mehr Flaks geben müssen.
Weihnachten 1942 verlief ruhig. Vater war nicht nach Hause gekommen, hatte aber ein wunderschönes Geschenk, das unter unserem Christbaum seine Runden drehte: Eine Uhrwerkeisenbahn von Märklin. Eine Lokomotive mit Tender, Personen-, Gepäck- und Niederbordwagen, der einen Panzer geladen hatte, zog ihre Runden auf einer Gleisacht.
Ein fast ruhiges Kriegsjahr folgte, in dem fleißig gewerkelt wurde: Weiße Pfeile wiesen auf die Luftschutzräume hin, Wegweiser zu künftigen Verschütteten. Große Bassins für Löschwasser wurden gebaut und die Sandsäcke auf den Dachböden vermehrt.
Im sechsten Kriegsjahr folgten viele schwere Angriffe. Die Engländer hatten den Todesfächer entwickelt, den sie mehrfach über Karlsruhe ausbreiteten; den schlimmsten im Herbst, wo sie sinnigerweise den anzufliegenden Christbaum exakt über dem Engländerplatz postierten. Der Verband von vielen hundert Bombern hatte diesen fächerförmig zu kreuzen, um nach einer genau berechneten Zeitspanne seine Brandbomben auszuklinken. Trotz vieler hundert Toter hatte Karlsruhe wieder Glück. Den Engländern war es nicht gelungen, einen Feuersturm auszulösen, wie in der Nachbarstadt Pforzheim, wo in weniger als einer halben Stunde 20.000 Menschen verbrannten worden waren.
Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern. Eine Haltung hatte sich in mir gebildet: Dir kann nichts passieren. Ich habe noch jeden Angriff überlebt. Keine einzige Wunde war mir geschlagen worden. Und immer, wenn wir – zuweilen erst am frühen Morgen – vom Keller in die Wohnung gingen, stürzten wir von einem ins andere Zimmer, um nach Schäden durch Luftdruck zu suchen. Nur ein einziges Mal war eine Fensterscheibe geborsten.
Fensterglas gab es keines. Zum Ersatz wurde eine Art Fliegendraht, in Kunststoff getaucht, angeboten. Mutter nagelte diesen in den Rahmen. Besonders eindrucksvoll fand ich, dass eine gläserne Lampenschale auf das Bett gefallen und ganz geblieben war. Sonst war unsere Wohnung aber unversehrt geblieben.
Vielleicht verdanken wir das auch zu einem wesentlichen Teil Herrn Metz aus dem obersten Geschoss. Er besaß nicht die Fähigkeit wie unser Herr Professor, die Damen im Keller kurzweilig zu unterhalten, aber er hatte wohl sehr bald herausgefunden, dass die Alliierten die Wohngebiete nach einem bestimmten System bombardierten. Sie warfen zuerst die Brandbomben. Und wenn die Menschen aus ihren brennenden Häusern stürzten, kam ein zweiter Angriff mit Sprengbomben. Die Piloten brauchten sich nur noch nach den brennenden Häusern zu richten, um ihr Mordwerk zu vollenden. So stürmte Herr Metz nach der ersten Angriffswelle auf den Speicher und warf eigenhändig die brennenden Stabbomben aus dem Fenster auf die Straße. Ich habe verschiedentlich am darauffolgenden Tag die Brandstellen im Speicherboden bestaunt, die mit Sand abgedeckt waren. Noch ehe die zweite Angriffswelle mit Sprengbomben anrollte, saß Herr Metz wieder im Keller, und unser Haus war gerettet. Ich bekam ungeheure Lust, mit Herrn Metz auch einmal auf den Speicher zu rennen, ohne die geringste Chance hierfür zu bekommen. Kaum war Herr Metz durch die Luftschutztür verschwunden, wurde diese von innen wieder fest verschlossen. Nicht einmal sein Sohn Richard, der viel älter war als ich und so schöne Stukas malen konnte, durfte mit. Er konnte mir aber in vielen Farben die Beobachtungen seines Vaters schildern, wie die feindlichen Flugzeuge erst einmal Fallschirme abwürfen, an denen Leuchtkerzen hingen, die die ganze Stadt taghell ausleuchteten. Dann würden verschiedenfarbige Markierungen abgeworfen, die den Bombern zeigten, welches Gebiet heute bombardiert werden sollte. Auch er sprach von den merkwürdigen Christbäumen, die doch wahrhaftig keine sein konnten. Altklug erklärte mir Richard: Wer diese Zeichen lesen könne, wisse, welcher Stadtteil heute Nacht verbrannt würde. Mein fixer Herr Milch, der Generalluftzeugmeister, stand jetzt blöd da mit all seinen Verdunklungsaktionen.
In einer einzigen Nacht sind eine halbe Million Brandbomben auf Karlsruhe geworfen worden! Die Innenstadt war bald völlig zerstört. Die Trümmer habe ich gesehen. Gaffend stand ich bei einem riesigen Blindgänger. Sein Stahlmantel war geborsten und gelbes Pulver rann aus ihm heraus. An der Kreuzung Yorkstraße/Kaiserallee hatte eine Bombe ein solches Loch gerissen, dass man den großherzoglichen Abwasserkanal sehen konnte, der einem richtigen Eisenbahntunnel Konkurrenz hätte machen können.
Aus Angst vor Tagesangriffen durch die Amerikaner verließen wir aber kaum noch die Bunsenstraße. Am Morgen besuchte ich für zwei Stunden die Gutenbergschule, solange diese noch nicht zerstört war. Sonst wagten wir uns nur noch in die Kriegsstraße zum Klingele, um Milch zu holen. Brot gab es neben dem Gemüseladen Friedrich und dann noch an der Ecke zur Kriegsstraße bei Feinkost Siegrist, wobei wir den Zusatz Feinkost getrost vergessen können. Der stammte aus einer ganz anderen Zeit. Auch den Metzger Höpfinger gegenüber von Siegrist können wir getrost vergessen. Einkäufe dort waren Seltenheit.
Am schrecklichsten waren für uns Kinder diese Tagesangriffe. Während wir in der Nacht nach der Bombardierung ins Bett gesteckt wurden und nicht mitbekamen, was sich auf den Straßen abspielte, konnte Mutter am Tag mich nicht immer einsperren. Noch heute bricht beim Geruch von Leuchtgas oder brennenden Lumpen in mir diese Erinnerung durch. Das ist so eine Mischung von Davongekommen, Neugierde, Mitgefühl und Wut. Nach einem solchen Angriff erwachten die Menschen aus ihrer depressiven Apathie. Sie stürzten schreiend und heulend in die brennenden oder geborstenen Häuser und versuchten, ihre Habe zu retten. Ich habe nur Bruchstücke von solchen Bildern noch in Erinnerung. Die Brandstätten waren meist schon gelöscht und schwelten vor sich hin, bis ich auf die Straße durfte. In mir entstand eine Mischung aus bösen Gefühlen zwischen Sensation und Schmerz, wenn ich etwa die Verzweifelten beobachtete, die unter den Alleebäumen in der Kriegsstraße zwischen ihren ausbrennenden Häusern, Trümmerbergen und gerettetem Möbel standen.
Es verbleibt noch ein Erinnerungsfetzen aus der Gutenbergschule: Während das Schulhaus der Mädchen schon völlig ausgebrannt war, hatte das Knabenhaus erst wenige Treffer zu verzeichnen. Mitten im Unterricht hatten die Sirenen geheult, und unser Lehrer Huck war mit uns in den Schulkeller geflüchtet. Zu mehreren Hundert saßen wir über Stunden ohne Essen und Trinken. Verzweifelt versuchte Herr Huck uns zu unterhalten. Bald befand ich mich vor den Mitschülern stehend, einen Taktstock in der Hand, „Der Mai ist gekommen“ dirigierend. Es war kein Mai, und ausgeschlagen hat auch nichts, bestenfalls eingeschlagen.
Unsere Karlsruher Tageszeitung „Der Führer“ füllte sich mit immer mehr Todesanzeigen. Die waren klein gedruckt. Manche hatten ein Eisernes Kreuz. Die erinnerten an gefallene Soldaten. Andere hatten keines. Die berichteten dann meist von Frauen und Kindern, die beim Luftangriff umgekommen waren.
Die Angriffe wurden immer schlimmer. Familie Metz besaß einen Schrebergarten, der zu einer bedeutenden Aufbesserung des Speisezettels verhalf. Der jämmerliche Versuch meiner Mutter, in unserem Ziergarten Tomaten zu züchten, war mit wenig Erfolg gekrönt worden, obwohl wir mit Schaufel und Eimer bewaffnet hinter jedem Pferdeapfel her waren, der sich in die Bunsenstraße verirrt hatte. Um so erfreulicher war es, mit in den Schrebergarten – eine Viertelstunde von der Bunsenstraße entfernt – gehen zu dürfen um zu ernten. Einmal hatten wir uns wieder dorthin auf den Weg gemacht und den Garten noch nicht erreicht, als ein Jagdflugzeug aus heiterem Himmel he-rabstürzte und seine Salven auf die beiden Frauen und uns drei Kinder abschoss. Wir konnten uns in ein nahes Maisfeld stürzen und dort verbergen. Dort verborgen, musste ich an Mutter denken, wie sie unseren gelähmten Vater aus einem Berliner Lazarett abgeholt hatte. Seine Bahre hatten die Träger in ein Schnellzugabteil gestellt, und Mutter saß neben ihm. Es war Nacht geworden, und Mannheim war schon fast erreicht gewesen, als Tiefflieger den Zug angriffen, ohne sich um das rote Kreuz zu kümmern, das über die Dächer des Lazarettzuges gemalt war. Wer flüchten konnte, der rannte aus dem Zug. Mein Vater lag gelähmt auf seiner Pritsche, meine Mutter blieb bei ihm. Sie dachte, ihr Ende sei gekommen. Es muss genau wie hier im Maisfeld gewesen sein.
Die Kinder erzählten sich Geschichten von vergifteten Gutseln, die der Feind abwerfe, und von Puppen, die explodierten, hebe man sie vom Boden auf. Aber auch in der Erwachsenenwelt gab es erstaunliche Gerüchte. Nicht nur von der hinlänglich bekannten Geheim- und Wunderwaffe, die der eine oder andere schon am Westbahnhof unter Planen versteckt auf Güterwagen entdeckt haben wollte, oder von Messerschmittflugzeugen, die in die feindlichen Bomberverbände hineinflögen und deren Flügel abschnitten, nein, es gab auch spezielle Karlsruher Gerüchte, die ich mit spitzen Ohren verfolgte. So sollten Lampen im nördlichen Hardtwald fächerförmig aufgestellt worden sein, um den Bombern eine nördlichere Lage der Stadt vorzutäuschen. Ich fragte mich, ob denn der Herr Generalluftzeugmeister Milch nicht einmal mit Herrn Metz auf den Speicher gehen sollte, um beim Brandbombenwerfen zuzuschauen. War da nicht zuvor die Stadt taghell mit brennendem Magnesium erleuchtet worden, um den Todesvögeln den Weg zu weisen? Hätte der fixe Herr Milch sich nicht auch mal die übernächste Straße, die Körnerstraße, anschauen können? Schnurgerade waren auf beiden Seiten alle Wohnhäuser verbrannt und gesprengt. Diese Bomber waren nicht in den Hardtwald zu locken, selbst wenn dieser Trick zu Beginn des Krieges erfolgreich gewesen sein soll.
Wir haben über tausend Alarme und etwa einhundert Luftangriffe überlebt, die aus der Bunsenstraße 3. Herr Milch hat auch überlebt. Die Alliierten haben ihn gefangen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch hier war Herr Milch wieder fix. In sieben Jahren war sein „Lebenslänglich“ schon vorbei!
Unseres Herzens Wonne liegt
in praesepio.
Nein, in der Bunsenstraße lag in Kriegszeiten kein Jesu parvule in einer Krippe. Bruchstückhaft erinnere ich mich an die Christfeste jener Zeit. 1941 und dann alle folgenden Jahre ohne Vater. Dennoch reich beschenkt: 1941 mit einem Pferdewagen von Steiff und einer Eisenbahn von Märklin, die, hatte man das Uhrwerk aufgezogen, tapfer eine Acht fuhr. Neben Gepäck- und Personenwagen besaß sie noch einen Niederbordwagen, auf den ein Panzer geschraubt war. Sicher zur Verstärkung von Vaters Einheit. In Vaters Kriegstagebuch zum 23. November 1941 hingegen ist zu lesen: „Doch wie gerne würde ich die Weihnachtsfreude der Buben erleben; wie sie sich über die Eisenbahn freuen, wie könnte ich mit ihnen spielen. Wie habe ich die Meinen gern!“
Bei genauem Betrachten des Weihnachtsbildes von 1942 können in unseren Händen auch Plastelin-Soldaten entdeckt werden, die im Laufe des Krieges sich zu einer ganzen Kompanie erweitern sollten. Fast hätte ich es vergessen. Natürlich war ein großer Christbaum im Speisezimmer aufgestellt, mit silbernem Lametta und allerhand bunten Kugeln behangen. Bunte Kugeln, das habe ich damals mitbekommen, waren in der Verwandtschaft nicht geschätzt. An den Weihnachtsbaum gehören silberne. Bunte Kugeln, das war vielleicht heidnischer Zierrat.
Die gerade verwitwete Oma und Onkel Walter waren zu Besuch. Der Onkel sollte auch Fotos für unseren Vater im Felde machen. Zu diesem Zweck wurde das Zimmer verdunkelt, der Verschluss der Kamera geöffnet und ein an einem Stecken befestigtes Tütchen, aus dem eine Zündschnur herauslugte, angesteckt. Es tat gleich darauf für den Bruchteil einer Sekunde einen grellen Blitz. Dann war es wieder stockdunkel, und Onkel Walter hatte an der Kamera herumzufummeln, um jetzt den Verschluss zu schließen. Was dabei herauskam, war ein erschrockenes Bibi, wie ich meinen Bruder nannte.
Was in der Busenstraße fehlte, war eine Krippe. Im Elternhaus meiner Mutter gab es ein große, die wir nach den Feiertagen gern bewunderten.
Dennoch, wir kleinen Kinder vermissten sie nicht sonderlich. Erst als ich dann ins Gymnasium kam, Ministrant geworden war und die Gruppenstunden der katholischen Jugend beim Bund Neudeutschland regelmäßig besuchte, bemerkte ich das Defizit. Krippenfiguren zu kaufen, seien sie aus Gips oder gar holzgeschnitzt, daran war überhaupt nicht zu denken. Mutter war in den Nachkriegsjahren froh, wenn sie im Tauschhandel oder, weiß Gott woher, für uns Weihnachtsgeschenke besorgen konnte.
Wieder einmal sollte ich die Erfahrung machen, dass man Defizite am besten kompensiert, indem man selbst aktiv wird. Zu jener Zeit besuchte ich im Gymnasium das „freiwillige Werken“. Mit teilweise primitiven Mitteln und geringen Werkstoffen hatte sich unser Kunstlehrer über die Runden zu retten. Nachdem ein Schnitzmesser, das übrigens noch heute in meinem Werkzeugkasten zu finden ist, auf eigene Kosten angeschafft war, galt es aus Holz Spateln zu schnitzen, die später bei Tonarbeiten behilflich sein sollten. Das war eine lange und zeitraubende Arbeit. Ich freute mich auf den Ton, der nur in kleinen Mengen in einem feuchten Metallkasten sich befand. Wir durften uns alsbald an kleinen Figuren versuchen, die leider, wenn sie fertig waren, wieder in die Kiste mussten. Andere Schüler brauchten auch Ton. In wenigen Fällen durfte man so ein Stück trocknen lassen und mit nach Hause nehmen. An ein Brennenlassen unserer Werke, war nicht zu denken, wenn auch immer wieder uns Hoffnung gemacht wurde.
Es war die Adventszeit gekommen, wir hatten eine junge neue Lehrerin im Werkunterricht bekommen. Die schien mir nicht so eng und sparsam wie ihr Vorgänger, der auch so einen merkwürdigen Dialekt hatte. Der war nicht von hier. Statt dünn sagte er dünne, so gar nicht karlsruherisch.
Der neuen Lehrerin trug ich meinen Wunsch vor, eine Krippe aus Ton formen zu wollen. Das war ein großes Projekt und wie berichtet, obwohl Mutter einen Obolus für die Materialkosten aufbringen musste, blieb die Tonzuteilung beschränkt. So begann ich, eine Madonna mit Kind zu formen, in der Hoffnung, dass diese gebrannt werden könne, was allerdings in der Schule damals nicht möglich war. Ich habe mir viel Mühe gegeben. Meiner jungen Lehrerin hat das wohl gefallen. Sie gab mir den einen oder anderen Ratschlag. Was mich dann verwirrte, war ihr Hinweis, dass die Brüste der Mütter dicker seien, wenn diese kleine Kinder hätten. Ich folgte ihrem Rat und half mit etwas weiterem Ton nach.
So gerne hätte ich es gehabt, wäre meine Madonna gebrannt worden. Und dabei nicht nur einen Schrühbrand, sondern auch einen Glasurbrand bekommen hätte. Schließlich braucht eine Madonna einen blauen Mantel.
Es war zu jener Zeit nicht möglich. Meine Madonna wurde nur getrocknet. Dennoch bekam sie einen blauen Mantel. Ich griff zu meinen Deckfarben. Als alles bunt war, überstrich ich die Farben mit einer Lasur, die ich in unserer Schulwerkstatt vorfand. Die Madonna sah aus wie nach einem Glasurbrand, und die Farbe hat bis heute gehalten. Eine Ersatzlösung aus der Not geboren. Dieses mein Madonnenbild sollte der Anfang einer eigenen Weihnachtskrippe werden.
Zunächst aber stand oder besser saß meine Muttergottes mit ihrem Kinde einsam unter dem Weihnachtsbaum von 1950. Ich erinnere mich, meine Mutter hat sich gefreut.
Und es wurde wieder Advent. Es sollte wieder eine Überraschung an Weihnachten geben. So bin ich mit meinem Bruder übereingekommen, dass wir gemeinsam uns einem Krippenbau widmen wollten. Da Mutter und Oma, die meist zu Weihnachten uns besuchte, überrascht werden sollten, musste dies heimlich geschehen, was nicht leicht war. Mutter war selten außer Haus. Die beste Gelegenheit war, wenn sie ins Theater ging. Tante Anna hatte ihr ein Abonnement fürs Staatstheater geschenkt. Die Termine waren uns bekannt. Kaum war Mutter außer Haus, begann in der Küche ein geschäftiges Treiben. Unter dem Balkon hatten wir heimlich das Material versteckt, aus dem unsre Krippenlandschaft gebaut werden sollte. Die Möglichkeiten waren bescheiden. Unser Bauwerk musste sich danach ausrichten. Wir hatten ein Bodenbrett und Sackleinen, aus der wir eine Höhle formen wollten. Hierzu sollte das Leinen mit heißem Knochenleim getränkt und beim Erkalten geformt werden. Auf unserer Bodenplatte befestigten wir einige Stützen, über die das Sackleinen gezogen wurde. Aus der Drogerie in der Uhlandstraße hatte ich für unser Taschengeld eine Platte Knochenleim gekauft, die im Wasser aufquellen sollte und erhitzt werden musste. Dass hierfür kein mütterliches Kochgerät infrage kam, war klar. Eine alte Konservenbüchse, auf die Gasflamme gestellt, tat es auch. Nach zwei bis drei Theaterbesuchen unsrer Mutter waren wir recht gut vorangekommen. Unser schwierigstes Problem bei unserer heimlichen Arbeit war der entsetzliche Gestank, den heißer Knochenleim verbreitet. Wir kannten etwa die Zeit, zu der der Theaterwagen an der Haltestelle Hübschstraße ankam. Zuvor musste nicht nur unser Bauwerk unter dem Balkon wieder verschwunden, sondern auch Küchentür und Fenster zum Lüften aufgerissen sein. Die kalte Winterluft hat dafür gesorgt, dass unsere so sensible Mutter von unserem Treiben nie etwas gemerkt hat.
Entstanden war eine Felsenhöhle, in deren Verlängerung sich ein Vordach anschloss. Das war aus Zweigen geschnitten, die unsere zahlreichen Fliederbüsche und Bäume hatten opfern müssen. Die Muttergottes sollte nicht einsam mit ihrem Kinde unter dem Dach sitzen, da gehörte der heilige Joseph, Hirten und möglichst eine Vertretung der Heiligen Drei Könige dazu, vom Viehzeug ganz abgesehen. In der Schule konnte ich mir weiteren Ton besorgen, und so machte ich mich ans Werk, diese Figuren zu schaffen. Das geschah natürlich wieder in aller Heimlichkeit, wieder in der oben geschilderten Methode. So richtig zufrieden war ich mit meiner Arbeit nicht. Das schnelle und heimliche Treiben hat man meinen Figuren angemerkt. Mein Versuch, mit zwei kleinen Glühbirnchen aus einer Taschenlampe dem Ganzen etwas Glanz zu geben, verhielt sich auch in Grenzen. Dennoch, unsere Krippe war ein besinnlicher Ort.
Anders verhielt es sich zu jener Zeit in unserer Heimatkirche. Ein Leuchten wie die Sonne matris in gremio fand sich in regis curia; sprich in unserem vom Bombenhagel sich wieder schrittweise erholenden „Bonifaz“. Zur Weihnachtszeit hatte der Messner dort eine große Krippe aufgebaut. Das heilige Geschehen war eindrucksvoll und wurde von sehr vielen bestaunt. Überhaupt waren die Kirchen nach dem Kriege brechend voll. Drei Kapläne unter der Leitung des Geistlichen Rates Dr. Dold hielten an den Sonntagen sechs Messen. In den Weihnachtsmessen standen die Menschen dicht gedrängt bis zur Kommunionbank. Was war geschehen, dass sich unsere Kirche so füllte? Es lag sicher nicht allein an den vielen Flüchtlingen, mit denen wir unsere Wohnungen teilen mussten. Auch die in ihre Stadtwohnung zurückgekehrten konnten das Bild nicht erklären. War es die Dankbarkeit derjenigen, die der Krieg verschont hatte? Oder wollten plötzlich sich alle wieder als gute Christen zeigen, die niemals etwas mit den Nazis oder der Wehrmacht zu tun hatten? Da war es vielleicht schon einmal gut, sich beim Stadtpfarrer Dold sehen zu lassen, der von den Nazis eingesperrt und von Reinhold Frank verteidigt worden war. Oder war es die Furcht, die unter der Bevölkerung grassierte, in amerikanische Internierungslager gesperrt zu werden, wo man gedemütigt und gefoltert wurde, wie im damaligen Bestseller von Salomon zu lesen war? Ich konnte in meinem Alter das alles nicht beurteilen. Die Ansichten der Erwachsenen flogen mir so um den Kopf. Ich sah nur die vielen Menschen in der Kirche, die mich hingegen gar nicht bedrängen konnten. Ich hatte meinen Platz – als Ministrant am Altar. Und als Sankt Bonifatius wieder aufgebaut war, war an Weihnachten Platz für sechzig Altardiener in dulci jubilo.
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