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»Klausi, wir stecken mitten in einer Mordermittlung!«
»Zwei Stündchen?«
Belu seufzte tief.
»Sag mal, Klaus, gibt’s ne Ehefrau zu unserem Toten?«
»Das werden wir sicher gleich vom Direktor erfahren.«
Klaus räusperte sich betont deutlich.
»Was ist, Klausi?« Der Kollege deutete auf Belus Überschuhe, sagte nichts. Mit einem Ruck riss sie sich die blauen Dinger von den Füßen und drückte sie Klaus in die Hand. Er steckte die Plastiküberschuhe ineinander, sah sich suchend um. Auf den Punkt genau traf er den Papierkorb, grinste und eilte hinter Belu her.
In der geräumigen Aula der Schule hing ein Wegweiser mit den Namen der Lehrer, ihrer Berufsbezeichnung, den entsprechenden Klassen, und in welchen Klassenzimmern sie sich finden ließen. Auch das Direktorat und das Sekretariat waren ausgewiesen. Neben der Tür hing ein Schild: Vorzimmer Fräulein Margarete Kleinert. Belu klopfte forsch, wartete eine Antwort gar nicht erst ab, öffnete die Tür und stand unmittelbar vor einem breiten Tresen, auf dem sich nur ein angeketteter Kugelschreiber befand. Eine Frau mittleren Alters mit hochgesteckten Haaren blickte fragend von ihren Papieren hoch. Die runden Brillengläser saßen auf ihrer Nasenspitze und verliehen ihr ein altjüngferliches Aussehen.
»Sie wünschen?« Die tiefe Stimme passte nicht so ganz zu dem Erscheinungsbild, das die Dame abgab.
»Hauptkommissarin Nürnberger, das ist mein Kollege Oberkommissar Hofmockel.« Beide Beamte zückten ihre Dienstausweise. »Wir würden gerne mit Herrn Direktor Dressler sprechen, Fräulein Kleinert, nehme ich an.«
Sie nickte. »Natürlich, Sie werden schon erwartet. Folgen Sie mir!«
Steif deutete die Sekretärin den beiden Kommissaren an, um den Tresen herumzukommen. Dann klopfte sie, wartete das Herein ab, öffnete die Tür, murmelte etwas und zog sich zurück.
Ein Herr mit einem dünnen Haarkranz fuhr mit seinem Schreibtischstuhl nach hinten und stand zackig auf. Der Scheitel war am linken Ohr gezogen und eine graue Strähne lag wie aufgeklebt quer über der lichten Stelle. Zum beigen Anzug trug er eine rote Krawatte. Die Hände vor der Brust verschränkt, kam er auf die beiden Kommissare zu.
Aha, der übt Distanz, kam es Belu in den Sinn. Der will uns keine Hand geben. Mit einem Blick erfasste sie die Person, die da vor ihr stand. Akademiker, im Schuldienst grau geworden. Die Einrichtung des Zimmers passte zu ihm. Wuchtiger Schreibtisch, weiße Wände, Bild des Bundespräsidenten, Anrichte mit Leitzordnern, rundes Tischchen, Besucherstühle. Alles funktionell, schmucklos.
»Dressler«, sagte der Herr in Belus Gedanken hinein, »ich bin Direktor dieser Schule – noch«, fügte er an. »Das ist mein letztes Schuljahr, dann gehe ich in Pension. Herr Meier hat sich beworben, wäre vielleicht mein Nachfolger geworden.« Er seufzte tief und wischte sich mit einem gestärkten Stofftaschentuch über die Stirn. »Tragisch, wirklich tragisch. Können Sie mir nähere Auskünfte geben? Herr Nüsslein, unser Hausmeister, sagte mir nur, dass er Herrn Meier tot in einer Blutlache liegend im Turnsaal gefunden habe.«
Direktor Dressler wies zur Besucherecke, er selbst zog sich wieder hinter seinen Schreibtisch zurück.
Der macht das schon geschickt, dachte Belu, zeigt gleich die Grenzen auf. Er ist der Boss und wir die armen Sünderlein.
»Meier ist erschlagen worden, Herr Dressler«, sagte Belu. Der Stuhl war äußerst unbequem. Wahrscheinlich saßen hier öfter Schüler und die sollten es sicher nicht behaglich haben. Am liebsten wäre Belu aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen.
»Die näheren Umstände sind noch nicht bekannt. Sagen Sie, war Herr Meier verheiratet? Oder gibt es Angehörige, die wir benachrichtigen müssen?«, erkundigte sich Belu.
»Ja, seine Ehefrau.« Dressler drückte auf eine Taste am Telefon und gab seiner Sekretärin Anweisung, die Adresse von Meier herauszusuchen.
»Sie sagten, Meier wäre vielleicht Ihr Nachfolger geworden. Gab es noch weitere Bewerber?« Klaus zückte seinen Notizblock.
»Studiendirektor Johannes Petermann, Geschichte, Geografie. Er hatte sich ebenfalls für den Posten des Direktors beworben. Beide Kollegen wären bestens für die Stelle geeignet gewesen. Beide hatten die erforderlichen Vorbereitungsseminare und entsprechenden Module besucht. Beide haben mit sehr gut bestanden und abgeschlossen.«
»Und wen haben Sie präferiert?«, hakte Belu nach.
»Nun«, druckste Direktor Dressler herum, »ehrlich gesagt, war mir Petermann geeigneter erschienen. Wissen Sie, wie soll ich das sagen …? Kollege Meier war fachlich sehr gut, aber menschlich ließ er es manchmal an Fingerspitzengefühl fehlen. Man hat es in einer Schule mit Menschen zu tun, mit jungen Menschen, die geführt und angeleitet werden müssen. Er war oft wie ein Elefant im Porzellanladen.«
Lautlos war die Sekretärin in das Zimmer getreten. Sie reichte Belu einen Zettel.
»Herr Meier hat es an Fingerspitzengefühl vermissen lassen«, wiederholte Belu. »Hatte er Feinde?« Sie sah Direktor Dressler direkt in die Augen. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und senkte die Lider.
»Jeder Lehrer hat wohl Feinde. Schüler sind nicht immer damit einverstanden, wenn es Sanktionen gibt. Die Eltern machen heutzutage die Lehrer für alles verantwortlich, was ihre Sprösslinge so anstellen. Wenn ein Schüler eine schlechte Note schreibt, ist er zu wenig motiviert worden. Und Meier, er war …« Direktor Dressler hüstelte, »ähm, nun, er war wohl etwas zu direkt.«
»Um nicht zu sagen, er war beleidigend!«, schnaubte die Sekretärin, die nach wie vor neben Belu stand. Mit dem Zeigefinger schob sie die rutschende Brille nach oben.
Belu fiel auf, dass die Brille der Sekretärin an einer Lederschnur hing. Auch ihre eigene Lesebrille hatte sie an die Kette gelegt. So musste sie nicht lange danach suchen. Genau wie das Handy verschlupfte sich auch immer die Lesebrille in Belus großer Handtasche. Ein Gedanke drängte sich ihr auf. Das sehe ich immer bei kleinen Kindern, deren Fäustlinge durch eine lange Schnur aneinandergehäkelt sind, damit sie nicht verloren gehen.
»So was von beleidigend aber auch.« Fräulein Kleinert sog scharf die Luft ein. »Er sagte zu mir: Wie man sich füttert, so wiegt man, wenn ich mal von meiner Brezel abgebissen habe, oder: Sagen Sie sich immer, Fräulein Kleinert, Denken ist Arbeit, Arbeit ist Energie und Energie soll man sparen.« Fräulein Kleinert tupfte sich mit dem Knöchel ihres Zeigefingers in die Augenwinkel. »Das ist aber noch nicht alles. Erst gestern fragte er mich, ob ich den Verkehrsfunk gehört hätte. Es würde ein Besen auf der Straße liegen, und ob ich abgestürzt wäre.«
Klaus grunzte, wandte den Kopf und versuchte krankhaft an etwas Tragisches zu denken, um nicht lauthals loszulachen.
»Liebes Fräulein Kleinert. Beruhigen Sie sich … ich wusste gar nicht … so schlimm … es tut mir …« Hilflos stotterte Dressler, wobei er ungeschickt die Hand seiner Sekretärin tätschelte.
»Danke vorerst, Herr Direktor. Vorläufig soll das genügen. Wir werden zu gegebener Zeit noch auf Sie zurückkommen. Wir möchten natürlich auch gerne mit Herrn Petermann und dem Kollegium sprechen«, versuchte Belu, die Situation zu retten. Klaus war hochrot im Gesicht. Er musste seinen Lachanfall irgendwie unter Kontrolle bringen. Direktor Dressler und Fräulein Kleinert sahen beide konsterniert aus.
»Wir werden jetzt der Ehefrau die schlimme Nachricht überbringen. Auf Wiedersehen!«
Hans Dressler nickte mitfühlend, wobei ihm eine Haarsträhne ins Auge fiel, die er aber sofort wieder in die richtige Fasson legte. Diesmal schüttelte er Belu und Klaus die Hand. Es war ein lascher Händedruck, verschwitzt, der eher an ungewürzte Suppe erinnerte als an selbstbewusstes Handeln. Beim Hinausgehen meinte Belu leise zu Klaus: »Lass es uns hinter uns bringen.«
Direktorat, Sekretariat und Lehrerzimmer lagen nebeneinander im ersten Stock.
»Wollen wir nicht gleich noch die Kollegen befragen, wenn wir schon mal da sind?«
»Du hast recht, Klaus.« Belu drehte sich um, klopfte kurz, riss die Türe zum Sekretariat auf und sagte zu Fräulein Kleinert: »Rufen Sie doch bitte alle Kollegen ins Lehrerzimmer. Wir haben noch ein paar Fragen. Danke schön.«
»Ist sowieso Pause«, rief ihr Fräulein Kleinert nach.
Belu klopfte an die Tür des Lehrerzimmers. Eine junge Frau öffnete mit den Worten: »Hat man nicht mal in der Pause … oh, Entschuldigung.«
Statt einer Vorstellung hielt Belu der Lehrkraft ihren Ausweis unter die Nase. Mit einer einladenden Geste forderte diese die Kommissare auf, das noch wenig bevölkerte Lehrerzimmer zu betreten. Nach und nach füllte sich der Raum. Einige Lehrer stellten sich vor, andere nahmen schweigend Platz. Es herrschte eine seltsame Atmosphäre, und es roch eigenartig. Nach verstaubten Büchern, nach Kopierer, nach Wurstbrot, nach Kaffee und auch ein bisschen nach Angst. Niemand sagte ein Wort. Ein paar hielten die Arme verschränkt, eine der Anwesenden rückte laufend an ihrer Brille, wieder eine andere nippte an einer Flasche Mineralwasser.
Belu stellte sich und ihren Mitarbeiter vor. »Sie haben alle gehört, dass heute Morgen Ihr Kollege Martin Meier durch Fremdeinwirkung ums Leben gekommen ist. Die genauen Umstände sind noch ungeklärt.«
Irgendjemand räusperte sich. Der Geruch nach Schule stieg Belu noch intensiver in die Nase.
»Hat jemand von Ihnen etwas beobachtet, was mit diesem Vorfall in Zusammenhang stehen könnte? Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Schweigen. Wirklich, wie früher in der Schule, dachte Belu. Hoffentlich ruft mich niemand auf oder spricht mich an.
Ein älterer Herr stand auf. »Hans Weigel, Französisch und Englisch. Ich habe nichts beobachtet. Ich habe heute nach der Pause Unterricht, bin auch eben erst gekommen. Mit Herrn Meier hatte ich wenig Kontakt. Er ist, äh, war in einer anderen Fachschaft.« Weigel setzte sich, zog ein Papiertaschentuch aus der Jacke und schnäuzte hinein.
»Wenn Sie eben erst gekommen sind, woher wissen Sie dann vom Tod Ihres Kollegen?« Klaus hielt die Hände verschränkt, zog die Augenbraue nach oben.
»Nüsslein, er …«
»Sie brauchen nicht weiterzusprechen. Es passiert ja schließlich nicht jeden Tag, dass ein Kollege mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden wird. Und das muss sofort sensationslüstern weitererzählt werden.« Belu schnaubte. Am liebsten hätte sie das Fenster ganz weit aufgerissen, um diesen konservativen Mief hinauszuwedeln.
Eine Frau hob den Kopf, blieb sitzen. »Elfriede Wagner. Martin war in unserer Fachgruppe Religion. Erst gestern hatten wir eine kleine Meinungsverschiedenheit, nein wohl eher eine kleine Reiberei, wie wir das Thema Sexualität und Partnerschaft im Unterricht behandeln. Er hat sich nie um irgendwelche Lehrpläne geschert. Das geht natürlich nicht …« Frau Wagners Stimme war immer leiser geworden. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass diese Auseinandersetzung ein Mordmotiv hätte sein können. Die Kollegen sahen sie auch ziemlich entsetzt an.
»Das ist doch kein Grund ihn umzubringen! Ich unterrichte Religion, bin gottesfürchtig und achte das Leben!«
Eine junge Frau durchbrach die anschließende Stille, indem sie betont munter meinte: »Susanne Graber, Referendarin, Wirtschaft und Deutsch. Ich bin nach sieben Uhr am Schulhaus angekommen, habe Frau Wagner vor der Tür getroffen und dann sind wir beide zusammen ins Lehrerzimmer gegangen. Mir ist nichts Besonderes aufgefallen. Ich kann Ihnen nichts anderes sagen.«
Man sah Frau Wagner an, wie erleichtert sie war. »Stimmt, ich bin mit Frau Graber …« Sie brach ab, schnaufte hörbar. So ging es noch eine Weile weiter. Auch die anderen Kollegen stellten sich brav mit Namen und Fächerverbindung vor.
Belu nickte. Natürlich war niemandem etwas aufgefallen. Es war ein Schultag wie jeder andere auch. Schüler und Lehrer waren, wie jeden Morgen, ins Schulhaus gegangen. Schwatzten miteinander, stellten Fahrzeuge und Räder ab. Nichts Ungewöhnliches.
»Danke. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich auf dem Polizeipräsidium. Falls wir noch Fragen haben, kommen wir auf Sie zurück.« Belu nickte, Klaus deutete einen Gruß an. Dann verließen beide das Lehrerzimmer. Sie erwarteten, dass nun ein Stimmengewirr eintreten würde, aber hinter der Tür blieb es still.
Während Belu die Treppen hinunterging, sah sie überall neugierige Gesichter. Einige Schüler standen in Grüppchen am Fenster, andere saßen auf den Bänken, die schlangenförmig in Nischen aufgestellt waren. Manche Klassenzimmertüren standen offen, es war erstaunlich leise. Von Weitem sah Belu das rotweiße Band, das die Spurensicherung vor die Turnhalle im Erdgeschoss gespannt hatte.
»Wo gehst du denn jetzt schon wieder hin?« Klaus hatte Mühe, seiner Chefin zu folgen.
Nachdenklich stand Hausmeister Nüsslein da. Als er die Kommissarin erblickte, tat er so, als hantiere er geschäftig an dem Heizkörper vor der Pförtnerloge herum.
»Nun, Herr Nüsslein.« Belu hätte ihn am liebsten eine Schwatzbase geheißen, sie unterließ es aber. Mit wenigen Schritten war sie bei dem Hausmeister. Die Menschen waren nun mal neugierig und wollten wissen, was ein Absperrband und Polizeipräsenz bedeuteten. Ein anderer wusste etwas, in dem Fall Nüsslein, und er wollte sein Wissen weitergeben. Dadurch wurde er wieder ein Stückchen wichtiger. Er hatte die Leiche Meiers schließlich aufgefunden. Stattdessen fragte ihn Belu: »Was ist mit dem Schlüssel zur Turnhalle?«
»Ähm, der Schlüssel lag im Kasten.«
»Nun denn, wie’s ausschaut, hatten Sie also nicht alleine die Schlüsselgewalt. Wenn der Schlüssel dieser Dozentin im Kasten lag, dann musste Herr Meier selber einen gehabt haben.«
Nüssleins Gesichtsfarbe wechselte. Das ging wohl gegen seine Hausmeisterehre, denn er polterte los. »Ich froch mich wergli, was dann Protokolle und Verordnungen nützen, wenn man sich ned dro häld. Und der Meier, des wor a bsonders Schlauer.« Nüsslein presste die Lippen fest aufeinander. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die er schnell in den Taschen seines Kittels verschwinden ließ. Auf seinen Wangen zeigten sich rote Flecken.
»Warum ärgert Sie das so?« Belu sah den Hausmeister herausfordernd an.
»Wie ich scho gsocht hob, warum beschließt ma, dass nur ich an Schlüssel hobn soll und dann schwirrn a boar umanander.« Nüsslein putzte so heftig an der Heizung, dass Belu schon fürchtete, die Farbe würde abblättern.
»Danke vorerst, Herr Nüsslein.«
»Schüler befragen …?« Klaus machte eine Kopfbewegung Richtung Treppe.
»Später.«
Während die beiden Kommissare zum Haupttor der Schule gingen, sagte Belu: »Ich möchte wirklich wissen, warum Nüsslein wegen des Schlüssels so aufgebracht ist.«
»Ich vermute mal«, antwortete Klaus, »das ist eine Frage der Ehre. Etwas ist ohne sein Wissen passiert. Schließlich ist er der Herr über alle Türen im Schulhaus. Weiß, was sich dahinter verbirgt. Nur er kann überall rein. Und man muss ihn fragen, wenn man etwas will. Dieser Meier, den er sowieso für einen Arrogantling hielt, machte ihm das Schlüsselprivileg abspenstig. Wenigstens da wollte er doch ein bisschen Macht demonstrieren. Und das hat ihm Meier wohl auch weggenommen. Wollen wir jetzt zur Ehefrau des Opfers fahren?«
Belu nickte. »Je früher wir das machen, umso eher haben wir es hinter uns. Aber halt.« Belu blieb mit einem Mal stehen, so dass Klaus ihr in die Hacken lief. »Sagte der Direktor nicht, dass Meiers Klasse noch im Schulhaus ist? Auf der Tafel stand, in welchen Zimmern sich die Klassen aufhalten.«
»Gerade wollte ich das von dir wissen.« Klaus war beleidigt.
»Ist ja gut, hast recht, wenn wir schon hier sind, sollten wir die Kids gleich befragen.«
Belu machte kehrt und folgte den Pfeilen. Natürlich sprach es sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Schule herum, dass man Studiendirektor Meier tot im Turnsaal aufgefunden hatte. Die Klassentüre der 10a war nur angelehnt. Belu blieb erneut abrupt stehen. Klaus konnte gerade noch einen Satz zur Seite machen, sonst wäre er ihr wieder in die Ferse gelaufen. Sie drehte sich um und legte den Finger an den Mund, lauschte.
*
Die Suppe ist zu heiß! Himmel, bist du zu dämlich, um Suppe zu kochen? Mit einem Ruck packte er den Teller und schüttete den Inhalt auf den Boden. Sie bekam einige Spritzer auf die nackte Haut ihrer Wade. Es tat höllisch weh. Am liebsten hätte sie laut geweint, aber mit Blick auf ihn unterließ sie es wohlweislich. Sein Haar stand ab. Im Zimmer machte sich Zwielicht breit. Der Gummibaum in der Ecke warf gespenstische Schatten auf sein Gesicht. Es sah aus, als wenn ihm ein Horn auf der Stirn wachsen würde.
3
Aufgeregtes Stimmengewirr drang aus der angelehnten Tür der Klasse 10a. Wortfetzen wie Scheiße, wer macht jetzt … und kein Wunder …, so ein … drangen heraus. Belu klopfte kurz, gefolgt von Klaus trat sie ein. Es wurde schlagartig ruhig. Die Kommissarin stellte sich der Klasse vor. Deutete auf Klaus. »Mein Kollege Hofmockel. Lassen Sie sich nicht stören«, meinte sie ironisch. »Sie waren eben im Gespräch?«
»Ich sagte gerade, dass es zum Glück Nüsslein war, der den Meier gefunden hat. Stellt euch mal vor, es wäre unser Trutscherle gewesen. Die hätte doch glatt einen Schreianfall bekommen.«
»Würden Sie sich vorstellen, bitte?« Klaus mischte sich ins Gespräch ein, sah den jungen Mann an.
»Matze Bohl, Klassensprecher. Und du, Nico, sag nicht Depp zu mir.« Der Angesprochene hatte Matze einen leichten Schlag mit dem Heft auf den Kopf gegeben.
Die Tür öffnete sich und ein mittelgroßer Mann mit einer modischen Kurzhaarfrisur kam in das Klassenzimmer. Belus erster Gedanke: ein eitler Pfau mit seinem Seidenschal und modernem Outfit.
»Ich wollte mal nach der Klasse sehen. Es war auf einmal so unnatürlich ruhig. Ich nehme an – Polizei?«
Belu nickte und murmelte ihrer beider Namen. Ich hänge mir jetzt bald ein Schild um, so oft habe ich mich heute schon vorgestellt, dachte sie.
»Mein Name ist Johannes Petermann. Geschichte, Geografie.«
Ist schon komisch, dachte Belu, dass sich Lehrer immer gleich mit ihrem Fachgebiet vorstellen. Sie lächelte den Herrn freundlich an.
»Sie waren nicht im Lehrerzimmer gewesen?«
»Ich musste noch eine Klassenarbeit vervielfältigen. Nachdem der Kopierer mal wieder Papierstau meldete, habe ich mich gar nicht lange damit beschäftigt und bin gleich ins Sekretariat. Fräulein Kleinert hat mir die Kopien gemacht.«
Er fuhr an die Klasse gewandt fort: »Ich glaube, an Unterricht ist jetzt nicht zu denken. Die Schulleitung überlegt noch, ob wir in dieser Woche den normalen Schulalltag überhaupt so fortführen. Auf jeden Fall werden wir Psychologen vom örtlichen Schulamt ordern. Und dann wären da auch noch die Religionslehrer, die euch für Gespräche zur Verfügung stehen. Wenn ihr das wünscht, natürlich nur«, fügte der Lehrer an. »Am besten geht ihr für heute nach Hause.« Er schaute dabei von einem Jugendlichen zum anderen. Einige saßen auf den Bänken, andere hatten sich an die Wand gelehnt, wieder andere hatten an den Fenstersimsen Platz genommen. Ein paar Schüler senkten die Köpfe, andere nickten, die meisten verneinten. Sie wollten noch in der Schule bleiben. Es waren wohl eher Neugierde und die Befürchtung, etwas zu verpassen, die die Schüler in der Schule und im Klassenzimmer verharren ließen, als das Pflichtbewusstsein.
»Wissen Sie«, Petermann wandte sich den beiden Kommissaren zu, »die Klasse von Studiendirektor Meier ist vor lauter Polizei im Haus beinahe in Vergessenheit geraten. Direktor Dressler hat angeregt, den psychologischen Dienst einzuschalten. Wozu haben wir ihn? Die unteren Klassen wirken leicht verstört. Sie wissen ja, wie das ist. Zu jedem geflüsterten Satz kommt ein noch geheimnisvollerer hinzu. Wie ich eben hörte, munkelt man, dass Meier in einem Blutsee gefunden wurde.« Petermann presste die Lippen aufeinander und nestelte nervös an einem Knopf. Dann öffnete er den Knoten seines Seidenschales und wischte sich damit über die Stirn. Er knüllte ihn zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. Aufgeregtes Gemurmel machte sich breit. Als Matze Bohl zu sprechen begann, wurde es wieder still.
»Nüsslein wollte ihn noch wiederbeleben, munkelt man – aber bei einem Kopf, der nur noch Brei ist? Jedenfalls wäre unser Hauswart dadurch blutverschmiert gewesen, als man ihn sah.«
»Und? War er das?«, fragte Hofmockel.
»Ich habe jedenfalls nichts gesehen«, antwortete Matze. »Wir mussten laut der Order Nüssleins ja dableiben, falls die Bullerei uns befragen wollte. Sein Kittel hatte alle möglichen Flecken. Wie immer halt. Aber Blut habe ich nicht gesehen.«
Eine Schülerin begann hysterisch zu schluchzen. Sie sah aus, als wenn sie tagelang nicht geschlafen hätte. Käseweiß war sie im Gesicht, ihre Sommersprossen auf der Nase sahen aus wie kleine Dreckspritzer.
»Reiß dich zusammen, Katharina!«, sagte Ben, ein anderer Junge aus der Klasse. Und grienend setzte er nach: »Jetzt wird es wohl endgültig nichts mehr mit der Mathe-Weltmeisterschaft.« Die betreffende Schülerin Katharina wechselte ihre Gesichtsfarbe von Weiß zu Knallrot.
»Lass Katharina in Ruhe. Nur weil du Mathe nicht magst und es auch nicht kannst, du Zahlengenie, brauchst du nicht so abfällig zu reden. Immerhin ist ein Mensch gestorben, das ist schlimm genug«, antwortete der Junge, der von Matze Bohl mit Nico angesprochen worden war.
»Das sagt der Richtige. Du hast das Handtuch geschmissen. Ist die Mathematik wohl doch nicht deine Berufung, he, Streber?« Ben sah sich Beifall heischend um, erntete aber nur Schweigen von seinen Mitschülern.
»Lasst gut sein, hört auf zu streiten«, mischte sich Petermann ein. »Ich glaube, wir haben im Moment andere Sorgen. Schon vergessen? Zehnte Klasse? Schulaufgaben? Abschlussprüfungen? Jetzt ein Mordfall. Wer soll eure Klasse bis zum Schuljahresende führen? Einige von euch werden nach der Zehnten abgehen, die brauchen ein vernünftiges Zeugnis.« Petermann hatte sich richtig in Rage geredet. Er stützte sich mit beiden Händen an einer Bank ab, sah die Schüler eindringlich an.
Klassensprecher Matze hüpfte von dem Tisch herunter, auf dem er gesessen hatte. Zu Nico gewandt meinte er: »Du bist noch nicht lange an der Schule und kanntest Meier nicht so gut wie wir. Der konnte ganz schön austeilen. Und wen er auf dem Kieker hatte, Mannomann, der hatte wirklich nichts zu lachen.«
Ein paar Schüler nickten zustimmend.
»Wie geht’s nun weiter, Herr Petermann?«, schob Matze nach.
»Das kann ich euch wirklich noch nicht sagen. Wir werden eine Konferenz einberufen müssen und beratschlagen, was zu tun ist. Vorerst gilt der Vertretungsplan.«
Kurz schwoll Stimmengewirr an, manche maulten.
»Mann, das haben wir heuer nicht zum ersten Mal. Meier hat schon letztes Schuljahr längere Zeit gefehlt und war vergangenen Dezember über weg, und da hatten wir auch Vertretungen«, meinte ein Schüler genervt.
»Wer sind Sie?« Belu sah den schlaksigen Jungen an, der von der letzten Bank vorgerufen hatte.
»Tobias Herbst. Ich bin auch in der Mathe-AG. Der Meier war schon ein Hund. Erinnert euch nur daran, wie er Matze die Clownsmaske aufgesetzt hat und meinte, dass auch jeder weiß, wo der Spaßvogel sitzt. Und zu Bella hat er gesagt, wenn er sich einen Döner ans Ohr hält, dann hört er wenigstens die Sau grunzen, bei ihr käme nix, und sie hätte keinen blonden Schimmer von Zahlen.«
»Ha ha«, maulte Matze und setzte sich seine Baseballkappe verkehrt herum auf.
»Du bist so ein Arsch, Tobias.« Bella nahm einen Gummi, warf ihn dem jungen Mann an den Kopf. Tobias duckte sich geschickt. Nico, der hinter ihm stand, reagierte nicht schnell genug und bekam ihn direkt an die Nase.
»Aua, Volltreffer! Bella, seit wann bist du ein Wurfgenie?« Nico rieb sich die Nase, machte gute Miene zum bösen Spiel. Petermann sah etwas pikiert drein. Klaus Hofmockel verzog die Mundwinkel und Belu beobachtete die Szene gespannt. Was würde sie von den Schülern noch über Meiers Charakter erfahren?
»Ehrlich, Leute, ich fand Meier nicht so schlimm. Er konnte sehr gut erklären. Seinen Humor musste man halt verstehen.«






