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Im Zeitlupentempo drückte er die Türklinke nieder, öffnete die Schlafzimmertür einen Spalt und steckte den Kopf hinaus, um ins Dunkel des Hauses zu lauschen.
Wieder hörte er ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Es war aus der Küche im Erdgeschoss gekommen. Seine Hand zitterte, als er sie auf das hölzerne Geländer der kleinen Treppe legte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Stufen jetzt nicht knarrten, so, wie sie es sonst taten, wenn sich das Wetter änderte. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die Mauern des alten Hauses. Schnell huschte er die Treppe hinab und stand jetzt im unteren Flur. Linkerhand befand sich die schwere Haustüre, daneben die Garderobe. Ihre gesteppten Jacken hingen unverändert an den gusseisernen Haken hinter der Tür. Wenn sich jemand im Haus befand, dann war er nicht durch die Haustür gekommen. Rechts lag die Tür zur Küche und zur Stube mit Blick in die Dünen.
Ein scharrendes Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Jetzt war es eindeutig: Schritte in der Küche, vorsichtig gesetzt. Offensichtlich war der Fremde durch das Küchenfenster ins Haus eingedrungen. Das hatte also
das klirrende Geräusch verursacht, das ihn erschreckt hatte.
Er konnte hören, wie die Sohlen des Einbrechers über Glasscherben streiften und knirschende Geräusche erzeugten.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Einbrecher waren auf der Insel eher selten anzutreffen – zu kompliziert war den Tätern die Flucht mit dem Sylt-Shuttle, zu groß die Gefahr, noch am Bahnhof in Westerland von der Polizei festgesetzt zu werden. Trotzdem gab es in letzter Zeit immer wieder Einbrecher, die sich in den verwaisten Dünenhäusern wertvolle Beute versprachen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass ein Großteil der Immobilien auf der Insel nur während der Feriensaison bewohnt wurde. Jetzt, im Herbst, waren zahlreiche der prächtigen Häuser verlassen. Sie standen oft wochenlang leer und wurden nur von Hausmeistern betreut, die regelmäßig kamen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Kriminalität auf Sylt hielt sich in Grenzen, von einer heilen Welt wollte hier trotzdem niemand reden.
Warum habe ich mir immer noch keinen Baseballschläger ans Bett gestellt?, fragte er sich mit einer Mischung aus Wut und Angst, als er eine Hand auf die Türklinke legte. Was, wenn der Einbrecher bewaffnet ist? Würde es ihm gelingen, den Fremden in die Flucht zu schlagen? Hektisch blickte er sich um. Sein Blick fiel auf ihren großen „Schietwetter“-Regenschirm, der am Haken der Garderobe hing.
Besser als nichts, dachte er und streckte die Hand nach dem Schirm aus. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff, bereit, damit zuzuschlagen. Nachdem er ein letztes Mal tief durchgeatmet hatte, hob er das rechte Bein und trat mit voller Wucht die Küchentür auf. Sie würde ihm verzeihen, wenn er das Türblatt beschädigte, da war er sicher. Immerhin ging es darum, den Einbrecher zu stellen und sie zu schützen.
Mit einem Knall schlug die Tür an die dahinterliegende Wand. Spätestens jetzt ist sie aufgewacht, durchzuckte es ihn. Entgegen seiner Befürchtung regte sich oben nichts. Sie hatte einen festen Schlaf.
Das Holz des Türblatts scharrte über Glasscherben, um kurz darauf zurückzupendeln. Mit einem einzigen Satz sprang er in die Küche und hoffte, das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. Er registrierte das zerstörte Fenster, dann fiel sein Blick auf den Stein, der in der Mitte des Raums am Fußboden lag – die Tatwaffe. Im selben Moment tauchte der Schatten in seinem Augenwinkel auf. Jemand hatte sich versteckt, um jetzt mit einem Sprung seine Deckung zu verlassen.
Während er noch herumwirbelte, dabei den Arm mit dem Schirm nach oben riss, spürte er den entsetzlichen Schlag am Hinterkopf. Im Bruchteil einer Sekunde sah er grelle Blitze vor den Augen auftauchen, dann fühlte es sich an, als würde sein Körper von innen heraus explodieren. Ihm wurde es heiß und kalt, bevor er mit einem ächzenden Laut in die Knie ging. Dass er mit dem Gesicht in die Scherben auf dem Boden fiel, spürte er schon nicht mehr.
*
Als er zu sich kam, schmerzte ihm jeder Knochen. Im Mund einen pelzigen Geschmack, die Augenlider schwer wie Blei, wünschte er sich im ersten Moment zu sterben. Übelkeit stieg in ihm auf, eine Sekunde lang fürchtete er, dass er sich übergeben musste. Es dauerte einen Moment, bis die Erinnerung sich schmerzhaft in sein Bewusstsein brannte. Die durchwachte Nacht mit der Liebe seines Lebens, die eigenartigen Geräusche in der Küche, das eingeschlagene Fenster, der Überfall. Er öffnete die Augen, blinzelte und wurde vom grellen Licht der Küchenlampe geblendet.
Vom Täter keine Spur.
Sein Kopf fiel zur Seite. Als er die Muskeln anspannte, knirschte es unter ihm. Er lag mitten im Scherbenhaufen der eingeschlagenen Fensterscheibe.
Ein brennender Schmerz in der Stirn brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Vorsichtig tastete er nach der schmerzenden Stelle. Ein harter Gegenstand steckte wie die spitze Klinge eines winzigen Messers in seinem Kopf. Er fixierte die Scherbe mit Daumen und Zeigefinger, biss die Zähne zusammen und stöhnte auf, als der Schmerz an Intensität zunahm und drohte, ihm den Verstand zu rauben. Blut trat aus der Wunde aus und besudelte seine Finger. Doch es gab kein Zurück mehr. Wenn er wollte, dass die Qual aufhörte, musste der Fremdkörper aus seinem Körper verschwinden. Fest packte er zu, hielt die Luft an und spürte dennoch die Hitze, die sich schlagartig in ihm ausbreitete. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog er an dem Splitter in der Stirn. Ein Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle, dann betrachtete er den Gegenstand in der blutverkrusteten Hand. Eine Glasscherbe, scharf wie ein Messer und spitz wie ein Dolch.Gut zwei mal drei Zentimeter groß. Wütend warf er die Scherbe zu Boden.
Sekundenlang schloss er die Augen und versuchte, sich zu sammeln.
Ein eisiger Luftzug wehte in die Küche, verfing sich in der weißblau karierten Tischdecke und blähte sie auf. Im Zeitlupentempo wandte er den Kopf und öffnete die Augen wieder. Das Stofftuch schien ein seltsames Eigenleben zu entwickeln. Ein unheimliches Schauspiel. Langsam gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen.
Der Schmerz wurde von seiner Sorge um sie verdrängt. War ihr etwas zugestoßen? Er versuchte, den Atem anzuhalten, lauschte. Im Haus herrschte Stille. Befand sich der Einbrecher noch hier, oder war er längst über alle Berge?
Ein gequälter Laut kam über seine Lippen. Mit schmerzverzerrter Miene richtete er sich auf. Vorsichtig tastete er über die dicke Beule an seinem Hinterkopf. Sofort spürte er eine klebrige Substanz zwischen den gespreizten Fingern. Sein eigenes Blut. Er verdrängte den Schmerz, so gut es ging. Die Angst um sie trieb ihn vorwärts. Er musste zu ihr, nach dem Rechten sehen. Schwerfällig richtete er sich auf. Jeder Muskel bereitete ihm Höllenqualen.
Sekundenlang kämpfte er gegen den Schwindel an, umklammerte die Lehne des Küchenstuhls, sammelte Kräfte und atmete tief durch.
Schwankend verließ er die Küche. Wenn ihr etwas zugestoßen war, würde er sich dafür die Schuld geben, dann würde er versagt haben. In seiner Angst spürte er gar nicht, dass er barfuß inmitten der Glasscherben gestanden hatte und jetzt mit jedem Schritt eine Blutspur durch das Haus zog. Mit zitternden Händen umschloss er das Treppengeländer. Mühsam zog er sich nach oben, jede Stufe ein Kampf. Übelkeit stieg wieder in ihm auf. Schwer kämpfte er gegen die drohende Ohnmacht an.
Noch eine Schwäche wollte er sich nicht erlauben. Er musste da sein für sie, wollte sie beschützen. Allein der Gedanke, dass er möglicherweise bereits zu spät kam, trieb ihn voran.
Dunkel lag der obere Flur jetzt vor ihm. Er hielt am Treppenabsatz inne, um zu lauschen. Kein Laut drang an seine Ohren. War der Einbrecher hier oben, war er bei ihr?
Der Gedanke trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. So schnell es ging, setzte er seinen Weg zum Schlafzimmer fort. Hier überholte ihn das Grauen, denn der Anblick, der sich ihm bot, entlockte seiner Kehle einen dumpfen Laut.
Sie war da. Lag neben dem Bett, fast so, als wäre sie herausgefallen. Auf dem Rücken, den starren Blick an die Decke des Schlafzimmers gerichtet, der Mund einen Spalt breit geöffnet. In ihrem Blick lag die pure Todesangst. Grotesk standen Arme und Beine von ihrem Körper ab, die Beine gespreizt, die Arme angewinkelt, der rechte Oberarm nach unten, der linke nach oben.
Fast wie ein Hakenkreuz, durchzuckte es ihn. Wie gebannt blickte er in ihr Gesicht, versuchte, Leben in ihren gebrochenen Augen zu erkennen, eine Regung an ihrem Körper zu registrieren.
Vergeblich. Der Einbrecher war schneller gewesen, hatte es sich zunutze gemacht, dass er ihn außer Gefecht gesetzt hatte.
Alles, nur das nicht, schrie alles in ihm, während er sie aus tränenverschleierten Augen betrachtete.
Erst im zweiten Augenblick wurde ihm klar, dass sie inmitten einer Blutlache lag. Mit einem Schrei brach er zusammen.
Ich habe versagt.
Sie war gestorben, weil er sich von dem Angreifer hatte niederstrecken lassen. Wut mischte sich unter die Trauer über den Verlust, dann spürte er, wie seine Kräfte schwanden. Das Letzte, an das er dachte, war, dass sein Leben keinen Sinn mehr hatte, dann würgte er und konnte nicht verhindern, dass er sich auf dem Fußboden im Flur übergab.
ZWEI
Ostenfeld, 1.35 Uhr
Sie hatte schlecht geschlafen. Die Sache mit Eike machte Wiebke seit Wochen schon zu schaffen. Ihr Freund war als Frontmann der Band „Sleepless“ auf Deutschlandtournee und meldete sich seit Tagen nicht bei ihr. Auch ihre vergeblichen Anrufe und Wiebkes Textnachrichten ignorierte er hartnäckig. Gäbe es nicht das Profil seiner Band auf Facebook, Wiebke würde sich ernsthafte Sorgen machen, ob er überhaupt noch lebte. Seit einigen Monaten schon führten sie eine dieser „On/Off“-Beziehungen. Immer, wenn Eike bei ihr war, zeigte er sich als verständnisvoller, einfühlsamer Mann, als leidenschaftlicher Liebhaber, als guter Zuhörer und als bester Freund für die Kommissarin. Doch sobald er in den Tourbus stieg, schien er in eine andere Welt einzutauchen. In die eines Rockstars, der nur für die Bühne lebte und der kein Privatleben hatte. Wiebke wagte es nicht sich, auszumalen, was er nach den Auftritten im Hotelzimmer tat.
Alles um sich herum, sein bürgerliches Leben, seine kleine Tochter, seine Freundin, all das ließ er vor dem Bus zurück. Einmal auf Tour, war Eike Godemann ein anderer Mensch.
Wiebke war fast dankbar, als sie den Klingelton ihres Handys wahrnahm, der wie durch Watte an ihre Ohren drang und sie aus dem Halbschlaf weckte. Das Smartphone lag auf dem Ankleidestuhl neben dem Bett. Die Vibration des Akkus erinnerte Wiebke an eine wütende Hummel. Das Telefon wanderte über den Stuhl und drohte, zu Boden zu fallen.
Schnell richtete sich Wiebke auf, sie gähnte herzhaft und spürte einen stechenden Kopfschmerz in der Stirn. Ihr war, als hätte sie einen dicken Kloß in ihrem Hals, ihre Stimmbänder und ihre Mandeln schmerzten.
Oh nein, dachte sie. Eine Erkältung kann ich jetzt nicht gebrauchen.
Schlaftrunken fischte sie nach dem Handy, warf einen Blick auf das Display und erkannte, dass es sich bei dem Anrufer um Jan Petersen handelte. Es hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten, wenn ihr Kollege sie zu dieser Zeit anrief.
„Moin“, sagte ihr Partner viel zu gut gelaunt, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte. „Kannst dich flott aufhübschen und dann ausrücken. Wär nett, wenn du mich mitnimmst.“
„Was ist passiert?“, krächzte Wiebke in den Hörer. Sie gähnte herzhaft und fuhr sich mit der freien Hand durch das Gesicht.
„Mann Mädchen, ist alles gut bei dir? Du klingst, als hättest du eine Hafenkneipe leergetrunken.“ Petersen klang besorgt.
„Na danke auch“, erwiderte sie heiser und räusperte sich. „Ich glaube, ich hab mir was eingefangen.“ Wieder räusperte sie sich. „Wie dem auch sei – solange ich den Kopf nicht unter dem Arm trage, bin ich ansprechbar. Also, was ist los?“
„Es hat eine Schießerei draußen in Hockensbüll gegeben.“ Seine Stimme klang ebenfalls rau, was aber an zig Zigaretten und literweise Whisky lag – so klang es jedenfalls. Dabei trank er nicht. Auch das Rauchen hatte der geschiedene Endvierziger vor Jahren schon aufgegeben. Manchmal fragte Wiebke sich, was ihr Partner in seiner Freizeit trieb. Sie stellte fest, dass sie noch immer nicht viel von ihm wusste, und das, obwohl sie im Dienst Tag und Nacht zahlreiche Stunden Seite an Seite verbrachten.
„So kann die Woche ja anfangen“, murmelte Wiebke schlaftrunken. Es war Montag. Hinter ihr lag ein ruhiges Wochenende, das sie einmal mehr ohne Eike verbracht hatte. Wiebke verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf Jan Petersens Anruf. „Weiß man schon mehr?“
„Mord. Ein Heckenschütze hat den Geschäftsführer der Messegesellschaft in seinem Haus erschossen.“
„Ein Anschlag auf den Fürsten von Husum?“ Wiebke war auf der Stelle hellwach. „Hans Olaf Berger ist tot?“ Der Unternehmer war in Nordfriesland bekannt wie ein bunter Hund. Da ihm nachgesagt wurde, die Finger in allen Geschäften zu haben und dass seine Macht auch bis in die Politik reichte, bezeichnete man ihn als den „Fürst von Husum“.
„Jo“, machte Petersen. „Berger ist am Fenster seiner Villa abgeknallt worden.“
„Um diese Uhrzeit?“ Wiebke runzelte die Stirn. „Was gibt es da am Fenster zu sehen?“ Die rot glühenden Ziffern ihres Weckers zeigten, dass es fast zwei Uhr morgens war. Hinter dem Dachfenster ihres kleinen Schlafzimmers herrschte Dunkelheit, nicht einmal der Mond und Sterne hatten es in den letzten Stunden geschafft, die tief hängenden Wolken zu verdrängen.
„Wann wäre es dir denn lieber?“ Petersen lachte. „Am helllichten Tage geschieht so etwas eher selten.“
„Also ein gezieltes Attentat?“ Wiebke versuchte vergeblich, ihre Gedanken zu ordnen.
„Klar. So was ist ja kein Zufall“, schnaubte Petersen.
Wiebke begab sich durch den langen Flur ihrer Dachgeschosswohnung in Richtung Küche. „Sind die Flensburger schon im Boot?“
„Die Kollegen von der Bezirkskriminalinspektion wissen Bescheid und sind im Anmarsch.“ Petersen räusperte sich. „Aber wenn du schnell bist, sind wir die Ersten, Mädchen.“
„Ich bin immer schnell.“ Wiebke lächelte, was Petersen am anderen Ende der Leitung nicht sah. Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Kinn und schaltete das Küchenlicht ein, um die Kaffeepadmaschine startklar zu machen. Sie rief sich in Erinnerung, was sie über das Mordopfer wusste. Hans Olaf Berger war in Husum beliebt und gefürchtet zugleich. Seine Kritiker sagten ihm nach, dass er seine Hände überall dort im Spiel hatte, wo große Geschäfte gemacht wurden. Immer wieder wurde Berger hinter vorgehaltener Hand mit dem Begriff Korruption in Verbindung gebracht. Seine Freunde hingegen attestierten dem Unternehmer ein glückliches Händchen, wenn es darum ging, den Umsatz zu steigern und Kohle zu machen, wo es ging. Berger war prominenter als der Bürgermeister der grauen Stadt – er lächelte überall dort in die Kameras der Reporter, wo ein neues Gebäude feierlich und damit pressewirksam eröffnet wurde. Ihm gehörten Kaufhäuser, Gastronomiebetriebe, zwei Hotels in Büsum und Sankt Peter-Ording, ein Golfplatz auf Sylt und die Messe von Husum. Zusätzlich war er an privat geführten Krankenhäusern und einem Altenheim beteiligt gewesen.
„Bring mich auf Stand, Jan – was ist genau passiert?“
„Nachbarn sind vom Klirren der Scheibe aufgewacht, das muss einen Höllenlärm gemacht haben.“
„Ich bin in zwanzig Minuten da“, versprach Wiebke, während sie das blinkende Licht der Kaffeemaschine beobachtete. Sie nahm eine Tasse aus dem Regal über dem kleinen Tisch, schob sie unter den Ausguss und drückte den Knopf, als das Lämpchen dauerhaft leuchtete.
„Ich nehm auch einen Kaffee“, bemerkte Petersen, der das sonore Brummen der Maschine am anderen Ende der Leitung richtig deutete.
„Bring ich dir mit.“
„Zwei Stück Zucker und viel Milch – wie immer.“
„Kriegst du.“ Wiebke lachte. „Du bist mir ein Heini.“
„Danke, dann spring ich jetzt auch mal in die Buchse.“ Petersen beendete das Gespräch. Wiebke legte das Smartphone auf den Tisch, nahm zwei Thermobecher aus dem Hängeschrank, füllte den Kaffee um und bereitete gleich einen zweiten vor. Dann überlegte sie es sich anders und setzte den Wasserkocher in Gang. Ein heißer Tee mit einer Portion Honig würde gegen die Heiserkeit und die Halsschmerzen besser helfen als der Kaffee. Sie verschwand im Bad, um sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen. Es gab Arbeit – vielleicht war das gut so, um ein wenig Ablenkung von ihren Beziehungsproblemen zu bekommen.
DREI
Wenningstedt/Sylt, drei Monate zuvor
„Was starrst du mich denn so an?“, fragte sie lächelnd, als sie seinen angsterfüllten Blick sah. Noch immer toste der Sturm um die Mauern des reetgedeckten Hauses. Irgendwo klapperte ein Fensterladen.
„Du lebst?“ Er konnte es nicht fassen, hatte sie doch eben noch blutüberströmt und regungslos dagelegen. Jetzt richtete sie sich im Bett auf und nahm im Schneidersitz vor ihm Platz. Die Laken waren zerwühlt, was aber nicht der Attacke eines Einbrechers zuzuschreiben war, sondern ihrer leidenschaftlichen Liebesnacht, die hinter ihnen lag.
„Annika, ich …“
„Ja?“ Mit fragender Miene legte sie den Kopf schräg, blies sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren.
Er benötigte einen Moment, bis er in der Realität angelangt war und registrierte, dass er die schreckliche Szene, die er eben erlebt hatte, offenbar nur geträumt hatte. Alles war so real gewesen, so grausam. Sein Herz raste, sein Mund war trocken. Er schluckte, dann rang er sich ein Lächeln ab.
„Ich glaube, ich hatte einen schrecklichen Albtraum“, stammelte er tonlos. Er starrte sie an wie einen Geist, konnte nicht glauben, dass sie lebte.
„Das glaube ich auch“, sagte sie einfühlsam, krabbelte an den Bettrand und zog ihn zu sich. „Ich lebe“, hauchte sie ihm zwischen zwei Küssen ins Ohr. „Und wie ich lebe.“ Sie schickte ihre Hände auf Wanderschaft, zog mit ihren Fingerkuppen größer werdende Kreise auf seinem Oberkörper, hauchte ihm Küsse auf die Haut und sorgte dafür, dass der Albtraum verblasste. „Was auch immer es war, ich bin lebendig, sehr lebendig sogar, und ich habe Lust auf dich.“
Er spürte, wie die Hitze in seine Lenden stieg, umarmte sie, genoss ihre Nähe und erwiderte ihre Küsse. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte ihn eine Frau derart um den Verstand gebracht, nie zuvor hatte er eine solche Leidenschaft gespürt. Es war, als hätten sie sich gesucht und gefunden, es schien, als wären sie füreinander gebaut.
Als sie ihren Kopf in seinen Schoß sinken ließ und ihn mit ihren Lippen umschloss, war der Albtraum schon fast nicht mehr greifbar. Er legte den Kopf in den Nacken und gab sich ihren Liebkosungen hin. Als sie zurück ins Laken sank und ihm fordernd das Becken entgegenstreckte, war es ihm, als hätte er diesen schrecklichen Albtraum nie zu zuvor gehabt. Es gab nur noch sie beide in dieser Nacht, es schien, als wäre die ganze Welt um sie herum versunken. Als ihrer Körper miteinander verschmolzen, hatte er längst vergessen, warum er kurz vorher aufgewacht war.
VIER
Husum, Süderstraße
„Weißt du“, sagte Petersen, als er eine Viertelstunde später in Wiebkes kleinen Fiat stieg und ihr die Adresse des Einsatzortes genannt hatte, „was mir am meisten stinkt?“ Umständlich schnallte er sich an und nahm dankbar den Thermobecher mit Kaffee entgegen, den sie ihm reichte. Wiebke beantwortete die Frage ihres Partners nicht. Sie steuerte den Panda durch die nächtlichen Straßen von Husum und ließ Petersen reden.
„Mir stinkt es, dass wir aus dem Bett geklingelt werden, die Drecksarbeit machen dürfen und nur die Vorhut für die Kollegen aus Flensburg sind.“
„Das ist nun mal unser Job“, erwiderte sie und gab ihm in Gedanken recht. Wiebke wusste, wovon ihr Partner sprach. Es würde keine zwei Stunden dauern, bis ihre Kollegen vom K 1 aus Flensburg anrollten und sich den Mordfall unter den Nagel rissen. Seitdem die Kriminalpolizei Husum und Flensburg vor Jahren fusioniert wurden, galt es, Hand in Hand zu arbeiten. „Aber wir sind schon vor Ort, und wir kennen uns hier aus.“
„Ja ja, die Ortskenntnisse.“ Petersen winkte ab, nahm einen Schluck von seinem Kaffee, verbrannte sich prompt die Lippen und fluchte ungestüm. „Dabei kennen wir unser Opfer – im Gegensatz zu den Flensburgern. Wir wissen, wer Hans Olaf Berger war und was er für Husum bedeutet hat.“
„Und wir wissen, dass er nicht überall beliebt war“, stimmte Wiebke ihm zu. Sie beobachtete im Augenwinkel, wie Jan Petersen das Smartphone aus der Tasche seiner Lederjacke zog und den Namen des Mordopfers in eine Suchmaschine eingab. Im Widerschein des Handy-Displays schimmerte sein unrasiertes Gesicht bläulich.
„Da“, sagte Petersen triumphierend und hielt das Handy hoch. „Die Mäuler hat man sich über ihn zerrissen, weil er angeblich in krumme Geschäfte verwickelt war, weil er immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht wurde und weiß der Geier was.“
„Das sind doch alles Halbwahrheiten“, entgegnete Wiebke. „Was wissen wir wirklich über Berger?“ Sie dachte einen Moment lang nach und gab sich dann selbst die Antwort. „Er war ein einflussreicher
Geschäftsmann. Ihm gehörte eine Baufirma, zahlreiche Geschäfte, und er saß im Vorstand von einem Altenheim. Ach ja, er war Geschäftsführer der Messegesellschaft, die sich vor einigen Jahren mit der Hamburger Messe um die Windkraft-Ausstellung gestritten hat.“
„Und er wurde schon öfters wegen Steuerhinterziehung angeklagt, ihm wurden wechselnde Damenbekanntschaften nachgesagt, und man munkelt von Bestechung, um Geschäfte durchsetzen zu können.“
„Nachweisen konnte ihm niemand etwas“, nickte Wiebke, die sich an die Berichte in den Husumer Nachrichten erinnerte. Sie überlegte, was sie von seinem Privatleben wusste. Viel war es allerdings nicht. „Soweit ich weiß, war Berger verheiratet, Kinder gibt es aber wohl keine“, fasste Wiebke zusammen. Sie ließ den Panda über das Kopfsteinpflaster der verlassenen Norderstraße und den Markt rollen. Der Tine-Brunnen und die Marienkirche waren angeleuchtet, der Marktplatz lag verwaist zu ihrer linken Seite.
„Da“, machte Petersen und deutete nach rechts, als sie das Einkaufszentrum auf der rechten Seite passierten. „Das würde wohl auch nicht existieren, wenn Berger nicht seine schmutzigen Hände im Spiel gehabt hätte.“
Wiebke seufzte. „Fakt ist, dass Berger seinerzeit als einer der Investoren viel Geld in das Bauvorhaben gesteckt hat. Ob da alles mit rechten Dingen zuging, weiß wohl kaum jemand.“
„Fakt ist aber auch, dass Hans Olaf Berger eine schillernde Person im Husumer Geschäftsleben war, die nicht nur Freunde hatte“, resümierte Jan Petersen und nippte an seinem Kaffee.
„Was die Suche nach dem oder den Tätern nicht gerade leichter macht“, stimmte Wiebke ihrem Partner zu.
„Meine Rede“, nickte Petersen.
„Damit können sich dann die Kollegen aus Flensburg beschäftigen“, erwiderte Wiebke. Fast war sie ein wenig erleichtert darüber, denn sicherlich würde niemand aus Bergers Dunstkreis erfreut sein, wenn die Polizei unbequeme Fragen stellte. Einflussreiche Menschen konnten sich die besten Anwälte leisten, die den Ermittlern die Arbeit unnötig erschwerten.
Wiebke bog kurz, nachdem die Schobüller Straße zur Nordseestraße wurde, nach links in einen schmalen Weg ab. Als der kleine Fiat durch ein Schlagloch rumpelte, rutschte Petersen das Smartphone aus der Hand. Fluchend bückte er sich in den Fußraum, um nach dem Handy zu suchen. „Verdammt – wo wohnt Berger denn hier? Das ist ja voll in der Pampa“, bemerkte er.
Wiebke musste grinsen. „Fast so, als müsse er sich in seiner Freizeit verstecken.“ Jetzt verlief der Westerweg fast schnurgerade auf die Salzwiesen zu. Den Einsatz-
ort sahen sie von Weitem. Das Blaulicht der Streifenwagen zuckte gespenstisch durch die Nacht. Am Ende der Straße hielt sich Wiebke links. Die Straße wurde schmaler und führte parallel an der Salzwiese entlang. Einzelne Häuser und ein heruntergekommener Bauernhof, weiter hinten reetgedeckte Häuschen mit Backsteinfassaden.