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Das Haus der Bergers befand sich auf der linken Seite. Es strahlte auf den ersten Blick schon den Reichtum und die Macht seines Besitzers aus. In der Einfahrt standen zwei Rettungswagen, ein Streifenwagen und der Sprinter der Kriminaltechnik. Trotz der nachtschlafenden Stunde hatten sich zahlreiche Schaulustige am Absperrband versammelt. Es hatten sich Gruppen gebildet, die in teils heftige Diskussionen verwickelt waren. Einige hielten ihre Smartphones hoch, um zu fotografieren und zu filmen.
„Ich kotz gleich im Kreis“, brummte Petersen.
Wiebke spürte auch eine gewisse Abneigung gegen die Gaffer. „Das ist unsere schöne multimediale Zeit“, versuchte sie, sich diplomatisch auszudrücken.
„Da ist der Mord an Berger schon auf YouTube, bevor wir die ersten Zeugen befragen können“, ächzte Petersen kopfschüttelnd.
„Die Kollegen vom Streifendienst halten die Gaffer ja schon auf Distanz.“
„Platzverweise sollten sie erteilen, damit wir in Ruhe unsere Arbeit machen können“, maulte Petersen. Wiebke gab ihm in Gedanken recht. Sie griff nach dem Thermobecher mit dem Tee, dann stiegen sie aus. Wiebke fröstelte, als der kühle Nordseewind ihr ins Gesicht wehte. Sie schlug den Kragen ihrer gesteppten Jacke hoch und zog den Reißverschluss zu. Zwei Kollegen vom Streifendienst hielten an der Absperrlinie Stellung. Die Schaulustigen tuschelten leise, als sich Wiebke und Petersen einen Weg durch die Menge bahnten.
„Moin“, sagte Wiebke und nahm einen Schluck Tee. Der Honig schmeichelte ihrem Hals. Der Polizist, der ihnen am nächsten stand, nickte ihnen zu. Wiebke kannte den uniformierten Kollegen flüchtig. Jens Carstensen, ein strohblonder, hagerer Typ mit wachen blauen Augen. Wiebke registrierte mit einem einzigen Blick, dass der Kollege ihm viel zu ausgeschlafen erschien. Sie schmunzelte. „Und?“
Der Kollege vom Streifendienst winkte Wiebke und Petersen über das Absperrband außerhalb der Hörweite aller Schaulustigen. „Warum ihr hier seid, wisst ihr ja“, erklärte er. „Attentat auf Hans Olaf Berger. Er hat am Fenster gestanden, als ihn der tödliche Schuss traf, stürzte in die Tiefe und war sofort tot.“
Wiebke folgte seinem Blick. Unter dem großen Fenster glitzerten Scherben. Eine Gestalt lag darunter in einem Meer aus Glassplittern und Scherben. Arme und Beine standen in verrenkter Haltung vom Körper ab. Man hatte eine dunkle Folie über dem Leichnam ausgebreitet.
„Warum steht man mitten in der Nacht am Fenster?“, brummte Petersen und kratzte sich am Hinterkopf.
„Womöglich, weil der Hund angeschlagen hat“, erklärte Carstensen. „Das haben Nachbarn berichtet: Erst das Hundegebell, dann der Schuss und das Klirren der großen Fensterscheibe und dann der Schrei einer Frau.“
„Also gibt es eine Zeugin?“ Wiebke warf Petersen einen schnellen Blick zu.
„Ja, Berger war wohl nicht alleine zum Zeitpunkt des Attentates.“
„Seine Frau muss unter Schock stehen“, vermutete Wiebke.
Carstensen schüttelte mit säuerlicher Miene den Kopf. „Nee, die wird wohl eher vor Wut schäumen, wenn sie davon erfährt. Es war die Geliebte von Hans Olaf Berger, die mit ansehen musste, wie ihr Lover erschossen wurde. Eine gewisse Annika Rüther.“
„Sieh einer an“, bemerkte Petersen. „Vielleicht war es sogar die gehörnte Ehefrau, die sich so rächen wollte.“
„Das herauszufinden ist euer Part, Kollegen“, grinste der Streifenpolizist.
„Das werden wir tun, worauf du dich verlassen kannst“, nickte Petersen. Er wandte sich Wiebke zu. „Dann mal los, lass uns mal nach dem Rechten schauen.“
Wiebke zögerte. „Wie geht es der Geliebten von Berger?“, fragte sie.
„Annika Rüther hat Schnittwunden an den Füßen, weil sie wohl barfuß in den Scherben gestanden hat. Prellungen an Knien und Ellbogen, weil sie sich mit einem Satz nach hinten in Sicherheit bringen wollte. Und sie steht natürlich unter Schock, wird vom Notarzt und Seelsorger im RTW versorgt.“ Der junge Polizist zeigte auf einen der beiden Rettungswagen. Wiebke schaute an Carstensen vorbei und ließ die Szenerie auf sich wirken. Eine mannshohe, blickdichte Hecke schützte die Hausbesitzer vor neugierigen Blicken. Nur durch das offen stehende Tor konnte man vom Weg aus einen Blick vom großzügig angelegten Grundstück der Bergers erhaschen. Der Rasen war penibel kurz geschoren, eine breite, gepflasterte Einfahrt führte vom Tor aus vor das Portal. Das Haus von Hans Olaf Berger war zweigeschossig. Der modern anmutende Bau wurde von großen Fensterflächen beherrscht. Vor dem Eingang gab es ein Vordach, das von zwei massiven Steinsäulen gestützt wurde. Darüber befand sich eine Art Balkon, daneben eine große Fensterfront, die zerstört worden war. Der Wind verfing sich in den bodentiefen Vorhängen. Im Haus selber brannte trügerisch anheimelndes, dezentes Licht. Wiebke vermutete, dass man von dort aus über die Salzwiesen auf das Meer blicken konnte.
„Zeugen?“, fragte sie, ohne sich von dem Anblick loszureißen.
„Indirekt“, antwortete Carstensen. „Barbara Gerlach bewohnt eines der benachbarten Ferienhäuser. Gesehen hat sie wohl nichts, aber sie wurde vom Lärm geweckt, als das große Fenster zu Bruch ging.“
„Kein Auto, das sich mit hohem Tempo entfernt hat, nichts?“, versuchte es Petersen.
„Nein, absolut nichts Auffälliges.“ Carstensen schüttelte den Kopf. „Womöglich befindet sich der Schütze noch in der Nähe.“
„Wir sollten einen Heli kommen lassen“, schlug Petersen vor.
„Schon dabei.“ Wiebke zückte das Handy und forderte einen Hubschrauber an, der die Gegend mit einer Wärmebildkamera absuchte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Täter so auf der Flucht gestellt wurde. „Und wir brauchen Verstärkung, die sich um die Anwohner kümmert“, sagte sie an Carstensen gewandt.
„Das habe ich bereits veranlasst, Kollegen. Müsste jeden Moment eintreffen.“
„Sehr gut“, lobte Wiebke. „Dann würde ich jetzt gern ins Haus.“
„Sprich das mit Piet ab, dazu kann ich euch nichts sagen.“
„Wird gemacht.“ Wiebke nickte Petersen zu. Seite an Seite marschierten sie die Auffahrt zum Haus hinauf. Sie ließen Carstensen zurück. Wiebke erhoffte sich einen vorläufigen Bericht von dem schrulligen Kriminaltechniker, fürchtete aber, dass er noch nicht viel zum Geschehen sagen konnte.
„Piet wird sich bedanken, wenn wir ihm jetzt schon auf den Sack gehen“, raunte Petersen und sprach Wiebkes Gedanken aus.
„Da muss er durch, fürchte ich.“ Sie hatte zuerst die offen stehende Haustür erreicht, Petersen stand einen Schritt hinter ihr und überließ ihr den Vortritt. Wiebke blieb an der Schwelle stehen und rief nach Piet Johannsen, dem Leiter der Husumer Kriminaltechnik.
„Wer stört?“, ertönte eine dumpfe Stimme aus dem Obergeschoss.
„Sabbel nich‘, trau dich runter“, rief Petersen nach oben. Einen Moment später kam Johannsen die Treppe herunter. Er trug einen weißen, faserfreien Overall.
„Ausgeschlafen?“
„Abgebrochen.“ Wiebke hatte keine Lust auf Sprüche. „Hast du schon was für uns?“
„Zwei Weingläser, eine fast geleerte Pulle Rotwein, eine verrammelte Wolldecke auf dem Sofa und unzählige Scherben.“
Wiebke hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Dürfen wir trotzdem gucken? Ich würde mir gern einen Überblick vom Tatort verschaffen.“
„Wenn ihr auf dem Trampelpfad bleibt und nichts anfasst.“
„Wie lange sind wir bei dem Trachtenverein, für wie blöd hältst du uns, Piet?“ Petersen hob eine Augenbraue.
„Kommt schon, damit ich weitermachen kann.“ Johannsen gab ihnen ein Zeichen. Sie folgten ihm in den quadratischen Flur des Hauses. Wiebke fiel der kühle Einrichtungsstil sofort auf. Die typischen Dekoelemente anderer Wohnhäuser gab es hier nicht – keine Buddelschiffe auf der Fensterbank, keine hölzernen Möwen und keine großen Bilder mit Leuchttürmen, nichts. Stattdessen neben der Tür und an der Treppe ins Obergeschoss übergroße Gemälde mit abstrakten Motiven, die Wiebke nicht zuordnen konnte. Sie war keine Kunstkennerin, konnte einen farbenfrohen Kandinsky kaum von den Werken eines Marc Chagall unterscheiden. Kurz schloss sie die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. Es roch nach Reinigungsmitteln.
„Hier – anziehen bitte.“ Johannsen war vor einer Alukiste in die Hocke gegangen und fischte zwei Einmalanzüge, Handschuhe und Überzieher für die Schuhe heraus. Beides hielt er Petersen und Wiebke hin.
„Muss das sein?“, maulte Petersen.
Anstelle einer Antwort stöhnte Piet Johannsen gequält auf.
Petersen zwängte sich umständlich in den Overall. Wiebke konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nachdem sie in die dünnen Overalls geschlüpft waren und die Überzieher über den Schuhen trugen, folgten sie Johannsen über die breite Treppe in das Obergeschoss des luxuriösen Hauses.
Der kühle Einrichtungsstil aus dem Erdgeschoss setzte sich hier oben fort. Berger schien die kühle Eleganz geschätzt zu haben. Wiebke stellte die Wertigkeit der Einrichtung nicht infrage, war aber sicher, dass sie sich in diesem Haus niemals hätte wohlfühlen können. Für ihren Geschmack durfte die Einrichtung etwas wohnlicher sein. Aufmerksam blickte sie sich um und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Seite an Seite stand sie mit Johannsen und Jan Petersen an der Schwelle zu einem Wohnraum, der fast so groß war wie ihre ganze Wohnung im beschaulichen Ostenfeld.
„Leck mich fett, muss der Kohle gehabt haben“, tuschelte Petersen sichtlich beeindruckt. „Das ist mal ’ne Stube.“
„Stube?“ Johannsen lachte. „Du untertreibst, Jan.“
Wiebke blendete das Geplänkel ihrer Kollegen aus. Ihr Blick schweifte über die Einrichtung. Es gab ein Bücherregal, eine unfassbar große Wohnlandschaft, auf der sich unzählige Kissen und eine zerwühlte Wolldecke befanden. Davor ein niedriger Tisch, auf dem ein Kerzenhalter stand, zwei Gläser und die Flasche Wein, die Johannsen schon erwähnt hatte. Ein kleines Sideboard und an der Wand ein Flatscreen, der zu WM-Zeiten als Public-Viewing-tauglich durchgegangen wäre. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, die davon zeugten, dass sich die beiden vor dem Attentat vergnügt hatten.
Ein leises, metallisches Klackern lenkte Wiebkes Aufmerksamkeit auf die große Fensterfront. Scherben, soweit das Auge reichte, bedeckten den Parkettboden. Der Wind der nahen See wehte in den Raum, verfing sich in den Vorhängen und erzeugte ein leises Klackern. Wiebke war versucht, den Raum zu durchschreiten, an das Fenster zu treten, um einen Blick in die Tiefe zu wagen. Etwas hielt sie ab.
So schloss sie die Augen und versuchte, sich vorzustellen, was kurz vor dem Attentat hier geschehen war.
Ein Schäferstündchen zwischen Berger und seiner Geliebten. Wahrscheinlich in aller Heimlichkeit. Wiebke fragte sich, ob Bergers Frau wusste, dass er sich die Zeit mit einer anderen vertrieb. Hier, in ihrem Haus, in ihrem Refugium. Kurz dachte Wiebke an ihre eigene Beziehung. Sie wusste auch nicht, was Eike tat, wenn er mit der Band durch die Republik tourte. Sekundenlang legte sich ein schwerer Bleigürtel um ihre Brust. Wiebke atmete tief durch, verdrängte die privaten Sorgen um Eike und nahm einmal mehr den Duft nach chemischen Reinigungsmitteln wahr.
Sie stellte sich vor, wie die beiden gestört worden waren. Was hatte die Zweisamkeit gestört?
Hatte der Täter geklingelt? Hatte er sich an die Einfahrt gestellt und gerufen, bevor der Hund angeschlagen hatte?
Berger war, von der Störung verunsichert, aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen. Natürlich hatte er wegen des Seitensprungs mit Annika Rüther ein schlechtes Gewissen. Womöglich hatte er befürchtet, dass seine Ehefrau früher als erwartet heimkehrte, um ihn hier in flagranti zu erwischen.
Vielleicht konnte ihnen die Zeugin dazu später mehr berichten. Ich werde es herausfinden.
Wiebke legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Es war, als würde sie die tragische Geschichte des Hauses inhalieren.
Das Auftauchen von Hans Olaf Berger am Fenster des hell erleuchteten Wohnzimmers hier oben war für den Schützen die Gelegenheit gewesen, sein Opfer mit einem einzigen Schuss aus dem Verkehr zu ziehen. So eine Gelegenheit bot sich einem potenziellen Mörder kein zweites Mal.
Oder hatte es zum Plan gehört, dass Berger sich an der großen Fensterfront zeigte und sich dem Schützen wie auf dem Silbertablett servierte?
Fest stand, dass das Opfer seinen Peiniger im Dunkel der Nacht nicht hatte sehen können. Wiebke stellte sich vor, wie in der Dunkelheit das Mündungsfeuer aufblitzte, im nächsten Augenblick die Scheibe zerstört wurde und die Patrone Berger traf.
Ein einziger Schuss, der Bergers Schicksal besiegelt hatte. Das Klirren der großen Scheibe musste die ganze Nachbarschaft geweckt haben. Wie also konnte der Schütze dann unerkannt entkommen?
Ein Fahrzeug, das sich schnell vom Tatort entfernte, hätte von Nachbarn gesehen werden müssen. Oder war der Schütze zu Fuß gekommen – und versteckte sich noch in den Weiten der Salzwiesen? Wiebke hoffte, dass der Hubschrauber bald hier war, um die Gegend abzusuchen.
„Träumst du?“, riss Petersens Stimme sie aus den Gedanken.
Wiebke schlug die Augen auf und rang sich ein Lächeln ab. Dass ihr dabei das Blut ins Gesicht schoss, ließ sich nicht vermeiden. „Nein“, sagte sie. „Ich habe meditiert.“
„Mach ich auch immer so, wenn ich einen Mörder suche“, behauptete Petersen bierernst und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Mal im Ernst, Wiebke: Ich glaube nicht an diesen esoterischen Scheiß.“
„Ich hab auch nur nachgedacht, mir vorgestellt, wie es passiert sein könnte“, verteidigte sich Wiebke. Ihr Partner kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich gern in einen neuen Fall „einfühlte“, wie sie das nannte.
„Hier hat er wohl gestanden“, mischte sich jetzt Piet Johannsen ein. Er stand an der Fensterfront und blickte sich zu den Kollegen um. „Seine Freundin anderthalb, vielleicht zwei Meter versetzt schräg hinter ihm. Ich könnte mir vorstellen, dass der Schütze sie gesehen hat.“
„Und dann hat er nur ein einziges Mal geschossen?“, zweifelte Petersen. „Sie ist doch eine Zeugin und könnte uns die Hinweise liefern, die ihn zu Fall bringen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie auch zu töten.“
„Jo, schon. Auf der anderen Seite …“ Johannsen winkte Petersen zu sich. Zögernd durchschritt er den Raum. Bei jedem Schritt knirschten Glassplitter unter seinen Schuhen. „Guck mal raus, du Meisterschnüffler.“ Johannsen machte eine ausladende Geste.
Jan Petersen blickte in die Nacht und runzelte die Stirn.
„Ich sehe Krankenwagen, Peterwagen, Gaffer mit Smartphones …“
„Weil die Kameraden vom Technischen Hilfswerk gerade eingetroffen sind und Scheinwerfer aufgestellt haben.“
„Sicher.“
„Kann man das abstellen?“, fragte Wiebke und trat neben die Männer. Der Nachtwind kühlte ihre erhitzte Stirn.
Johannsen betrachtete sie mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck. „Wozu soll das gut sein?“
„Ich will es so sehen, wie es Berger vor seinem Tod gesehen hat“, erwiderte Wiebke.
„Tu, was sie sagt“, brummte Petersen.
„Ich fass es nicht.“ Piet Johannsen zückte ein Funkgerät „Macht mal alles aus“, sprach er hinein. Es dauerte keine zwei Sekunden, und die leistungsstarken Scheinwerfer vor dem Haus erloschen. Gleichzeitig herrschte draußen eine gespenstische Stille, die nur vom Rattern der Stromaggregate überlagert wurde.
„Und nu?“, fragte Petersen.
„Sei leise“, bat Wiebke ihn. Sie blickte hinaus in die Nacht. Das Grundstück tauchte ins Schwarz ab, die Salzwiesen ließen sich nur erahnen, in der Ferne glaubte sie das Meer im schwachen Mondlicht glitzern zu sehen.
„Du siehst nichts da draußen“, murmelte Wiebke.
„Ist ja auch dunkel wie im Bärenarsch.“
„Manchmal bist du echt anstrengend, Jan.“ Wiebke betrachtete ihren Partner mit vorwurfsvollem Blick. „Guck selber raus – wenn da einer steht und eine Kanone auf dich hält, den siehst du nicht!“
Petersen folgte ihrer ausgestreckten Hand und zog die Mundwinkel nach unten. „Nee, da muss sich der Typ nicht großartig verstecken.“
„Die Aufzeichnung der Überwachungskameras habt ihr morgen früh auf dem Schreibtisch“, mischte sich Johannsen ein.
„Wann?“ Petersen blickte sich mit erhobener Augenbraue zu ihm um.
„In drei, vier Stunden“, verbesserte sich der Kriminaltechniker schnell. „Die Festplatte mit den Aufzeichnungen habe ich schon sichergestellt.“
„So ist’s brav“, grinste Petersen. „Also“, sagte er dann zu Wiebke. „Worauf willst du hinaus, Mädchen?“
„Dass der Schütze keine Angst haben musste, erkannt zu werden. Es war dunkel, als er geschossen hat. Und ich bin mir sicher, dass er es ausschließlich auf Hans Olaf Berger abgesehen hatte.“
„Und?“
„Nichts – und. Das ist Stand der Dinge. Berger war das gesuchte – und gefundene – Opfer. Der Killer kam, tötete ihn und verschwand in der Nacht.“
„Also ein Auftragskiller?“
„Möglich.“
„Meinst du, der Mord an der Frau neben ihm hätte extra gekostet?“
„Kann doch sein.“
„Gut“, nickte Petersen. „Also gehen wir davon aus, dass der Mörder Berger aus dem Weg räumen sollte. Möglicherweise also ein Motiv aus dem bewegten Geschäftsleben unseres Opfers, das ja, wie wir wissen, nicht nur Freunde hatte.“
„Oder ein Mord, der von einer enttäuschten Ehefrau in Auftrag gegeben wurde.“
„Mord aus Eifersucht – gefällt mir“, grinste Petersen. „Immerhin ist das eines der häufigsten Mordmotive.“
„Ich bin sicher, ihr werdet es herausfinden“, behauptete Johannsen. „Jetzt würde ich aber gern weitermachen.“
„Klar, wir sind schon weg“, nickte Wiebke. Sie gab Petersen das Zeichen zum Rückzug. Die Zeit drängte.
*
Eine knappe Stunde vorher
Er hatte es nicht sonderlich eilig. Nachdem er den Schuss abgegeben hatte, war die große Fensterscheibe im Obergeschoss in tausend Stücke gesprungen. Er hatte sein Ziel getroffen – Berger war, von der Kugel getroffen, strauchelnd nach vorn und durch die zerborstene Scheibe in die Tiefe gestürzt, wo er regungslos liegengeblieben war.
Treffer versenkt.
Ein Arschloch weniger auf dieser Welt.
Eigentlich war alles gut gelaufen, wäre da nicht ihr gellender Schrei gewesen, den sie in Todesangst ausgestoßen hatte. Dieser Schrei hatte ihn kurz zweifeln lassen, ob alles richtig gewesen war. Doch nachdem er den toten Berger in seinem Blut und dem Meer aus winzigen Scherben hatte liegen sehen, wusste er, dass alles richtig gelaufen war.
Sekundenlang hatte er sie am Fenster stehen sehen, beide Hände vor das Gesicht gepresst. Wohl erst im zweiten Moment war sie sich darüber klar geworden, dass er sie sehen konnte. Einmal die Waffe ansetzen, den Abzug durchziehen, und – bäng, wäre es auch für sie vorbei gewesen. Doch das hatte er nicht vor. Trotzdem hatte er sie dabei beobachtet, wie sie sich schnell in Sicherheit brachte. Weinend suchte sie Schutz im hinteren Teil des Hauses. Wahrscheinlich, so dachte er sich, würde sie jetzt die Bullen rufen.
Höchste Zeit, sich vom Acker zu machen.
Ohne Hast ließ er die Pistole in seiner Jackentasche verschwinden. Der Lauf war noch warm. Sorgfältig zog er den Reißverschluss zu, dann wandte er sich um, duckte sich in die Dunkelheit und sah zu, dass er verschwand.
Gerade rechtzeitig, denn jetzt gingen in den umliegenden Häusern die Lichter an. Kein Wunder, der Schuss, das Klirren der großen Scheibe und ihr markerschütternder Schrei hatten alle Nachbarn aus dem Schlaf gerissen. Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen wandte er sich ab und lief los, bevor hier das Chaos ausbrach.
*
Annika Rüther war kreidebleich. Obwohl sie ihre feingliedrigen Hände im Schoß gefaltet hatte, zitterten sie. Das blonde Haar fiel ihr strähnig ins Gesicht. Ihr Make-
up war verwischt. Unter der Decke, die ihr der Sanitäter im Rettungswagen über die Schultern gelegt hatte, blitzte der spitzenbesetzte Ansatz eines weißen Negligees hervor.
Erst als Wiebke die Schiebetür des Rettungswagens hinter sich zuzog, erwachte die Frau aus ihrer Lethargie und betrachtete die Polizisten mit starrem Blick.
„Frau Rüther?“, fragte Wiebke leise und setzte ein freundliches Lächeln auf.
Anstelle einer Antwort erhielt sie ein stummes Nicken.
„Mein Name ist Ulbricht, Wiebke Ulbricht, von der Kripo in Husum.“ Sie legte eine Pause ein und achtete auf jede Regung im Gesicht ihres Gegenübers. Wiebke war klar, dass die Frau Schreckliches erlebt hatte. Sie gab ihr die nötige Zeit, über das Erlebte zu reden.
„Sie wollen wissen, was passiert ist?“ Annika Rüthers Stimme klang tränenerstickt.
Wiebke nickte. „Wie haben Sie es erlebt?“
„Wir hatten es uns auf dem Sofa gemütlich gemacht, Olaf und ich. Kerzenschein, eine Flasche Wein. Zu zwei die Nacht zum Tag gemacht, wenn Sie verstehen?“
„Ja, ich verstehe.“ Wiebke konnte sich bildhaft vorstellen, warum die beiden nicht geschlafen hatten, als der Schütze aufgetaucht war. Sie betrachtete Annika Rüther so unauffällig wie möglich. Die Geliebte von Hans Olaf Berger war hübsch, Wiebke schätzte sie auf Mitte dreißig. Ihre Augen waren strahlend blau, die Lippen voll und geschwungen. Die Nase war gerade und nicht zu groß, wenn sie den Mund verzog, bildeten sich Grübchen auf ihren Wangen. Kein Zweifel – Annika Rüther war eine hübsche Frau.
„Wir waren alleine und haben den Abend und die Nacht genossen.“
„Weiß Frau Berger, dass Sie …“
„Dass wir eine Affäre haben?“ Ihr Kopf ruckte hoch. Sekundenlang schien Annika Rüther durch Wiebke hindurchschauen zu können. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. „Er hat behauptet, dass sie es weiß. Seine Ehe mit Karen bestand angeblich nur noch auf dem Papier.“
„Warum hat er sich dann nicht – Ihnen zuliebe – von ihr scheiden lassen?“, wagte Wiebke einen Vorstoß.
„Was wissen Sie schon … es geht bei Olaf um Geld, um sehr viel Geld. Er ist … er war ein einflussreicher Mann in Nordfriesland. Karen immer die Frau an seiner Seite, jedenfalls offiziell. Jeder Fleck auf seiner weißen Weste wäre fatal gewesen. Keine Ahnung, warum er sich nicht hat von ihr scheiden lassen. Fest steht, dass es vieles einfacher gemacht hätte.“
„Ist es nicht riskant, sich im Haus eines verheirateten Mannes blicken zu lassen, um die Nacht mit ihm zu verbringen?“, fragte Wiebke provokant.
„Ach“, Annika Rüther machte eine wegwerfende Handbewegung. „Karen hat doch selber einen Stecher.“ Sie lachte humorlos auf. „Wissen Sie, wenn man so lange verheiratet ist wie die beiden, dann toleriert man einiges.“
„Ist das so?“
„Natürlich. Es läuft nichts mehr zwischen den beiden. Sie suchen sich außerhalb der Ehe das, was sie vermissen.“
Wiebke versuchte, sich auf den Mord zu konzentrieren. „Was ist heute Nacht geschehen?“
„Wir waren oben im Wohnraum, sind wohl eingeschlafen auf dem Sofa, nachdem wir miteinander geschlafen hatten.“
Wiebke schwieg und ließ Annika Rüther reden.
„Plötzlich wachten wir auf – der Hund im Zwinger hatte angeschlagen. Tagsüber bewegt er sich frei auf dem Gelände, nachts bringt Olaf ihn in den Zwinger. Der Hund hat wie gesagt angeschlagen. Olaf ging zum Fenster, um nachzusehen, ob sich Einbrecher auf dem Gelände befinden. Ich stand gleich neben ihm, als der Schuss die Scheibe zerstörte und Olaf mit einem Schrei nach draußen fiel. Es ging alles so schnell.“ Annika Rüther brach ab, barg das Gesicht in den Händen und schluchzte. „Ich stand direkt neben Olaf und konnte ihm nicht helfen. Das Fenster ging zu Bruch, Olaf stürzte, und ich habe einen Moment gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich im Fadenkreuz des Schützen befand. Ich habe mich dann fallen lassen, hab mir ein paar Schnittwunden zugezogen und bin nach hinten ins Haus gerobbt. Von dort aus habe ich die Polizei angerufen.“
„Haben Sie etwas gesehen, als Sie neben Herrn Berger standen, bevor geschossen wurde?“
„Nein, nichts. Es war stockfinster. Nicht einmal das Mündungsfeuer habe ich gesehen.“
Ein Schalldämpfer, durchzuckte es Wiebke. Er hat einen Schalldämpfer benutzt. Eigentlich sinnlos, bei dem lauten Klirren des Fensters.
„Haben Sie jemanden gesehen, der flüchtete?“
„Sie hören mir nicht zu, Frau Ulbricht.“ Jetzt hatte Annika Rüthers Stimme einen schneidenden Unterton bekommen. „Ich sagte doch, dass ich nichts, aber auch gar nichts gesehen habe.“