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„Danke.“ Wiebke erhob sich von dem Hocker, auf dem sie gesessen hatte. Sie überreichte der Frau eine Visitenkarte. „Hier“, sagte sie. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, kontaktieren Sie mich.“ Wiebke verließ den Rettungswagen und stand im nächsten Moment im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Kurz war sie geblendet, dann sah sie ihren Partner, der gerade mit einer älteren Frau sprach. Als Petersen sie sah, verabschiedete er sich von der Frau und kam zu Wiebke.
„Wer war das?“, fragte sie.
„Das war Barbara Gerlach. Sie hat uns gerufen, nachdem seltsame Geräusche ihre Nachtruhe gestört haben. Erst hat wohl der Wachhund der Bergers Lärm gemacht, dann ein Knall und das Klirren von Glas, gefolgt von einem Schrei.“
„Moment“, sagte Wiebke und massierte sich die Schläfen. „Die Geliebte des Toten sagte, sie hätte uns alarmiert.“
„Ich kenne auch die Version, dass Barbara Gerlach den Notruf abgesetzt hat“, stimmte Petersen ihr zu. „Aber das lässt sich klären. Carstensen hat schon die Kontaktdaten der Zeugen notiert.“
„Gut.“ Wiebke schaute auf, als ein ziviler Dienstwagen aus Flensburg vorfuhr. Hauke Jensen, der Leiter des Flensburger K 1, stieg aus und nickte den beiden zu.
„Moin“, sagte er. Trotz früher Stunde wirkte Jensen wie aus dem Ei gepellt. Sein Anzug saß perfekt, sogar die dunkelblaue Krawatte korrespondierte mit der Farbe des Hemdes. Eine feine Duftwolke von seinem Aftershave umgab ihn. „Und?“
Wiebke und Petersen brachten ihn mit wenigen Sätzen über das Geschehene auf Stand. Hauke Jensen hörte aufmerksam zu und unterbrach Wiebke kein einziges Mal. Erst als sie ihre Ausführungen beendet hatte, räusperte er sich.
„Kollegen“, sagte er gedehnt, „es sieht aus, als hätten wir es mit einem sehr komplexen Fall zu tun – der Bekanntheitsgrad des Opfers spricht für sich. Wir werden die nächsten Tage wohl bei euch in Husum verbringen.“ Jetzt rang er sich ein schmallippiges Lächeln ab. „Ich nehme an, unsere Büros sind geheizt?“
„Nicht nur das“, grinste Petersen. Wiebke stellte erleichtert fest, dass sich sein Argwohn gegen die Kollegen aus Flensburg in Luft aufgelöst hatte. „Wir haben sogar eine neue Kaffeemaschine – falls es mal länger dauert.“
Hauke Jensen wollte eben etwas erwidern, als sich das Geräusch von Rotorblättern aus der Luft näherte. Sie legten die Köpfe in den Nacken und sahen den Helikopter, der mit eingeschalteten Suchscheinwerfern über dem Anwesen der Bergers kreiste.
„Wer hat den denn gerufen?“, wunderte sich Jensen.
„Ich war das“, sagte Wiebke. Ihre Befürchtung, dass sie dem Leiter der Kripo weitere unbequeme Fragen beantworten musste, zerschlug sich, als ihr Handy klingelte. Der Pilot des Helikopters wartete auf Anweisungen.
FÜNF
Wenningstedt, in der Vergangenheit
„Ich will ein Kind von dir.“ Sie lächelte ihn verliebt an und ließ ihre Fingerkuppen sanft über seine Brust kreisen.
Er erschauderte, dann schlug er die Augen auf. „Was?“
„Ich will ein Kind von dir“, wiederholte sie sanft.
Hastig richtete er sich im Bett auf. „Wie stellst du dir das vor?“
Jetzt musste sie lachen. „Du weißt ganz genau, wie das geht.“
„Das meine ich nicht.“ Er teilte ihren Humor nicht. „Was soll das heißen, du willst ein Kind von mir?“
„Was genau verstehst du nicht daran?“
Sekundenlang herrschte Stille im halbdunklen Schlafzimmer, nur der Sturm brauste noch immer ums Haus. Die nahe See zeigte sich heute von ihrer unwirtlichen Seite. Er wandte den Kopf ab und schaute zum Fenster. Die dunkelblauen Vorhänge standen offen. Der Wind trieb schwere Wolkenberge über den Nachthimmel über Sylt. Doch er hatte keine Augen für die wilden Schönheiten der Natur. Gedanken schossen ungeordnet durch seinen Kopf. Wie gern hätte er ihr diesen Wunsch erfüllt … Sie war seine Traumfrau, die Person, an deren Seite er alt werden wollte. Solange sie an seiner Seite war, würde er ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Nur diesen einen Wunsch, der offenbar schon seit Tagen ihr Denken beherrschte … wie sollte er ihn umsetzen?
„Ich denke, wir wären gute Eltern“, flüsterte sie und lehnte sich an seine Schulter. Wie gern hätte er jetzt den Arm um sie gelegt, ihre Nähe gespürt, um sich ihr zu erklären. Doch er wagte es nicht, sie zu berühren, nicht jetzt. Keinen einzigen Ton brachte er über die Lippen. Er riss sich vom Blick aus dem Fenster los und stierte sekundenlang ins Leere.
„Warum sagst du nichts?“, riss ihn ihre sanfte Stimme aus den Überlegungen.
„Ich … ich weiß nicht“, antwortete er tonlos.
„Aber wir wollen doch heiraten, irgendwann“, sagte sie, und es klang fast verzweifelt, als sie fortfuhr: „Dazu gehört doch auch ein Kind. Ein Baby würde unser Glück vollkommen machen.“ Sie löste sich von ihm und schaute ihm tief in die Augen.
„Ja“, antwortete er nur, und er schalt sich einen Narren, sich nicht zu ihrem Wunsch zu äußern. Stattdessen schlug er die Bettdecke fort und erhob sich aus dem Bett. Gleich würde die Sonne aufgehen. Er musste aufs Festland, um dort einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Vielleicht fand er auf der Autofahrt ein wenig Zeit, um sich Gedanken über ihren Wunsch zu machen. Als er in den flauschigen Morgenmantel schlüpfte, um sich in die Küche zu begeben, sah er, dass Tränen in ihren Augen standen.
Schweigend verließ er das Schlafzimmer.
SECHS
Im Morgengrauen erreichte er Glücksburg. Hier, an der Ostseeküste, würde man nicht nach ihm suchen. In Ruhe konnte er den Tag hier beginnen, um die nächsten Schritte zu planen. Es fühlte sich gut an, endlich begonnen zu haben. Mit entspannten Gesichtszügen ließ er den Wagen durch die menschenleeren Straßen rollen. Ruhig lagen seine Hände auf dem Lenkrad, er hatte das Fenster einen Spalt breit geöffnet und genoss die frische Morgenluft, die in den Wagen wehte. Aus dem Autoradio erklang leise Musik. Sämtliche Radiosender, Radio RSH, der NDR und sogar Delta Radio hatten in den Nachrichten vom grausamen Mord an dem berühmten Unternehmer Hans Olaf Berger berichtet.
Für ihn fühlte es sich seltsam an. Irgendwie war er nicht stolz auf das, was er getan hatte. Und trotzdem konnte er mit dem Ergebnis zufrieden sein. Er hatte ein Zeichen gesetzt, das in ganz Schleswig-Holstein Gesprächsthema war. Und er war sicher, dass sich die Polizei im ganzen Land mit dem kaltblütigen Mord an Berger beschäftigte. Auch das spielte ihm in die Karten, denn so konnte er mit seiner eigentlichen Mission beginnen. Die Polizisten hatten anderes zu tun, als sich weiter um ihn zu kümmern.
Hinter Schleswig hatte er auf einem Parkplatz angehalten und die Nachrichten online gecheckt. Auch in den sozialen Netzwerken war der Tod von Hans Olaf Berger die Meldung, die alle bewegte. In der Facebook-Gruppe „Nordfriesland on Facebook“ war ein wahrer Shitstorm über den fragwürdigen Millionär losgebrochen. Alle Menschen, die irgendwann einmal mit Berger zu tun gehabt hatten, posteten mehr oder weniger sinnfreie Kommentare. Selten wurde ein gutes Haar an dem Mordopfer gelassen.
Jetzt war es höchste Zeit, die Knarre verschwinden zu lassen. Sie hatte ausgedient. Als linkerhand das Glücksburger Wasserschloss lag, atmete er auf. Stimmungsvoll war das strahlend weiße Gemäuer angeleuchtet. Die markante Fassade des geschichtsträchtigen Gebäudes spiegelte sich auf der Wasseroberfläche des Schlossteichs. Für ihn war es ein Etappenziel, nicht mehr und nicht weniger. Sein Weg führte ihn weiter in nordöstliche Richtung.
Die Straßen wurden schmaler und kurvenreicher, immer wieder musste er die Geschwindigkeit drosseln. In gemächlichem Tempo rollte er durch eine verwunschene Landschaft. Nebelschwaden waberten über die Felder und durch die Wälder. Umrisse von Scheunen und kleineren Häusern verwischten im grauen Dunst, der von der Ostsee ins Landesinnere kroch.
Er steuerte den Wagen weiter auf die Halbinsel Holnis. Dies war ein guter Ort für sein Vorhaben. Um diese Zeit einsam und verlassen. Zeugen konnte er keine gebrauchen.
Nachdem er den Wagen auf dem großen Parkplatz unweit des Fährhauses abgestellt hatte, stieg er aus. Die Luft hier oben roch salzig, und wenn er den Kopf lauschend schräglegte, glaubte er, das Rauschen der Ostseewellen zu hören.
Er blieb neben dem Wagen stehen und ließ den Blick schweifen. Wie im Dornröschenschlaf lag das Fährhaus um diese Zeit da. Wenige Fahrzeuge parkten auf dem Platz, wahrscheinlich Übernachtungsgäste der historischen Hofanlage.
Ohne Hast legte er den Fußweg zur Landzunge zurück und überlegte kurz, ob er die Pistole am Seemannsgrab oder an der Nordspitze entsorgen sollte. Schließlich entschied er sich für die zweite Lösung und schlug den Weg zu seiner Rechten ein. Wiesen und Hecken säumten seinen Weg. Nach gut sechshundert Metern hatte er die Küste erreicht. Ein eisiger Wind streifte sein Gesicht. Fluchend schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und versenkte die Hände in den Taschen.
Sekundenlang stand er einfach da und betrachtete die wilde Landschaft von Deutschlands nördlichstem Fjord. Der Wind trieb schwere Wolkenberge über den Himmel. Er atmete tief durch und sog die würzige Luft der Ostsee tief in seine Lungen ein. Als er die Augen zu schmalen Schlitzen verengte, glaubte er, auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords die Lichter des Yachthafens von Gråsten zu sehen. Weiter rechts erkannte er die markanten Zwillingstürme der Kirche von Broager. Majestätisch erhoben sich die grauen Spitzen über der strahlend weißen Fassade in den Morgenhimmel. Sie schienen die Wolkendecke durchbohren zu wollen.
Während er einfach so dastand und auf den Fjord blickte, rückte seine Mission in unendlich weite Ferne. Hier fühlte er sich zum ersten Mal seit Wochen frei.
Er sehnte sich nach Ruhe und Harmonie, nach Normalität in seinem Leben. Im Grunde genommen wollte er nur glücklich sein. Doch diese Ruhe war ihm nicht gegönnt. Je länger er über sein armseliges Leben nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass er immer auf der Schattenseite gestanden hatte. Seine Schulkameraden hatten gute Noten geschrieben. Sie hatten ihre ersten Freundinnen am Wochenende ins Kino nach Westerland ausgeführt, sie hatten wilde Partys mit ihren Mädchen am Strand von Kampen gefeiert, während er alleine auf den Holzstegen am Strand gestanden und stundenlang auf die Nordsee geblickt hatte. Einsam. Melancholisch. Doch damals war ihm nicht bewusst gewesen, dass er anders war als die Jungs aus der Nachbarschaft. Auch später, als sie längst im Berufsleben standen, war der Alltag bei ihm anders verlaufen. Viele seiner Freunde hatten die Insel verlassen. Sie hatten Probleme gehabt, einen vernünftigen Job zu bekommen. Auch der bezahlbare Wohnraum auf Sylt war von Jahr zu Jahr knapper geworden. Die Touristen und die Saisonarbeiter hatten die Einwohner von Sylt aufs Festland vertrieben.
Auch er flüchtete irgendwann auf das nordfriesische Festland, um hier neu anzufangen. Doch wirklich glücklich gewesen war er damit nie. Vertrieben von der eigenen Insel … wie sich das anhörte!
Wut keimte in ihm auf, je länger er darüber nachdachte. Dass er die rechte Hand zu einer Faust geballt hatte, bemerkte er erst, als sich die Fingernägel in den Handballen gruben und dort rote Stellen hinterließen. Schnell lockerte er den Griff. Er atmete ein paar Mal tief durch und beruhigte sich. Jetzt spürte er sie wieder, die Freiheit.
Doch es war eine trügerische Freiheit, denn er war noch lange nicht am Ziel angelangt. Der Tod von Berger sollte erst der Auftakt seiner Mission sein.
Die rechte Hand in der Tasche strich über das glatte Metall der Waffe. Es herrschte Ostwind, ein Umstand, der ihm in die Karten spielte. Mit einer gleitenden Bewegung zog er die Waffe aus der Tasche und wog sie in der Hand. Beinahe liebevoll glitten seine Fingerkuppen über das glatte Metall.
Zeit, Abschied zu nehmen, dachte er, holte weit aus und schleuderte die Pistole in weitem Bogen ins Meer. Es gluckste leise, dann sank die Waffe auf den Grund. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, versenkte er die Hände wieder in den Taschen, wandte sich um und trat den Rückweg an. Er nutzte die Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Die nächsten Schritte wollten gut geplant sein. Eigentlich, so dachte er sich, war alles gut verlaufen. So sollte es bleiben.
Dass er auf dem Rückweg beobachtet worden war, hatte er nicht bemerkt. Das junge Pärchen, das sich in die Einsamkeit der Nordspitze zurückgezogen hatte, wunderte sich, weil der Mann einen Gegenstand ins Wasser geworfen hatte. Doch genauso schnell, wie es den Fremden gesehen hatte, war er auch schon wieder vergessen. Die jungen Leute beschäftigten sich wieder mit sich selbst …
SIEBEN
„Wir sind den Fall los“, begrüße Kai Christensen Wiebke, als sie gut zwei Stunden später das Revier an der Poggenburgstraße erreichten. Petersen war wortkarg im Büro verschwunden, das er sich seit Jahren mit Wiebke teilte.
Eigentlich hatte sie sich nur kurz im Büro ihres Vorgesetzten zurückmelden wollen, den Kopf durch die Tür stecken. Doch in Anbetracht dieser Nachricht trat Wiebke ein. Leise drückte sie die Tür hinter sich zu. Sie wunderte sich ein wenig über Kai Christensens betroffene Miene.
„Jetzt schon?“ Wiebke runzelte die Stirn.
Christensen seufzte. „Die Kollegen aus Flensburg haben den Berger-Mord nun ganz offiziell übernommen.“
Wiebke betrachtete ihren Vorgesetzten. Wie immer trug er einen Anzug. Eine feine Note seines After-
shaves hing im Raum. Dennoch sah er müde und schwach aus.
Jetzt lächelte er matt zu ihr auf. „Trotzdem gibt es Arbeit für uns.“
„Immerhin kann sich die Mordkommission jetzt mit der Staatsanwaltschaft herumärgern, nehme ich an?“ Der Ansatz eines schadenfrohen Grinsens stahl sich in ihr Gesicht.
Der Kripochef nickte. „Sowieso. Hast du mit Jan die ersten Erkenntnisse in Hockensbüll zusammengetragen?“
Wiebke nickte. „Allerdings ist das in Anbetracht der kurzen Zeit vor Ort nicht allzu viel, fürchte ich.“
„Wie dem auch sei, ich bin sicher, dass ihr gute Vorarbeit geleistet habt, danke. In einer Stunde gibt es ein Meeting mit den Kollegen im Konferenzraum. Ich habe die Büros oben schon herrichten lassen.“
„In Ordnung. Ich werde Jan berichten, vielleicht ist er dann ein wenig motivierter.“
Kai Christensen schien Petersens ablehnende Haltung gut nachvollziehen zu können. „Es geht ihm gegen den Strich, dass die Kollegen des K 1 ihm die Arbeit abnehmen, was?“
„Es geht ihm sogar gewaltig gegen den Strich“, stimmte Wiebke ihm zu.
„Er soll nicht traurig sein, ich habe schon neue Arbeit“, wiederholte Kai Christensen.
„Ein Fahrraddiebstahl?“ Wiebke konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen, doch der Kripochef ging nicht darauf ein.
„Eine vermisste Person“, eröffnete Christensen ihr. Er beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Schreibtisch, fast so, als wolle er beten. „Kerstin Möller, 36 Jahre alt, ledig, aus Husum. Sie kam gestern Abend vom Joggen nicht nach Hause.“
„Meldet wer?“ Wiebke zog sich den Besucherstuhl heran und ließ sich darauf sinken. Sie zückte ihren Block und einen Stift.
„Ihre Vermieterin, eine alte Dame. Sie zeigte sich äußerst besorgt, da sie Kerstin Möller als sehr zuverlässige Person beschrieben hat.“ Christensen nestelte an der dunkelblauen Krawatte, die hervorragend mit seinem himmelblauen Hemd korrespondierte, herum. Er nahm einen Schnellhefter aus der Schreibtischschublade und hielt ihn hoch. „Hier steht alles drin, musst also nicht mitschreiben.“
Wiebke legte den Stift neben den Block und lehnte sich entspannt zurück. „Wo können wir bei der Suche nach Kerstin Möller ansetzen?“
„Spaziergänger haben heute Morgen in einem Waldstückchen bei Mildstedt herrenlose Sportbekleidung gefunden. Die Kleidung stammt von einer weiblichen Person, Konfektionsgröße 38.“ Christensen blätterte in den Unterlagen, während er redete. „Und auf dem angrenzenden Parkplatz steht ein Kleinwagen, Marke Kia. Die Halteranfrage hat bereits ergeben, dass das Fahrzeug auf die vermisste Kerstin Möller zugelassen ist.“
Für Wiebke gab der Fall nicht allzu viele Rätsel
auf. „Vermutlich ein Sexualdelikt“, vermutete sie spontan.
Christensen zuckte die Schultern. „Möglich. Von der Besitzerin der Bekleidungsstücke fehlt jede Spur. Es gibt wohl Schleifspuren im Morast. Möglicherweise hat jemand auf die Frau gewartet und sie außer Gefecht gesetzt und entführt.“
„Dann sehe ich mir das gleich mal vor Ort an.“
Christensen erhob sich und trat an das Bürofenster. Auf der gegenüberliegenden Seite rollte ein Güterzug in gemächlichem Tempo in Richtung Bahnhof vorbei. Die Eisenbahnbrücke wirkte trist an diesem Morgen, fand Wiebke, die dem Blick ihres Vorgesetzten folgte.
„Ich schau mir das an und fahre dann weiter zur Vermieterin der Frau.“
Christensen nickte, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Versuch mal, einen DNA-Abgleich zu bekommen, Piet ist schon vor Ort.“
„Wird gemacht.“
Der Kripochef wandte sich um, trat an den Schreibtisch und reiche Wiebke den Schnellhefter. „Hier steht alles drin“, sagte er.
Wiebke schob Block und Stift zurück in die Jackentasche und erhob sich. Sie freute sich, dass es einen neuen Fall gab, und hatte nicht vor, dass sich die Flensburger Mordkommission noch einmal einmischte. Noch war Kerstin Möller nur als vermisst gemeldet. „Bin schon unterwegs.“
Als das Telefon auf Christensens Schreibtisch klingelte, nutzte sie die Gelegenheit, das Chefbüro zu verlassen.
*
Es waren knapp fünfzehn Beamte der Kripo Husum und der Kollegen aus Flensburg, die sich eine Stunde später unter dem Dach des Polizeireviers zusammengefunden hatten, um ihre Erkenntnisse auszutauschen. Vor Kopf des langen Besprechungstisches unter der Schräge hatte sich Kai Christensen eingerichtet, neben ihm Hauke Jensen. Er hatte vorgeschlagen, dass sich die Kollegen des K 1 mit denen aus Husum austauschen sollten. Für Wiebke konnte das bedeuten, dass auch der Leiter der Flensburger Mordkommission einen Zusammenhang aller Fälle nicht ausschloss.
„Was haben wir am Tatort des Attentates an brauchbaren Spuren sichern können?“, fragte Jensen, nachdem er und Christensen die Runde eröffnet hatten.
Piet Johannsen räusperte sich. Die Blicke der Anwesenden waren erwartungsvoll auf den Kriminaltechniker gerichtet. „Ein erstes ballistisches Gutachten hat hervorgebracht, aus welcher Richtung geschossen wurde.“ Johannsen machte eine kleine Pause. „Nach unseren Erkenntnissen stand der Todesschütze an der linken der beiden Torsäulen. Die Überwachungskamera hat er mithilfe eines Tuchs unbrauchbar gemacht – die Glaskuppel des Objektivs wurde mit einem Tuch und einem Einmachgummi verhüllt.“
Jan Petersen, der Wiebke gegenübersaß, zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Er freute sich diebisch, dass seine ersten Vermutungen bei ihrem Eintreffen am Tatort sich bewahrheiteten.
„Ein einziger Schuss genügte, um das Opfer zu treffen“, fuhr Johannsen fort. „Es stand zum Tatzeitpunkt am Fenster, wohl, um nach dem Rechten zu sehen, wurde von einem Projektil getroffen und stürzte durch das Fenster in die Tiefe, die Falltiefe beträgt knapp viereinhalb Meter.“
„War der Schuss oder die Verletzungen infolge des Sturzes todesursächlich?“, hakte Christensen nach.
„Der Abschlussbericht der Kieler Rechtsmedizin steht noch aus“, bedauerte Johannsen. Er nahm die Nickelbrille von der Nase, zupfte ein Taschentuch hervor und reinigte umständlich die Gläser. „Aber wenn man sich das Gutachten des Notarztes ansieht, deutet viel darauf hin, dass der Schuss als Todesursache infrage kommt: Der Arzt stellte eine Schussverletzung in Brust-
höhe fest, unmittelbar neben dem Herz. Er geht davon aus, dass Berger verblutet ist – über die weiteren Verletzungen, die er sich beim Sturz zuzog, ist noch nichts bekannt. Ich gehe aber davon aus, dass wir den Obduktionsbericht noch heute vorliegen haben werden.“
„Gut“, nickte Jensen. „Bitte bleiben Sie dran.“
„Alles klar.“
„Gibt es weitere Spuren?“ Christensen hatte sich erhoben. Er war an das Flipchart getreten und kritzelte mit einem Edding darauf herum.
„Fingerabdrücke auf dem Einmachgummi oder dem Tuch, das die Kamera verhüllt hat – negativ.“ Johannsen setzte eine bedauernde Miene auf. „Aber ich konnte Fußabdrücke an der Stelle sichern, von der mit großer Wahrscheinlichkeit der Schuss abgegeben wurde. Es handelt sich um ein relativ grobes Profil einer Sohle der Schuhgröße 45.“
„Na toll“, entfuhr es Petersen. „Eine Allerweltsgröße. Das wird die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.“
„Langsam mit den jungen Pferden“, bremste Johannsen ihn aus. „Anhand des Profils konnte ich eine BKA-Datenbank zurate ziehen. Demnach gehört die Sohle zu einem hochwertigen Schuh, der in unserer Gegend nicht allzu oft verkauft wird.“
„Also kein Schuhdiscount?“, schaltete sich Wiebke ein. Ihre Neugier war erwacht.
„Nein, Wiebke.“ Johannsen schüttelte den Kopf. „Offenbar stammt der Schuh aus einem recht exklusiven Laden in Kampen auf Sylt.“
Petersen pfiff anerkennend durch die Zähne. „Also haben wir es mit einem wohlhabenden Schützen zu tun?“
„Wenn eine unserer Theorien darin besteht, dass es sich bei der Tat um einen Auftragsmord handelt, dann wissen wir, dass diese Täter oft fürstlich bezahlt werden“, gab Christensen zu bedenken. Wiebke wunderte sich ein wenig darüber, dass der Husumer Kripochef eine derart kühne Theorie zu verfolgen schien. Sie fragte sich, ob es dafür einen Anhaltspunkt gab.
„Am Schuhgeschäft sind die Kollegen auf Sylt“, bemerkte Johannsen. „Ich habe Nele Paulsen darauf angesetzt. Sie war schon dort und hat versucht, eine Art Kundenkartei zu bekommen. Wenn uns das gelingt, dann führt uns das möglicherweise zum Täter.“
„Was kann man zur Tatwaffe sagen?“, fragte Jensen.
„Die Patronenhülse konnte bereits sichergestellt werden, die Herkunft von Munition und Waffe ist unklar, aber ich werde gleich nach dem Meeting die Datenbanken durchforschen. Möglicherweise trat die Waffe bereits in der Vergangenheit bei einer Straftat in Erscheinung.“
„Bis jetzt hat es den Anschein, dass es sich um eine nicht registrierte Waffe handelt. Sie taucht nicht in unseren Datenbanken auf, aber ich bleib dran. Es ist ein Kinderspiel, sich eine Waffe aus dem Darknet zu beschaffen und sie mit Bitcoins zu bezahlen“, brummte Tadsen, ein wortkarger Kriminaltechniker vom K 6 in Flensburg. „Ich stehe bereits mit dem BKA in Kontakt und versuche, die Herkunft der Tatwaffe zu rekonstruieren.“
Jensen nickte zustimmend.
„Wer sagt denn, dass es sich um einen Auftragsmord handelt?“, wagte Wiebke einen Einspruch. Sie warf Christensen einen Blick zu. Der Kripochef hob dezent den Daumen.
„Der Backgroundcheck von Hans Olaf Berger gestaltet sich äußerst komplex“, bemerkte der Strohblonde, der sich vorhin knapp als Rick vorgestellt hatte. Wiebke wusste nicht, ob das sein Vorname war oder ein Familienname. „Wir alle wissen, dass unser Opfer“, Wiebke fand, dass er das unser Opfer seltsam betonte, „kein unbeschriebenes Blatt in der Gesellschaft war. Er war ein äußerst erfolgreicher und wohlhabender Geschäftsmann, nicht umsonst nannte man ihn den Fürsten von Husum. Möglicherweise war er nicht überall beliebt.“
„Reicht das für einen Auftragsmord?“, warf Tamme Gerdes ein. Der Ostfriesenbulle richtete sich im Stuhl auf. Er legte die mächtigen Pranken auf die Tischplatte. „Könnt ihr euch vorstellen, dass es sich bei dem Auftraggeber unseres angenommenen Killers um einen Mitbewerber handelt?“
„Möglicherweise auch um jemanden, der sich von ihm betrogen fühlte“, erwiderte Rick schnell. „Wie wir wissen, hat er in letzter Zeit zunehmend Grundstückeigentümer mit harten Bandagen bekämpft, hat sie mit Hilfe der Behörden enteignet, um an ihre Flächen zu kommen.“
„Da tun sich möglicherweise Abgründe auf“, stimmte Jensen seinem Mitarbeiter zu. „Unter Umständen haben sich im Zuge dieser Enteignungen Tragödien abgespielt.“
„Das werde ich prüfen“, versprach Rick und machte sich mit dienstbeflissener Miene Notizen.
„Er hat seine Frau hintergangen“, warf Petersen in den Raum. „Dass er sie betrogen hat, ist kein Geheimnis mehr. Und dass sich zum Tatzeitpunkt nicht seine Ehefrau, sondern die Geliebte bei ihm befand, dürftet sogar ihr Schlafmützen auf dem Schirm haben.“ Jan Petersen musterte die Flensburger Kollegen feindselig.