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„Was wollen Sie uns damit sagen?“, erkundigte sich Jensen. Eine steile Sorgenfalte hatte sich auf seiner Stirn gebildet.
„Drei Möglichkeiten“, sagte Petersen. „Möglichkeit eins: Der Killer wurde von der gehörnten Ehefrau beauftragt, um den notorischen Fremdgänger aus dem Weg zu räumen. Die Ehe bestand nur noch auf dem Papier, und Karen Berger wollte endlich an das Erbe des Mannes, der sie bloßstellte, indem er sich mit anderen Frauen vergnügte.“
Niemand am Tisch hatte Einwände. Rick schrieb eifrig mit und unterbrach Petersen kein einziges Mal.
„Möglichkeit zwei: Der Schütze wurde ebenfalls von Karen Berger beauftragt, er sollte allerdings die lästige Geliebte aus dem Weg räumen. Wie wir wissen, ging das in die Hose.“
„Das ist eine gewagte Theorie“, warf Jensen jetzt ein. „Aber gut, wir sollten nichts außer Acht lassen.“ Er setzte sich, trommelte auf dem Tisch herum. „Und: Möglichkeit drei?“
„Möglichkeit drei wäre, dass der Mörder, wenn wir weiter davon ausgehen, dass es sich um einen Auftragsmord handelt, von der Geliebten des Opfers beauftragt wurde.“
„Das Motiv erschließt sich mir nicht“, kritisierte Jensen.
„Wenn es eins gibt, werden wir es herausfinden“, mischte sich jetzt Kai Christensen ein. „Was wissen wir denn über die Affäre des Opfers?“
„Annika Rüther, 38 Jahre, ledig“, sagte Wiebke, die sich mit der Vita der Geliebten von Hans Olaf Berger beschäftigt hatte. „Sie betreibt eine Wassersportschule in Westerland.“
„Wir sollten Klaus mit ins Boot holen“, schlug Christensen vor. Gemeint war Klaus Thomsen, der sympathische Kripochef auf Sylt. „Vielleicht können Nele und Peer der Dame mal auf den Zahn fühlen.“
Wiebke nickte und notierte sich ein paar Sätze. Spontan kam ihr die Idee, die Kollegen in Westerland erst dann ins Boot zu holen, wenn sie selber sich einen Überblick vor Ort verschafft hatte. „Die Saison ist ja vorbei“, sagte sie. „Annika Rüther dürfte die freie Zeit nutzen, um sich anderen Dingen zu widmen. Oder sie hält sich mit Aushilfsjobs über die Monate, bis die Kitesurfschule am Strand wieder öffnet.“
Petersen nickte ihr zu. Wiebke ahnte, dass er ihre Gedanken längst erraten hatte.
Kai Christensen nickte Jensen zu. „Das soziale Umfeld von Hans Olaf Berger habt ihr im Blick?“
„Wir sind dran“, meldete sich jetzt Tadsen zu Wort. „Ich habe mir die Rechner zur Brust genommen und checke gerade seine Kontakte. Das kann aber im Hinblick auf die lange Liste der Leute, mit denen er zu tun hatte, dauern.“
„Parallel haben bereits die ersten Befragungen begonnen“, berichtete sein Partner, Uli Baumann. Er hielt plakativ eine dicke Akte in die Höhe. „Wir arbeiten uns wacker hier durch.“
ACHT
Vergangenheit, Wenningstedt/Sylt
„Ich bin schwanger.“ Sie sagte das mit so einem zauberhaften Lächeln, dass er nicht wusste, ob sie sich wirklich freute. Hastig erhob er sich vom Tisch, nahm den dunkelblauen Kaffeepott und trat an die Arbeitsplatte, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Er stierte mit klopfendem Herzen ins Leere. Sie kann nicht schwanger sein, schoss es ihm durch den Kopf. Schwer legte er seine Hände auf die Arbeitsplatte, umklammerte den Rand so fest, bis die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Er atmete durch, rang um Fassung und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, indem er aus dem Küchenfenster hinaus in die Dünenlandschaft hinter dem Haus blickte. Möwenrufe drangen durch das auf Kipp stehende Fenster an seine Ohren. In der Ferne sah er eine Handvoll Tiere durch die Luft taumeln.
„Freust du dich denn gar nicht?“, wagte sie hinter ihm einen zaghaften Versuch.
Am liebsten hätte er ihr den schweren Kaffeepott an den Kopf geschleudert. Doch er beherrschte sich. Schwieg und wartete darauf, was sie ihm noch zu sagen hatte.
„Doch, total“, antwortete er schließlich tonlos in das eisige Schweigen hinein. Draußen ging eine Familie mit Kindern vorbei. Der Vater zog einen hölzernen Bollerwagen hinter sich her. Wahrscheinlich machten sich die vier einen schönen Tag am Strand. Eine heile Welt, dachte er verbittert, als das unbeschwerte Kinderlachen erklang. Warum ist mir das nicht vergönnt?
Sie erhob sich vom Tisch, an dem sie bis eben noch gemeinsam gesessen hatten. Der Holzstuhl erzeugte ein hässliches schabendes Geräusch auf den Fliesen, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
„Wir wollten doch unbedingt ein Kind“, flüsterte sie, nachdem sie von hinten an ihn herangetreten war.
„Ja, das wollten wir“, stimmte er ihr zu, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Das war unser Traum.“
Ihm wurde übel. Er spürte, wie sich seine Kehle zuzog, schaffte es nicht, sich zu ihr umzudrehen. Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.
Warum?, schrie alles in ihm. Warum nur?
„Eben. Und jetzt hat es geklappt. Ich bin schwanger“, wiederholte sie den alles entscheidenden Satz mit einem feierlichen Unterton in der Stimme.
Langsam schüttelte er den Kopf. „Das kann nicht sein.“
„Es ist aber so.“ Sie legte die Hände um seine Hüften und schmiegte sich von hinten an ihn. Er war versucht, ihre Hände fortzustoßen und sich aus der Umarmung zu lösen.
„Wir bekommen ein Baby. Ist das nicht wundervoll?“
Nein, ist es nicht, hätte er ihr am liebsten an den Kopf geworfen. Doch er sagte nichts, schüttelte nur den Kopf.
„Warum sagst du denn nichts?“, fragte sie jetzt. Ihre Stimme klang energischer, vorwurfsvoller.
Jetzt nahm er ihre Hände und schob sie fort. Er drückte sie von sich fort und wandte sich zu ihr um. Erschrocken blickte sie zu ihm auf, sah sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Von wem das Kind auch immer ist …“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
„Natürlich ist es von dir – wie kommst du darauf?“ In ihrer Stimme mischte sich Verzweiflung unter die aufkommende Wut. Mit einem unsteten Blick schaute sie zu ihm auf. Ihre Pupillen zuckten, Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Wir wollten ein Baby, und jetzt bekommen wir eines.“ Fast klang sie trotzig.
Er schüttelte langsam den massigen Schädel. Die Lippen hatte er zu schmalen Strichen zusammengepresst. „Nein“, sagte er verbittert. „Wir bekommen kein Baby. Du bekommst ein Kind.“
„Was soll das?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme. Ihr zierlicher Körper bebte.
„Es ist nicht unser Kind.“
„Warum nicht?“
„Weil ich keine Kinder bekommen kann.“ Er grinste. „Ich habe mich vor zwei Jahren schon sterilisieren lassen. Vasektomie, falls dir das etwas sagt. Ich wollte nie Kinder haben, mit dir hat sich das geändert, und insgeheim habe ich diesen Schritt damals längst bereut. Hilft uns jetzt aber auch nicht mehr. Mit wem auch immer du gevögelt hast, werd glücklich mit ihm.“ Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen. „Und jetzt pack deine Sachen und verschwinde.“
*
Mildstedt, Gegenwart:
Der Ort, an dem Spaziergänger die Bekleidung gefunden hatten, lag am Rande des Wanderparkplatzes an der Straße nach Ostenfeld. Schon von Weitem sah Wiebke die Einsatzstelle. Die Zufahrt zum Parkplatz war mit blauweiß schraffiertem Absperrband gesichert, im Einfahrtsbereich standen zwei Streifenwagen und der Kastenwagen der Kriminaltechnik. Wiebke parkte den zivilen Dienstwagen am unbefestigten Rand der Landstraße. Das Waldstück, von dem Christensen gesprochen hatte, befand sich an ihrem Heimweg. Mehrmals täglich fuhr Wiebke hier vorbei. Umso betroffener war sie jetzt, dass sich hier ein Verbrechen abgespielt hatte.
Schnell war Wiebke versucht gewesen, durchzufahren, um kurz eine heiße Dusche zu nehmen, doch ihr Pflichtgefühl hatte überwogen.
Petersen war im Polizeirevier geblieben, um den lästigen Bericht zu schreiben. Er war frustriert, weil er nicht mehr aktiv in die Ermittlungen im Mordfall eingebunden war, und hatte schlechte Laune.
Fröstelnd zog Wiebke den Reißverschluss ihrer dick gefütterten Jack-Wolfskin-Jacke hoch und versenkte die Hände in den Taschen. Aus Richtung Ostenfeld näherte sich einer dieser großen Hightech-Traktoren. Eilig überquerte Wiebke die Landstraße und nickte dem uniformierten Beamten, der an der Absperrung Wache schob, zu. Man kannte sich vom Sehen.
Wiebke war gespannt, was Johannsen ihr sagen konnte. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Alles deutete darauf hin, dass Kerstin Möller einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Offensichtlich fehlte von ihr jede Spur. Was sollte sie der Vermieterin von Kerstin Möller später sagen?
„Allein unterwegs?“ Johannsen blickte auf, als er sah, dass Wiebke den schlammigen Parkplatz überquerte. Vom Regen in der Nacht hatten sich zahlreiche Pfützen in dem Schotterbelag gebildet.
„Jan ist mucksig“, nickte sie.
„Wegen der Konkurrenz aus Flensburg“, griente Johannsen.
„Das K 1 ist keine Konkurrenz, es ist der Auftrag der Kollegen, Mörder zu überführen“, murmelte Wiebke.
„Ich weiß das, ich weiß das“, nickte Johannsen. „Manchmal kommt man sich wie die zweite Wahl vor, wenn wir vorgeschickt werden, um die Drecksarbeit zu machen. Dann kommen die Kollegen, krempeln die Ärmel hoch und schieben uns aufs Abstellgleis – das ist frustrierend.“ Piet Johannsen nickte. „Ich kann Jan gut verstehen.“
„Ich ja auch“, räumte Wiebke ein, „trotzdem müssen wir weiter unsere Arbeit machen.“
„Apropos“, hakte der Kriminaltechniker ein. „Willst du dir den Fundort der Klamotten angucken?“
„Ja.“ Wiebke nickte und folgte dem Kollegen zu dem alten Hünengrab am Rande des Parkplatzes. Massive Steine waren zu einer historischen Grabstätte aufgeschichtet worden. Wiebke erinnerte sich daran, dass die Grabstätte in früheren Zeiten in der Nähe von Voßberg an der Landstraße nach Ostenfeld gestanden hatte. Doch das war lange vor ihrer Zeit gewesen. Vor rund vierzig Jahren hatte man das Hünengrab an diesem Parkplatz wiedererrichtet. Fünf massige Steinblöcke trugen einen sechsten Stein, der als Dach diente. Grünspan hatte die tonnenschweren Blöcke überzogen. Ein muffiger Geruch drang in Wiebkes Nase, als sie am Eingang in die Hocke ging, um einen Blick ins Innere des Grabes zu werfen.
Die Bekleidung wirkte modern und hochwertig. Ein pinkfarbenes Laufshirt, eine leichte Windjacke in Schwarz, die an den Ärmeln pinkfarbene Streifen aufwies, eine Art Leggins in Schwarz. Die modischen Sportschuhe in knalligem Pink, dazu weiße Socken, ein schwarzer Slip und ein Sport-BH, ebenfalls in Schwarz. Socken und die Unterhose waren auf links gedreht. „Sie scheint eine Vorliebe für Pink zu haben.“
Johannsen grinste schief. „Haben das nicht viele Mädchen und Frauen?“
„Ich nicht.“ Wiebke schüttelte den Kopf. „Blau ist meine Lieblingsfarbe.“ Sie zückte das Smartphone und fotografierte das seltsame Ensemble.
„Wie schön, das hebt dich von der Masse ab“, bemerkte Johannsen hinter ihr. „Ich habe das schon fotografiert.“
„Kann ich mir denken.“ Wiebke ließ das Handy verschwinden und stand auf. Sie beugte sich in die Grab-
stätte und überlegte, was hier passiert sein könnte. Alles deutete auf eine Entführung hin – oder ein sexuell motiviertes Gewaltdelikt. Beides gefiel ihr nicht.
Wiebke bemerkte, dass es am Ärmel der Windjacke ein Fach für das Smartphone gab. Die kleine, aufgenähte Tasche stand offen, das Fach war leer.
„Ein Smartphone hast du nicht gefunden?“, fragte Wiebke, ohne sich zu Johannsen umzublicken.
„Das hätte ich dir längst gesagt.“ Er wirkte ein wenig gekränkt. „Entweder hat sie es verloren, oder der große Unbekannte hat es mitgehen lassen.“
„Die Gegend muss abgesucht werden.“
„Dann veranlassen wir das.“
„In Ordnung.“ Alles wirkte, als hätte es jemand achtlos in die Grabstätte geworfen. Als hätte es jemand eilig gehabt, die Kleidung zu entsorgen. Von einem Versteck wollte Wiebke nicht reden – dafür hatte sich der Unbekannte zu wenig Mühe gemacht. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Kleidung mit dem herumliegenden Laub abzudecken und so auf den ersten Blick unsichtbar werden zu lassen. Wiebke schloss kurz die Augen und dachte nach. Es hatte den Anschein, als habe der Unbekannte geplant, dass die Sportsachen schnell gefunden wurden. Oder er wollte auf sich aufmerksam machen.
„Er hat sich keine Mühe gemacht, die Klamotten zu verstecken“, murmelte sie und stand auf. „Fragt sich, warum. War er in Eile, oder will er Aufmerksamkeit erregen?“
„Das herauszufinden ist dein Part“, grinste Johannsen schulterzuckend. „Ich werde die Dinge sicherstellen und einen DNA-Test im Labor machen.“
„Hast du etwas Auffälliges im näheren Umkreis der Fundstelle entdeckt?“, fragte Wiebke. „Was ist mit den Schleifspuren, die der Chef angesprochen hat?“
„Ich kann dir nicht sagen, ob hier wirklich ein Kampf stattgefunden hat“, räumte Johannsen ein. „Theoretisch könnte es auch sein, dass jemand einen Müllsack oder so etwas über den Boden gezogen hat. Wären da nicht diese Fußabdrücke.“ Seine Augen funkelten unternehmungslustig hinter den Gläsern der Nickelbrille. „Aber mit denen werde ich mich noch beschäftigen, vielleicht wissen wir dann mehr.“ Er deutete auf das Hünengrab. „Derzeit hat es den Anschein, als hätte der Täter die Kleidung einfach hier reingeworfen, um sich mit dem Opfer aus dem Staub zu machen – warum auch immer.“
„Ich will sämtliche Reifenspuren auf diesem Parkplatz haben“, sagte Wiebke.
„Das sind viele“, behauptete der Kriminaltechniker.
„Da musst du durch, fürchte ich.“ Wiebke versuchte sich vorzustellen, was hier passiert sein könnte.
„Auf diesem Parkplatz herrscht ständiges Kommen und Gehen: Spaziergänger, Hundebesitzer, Geschäftsleute, die hier im Gebüsch pinkeln gehen, was weiß ich. Man kann doch mit dem Auto fast bis an die Grabstätte heranfahren.“
„Vielleicht beabsichtigte unser Täter ja, dass die Bekleidung schnell gefunden wird.“
„Das spricht nicht gerade für seine Intelligenz.“ Wiebke betrachtete den Kriminaltechniker mit einem zweifelnden Blick. Piet Johannsen zuckten die Schultern. Er nahm die markante Nickelbrille ab und polierte sie umständlich, hauchte auf die Gläser und putzte mit einem Tuch darüber. „Oder wir haben es sogar mit einem sehr intelligenten Täter zu tun, der uns an der Nase herumführen will.“
„Dann wäre es ein gefährlicher Gegner“, bemerkte Wiebke.
Piet Johannsen nickte. Er setzte die Brille auf und betrachtete Wiebke lange. „Und genau das ist es, was mir Sorge bereitet, Wiebke.“
„Hast du persönliche Gegenstände gefunden?“
Kopfschütteln. „Nichts. Kein Portemonnaie, kein Handy, kein Schlüssel.“ Johannsen deutete auf den Kia. „Vielleicht hat sie alles im Auto gelassen. Schade nur, dass auch der Wagenschlüssel noch nicht aufgetaucht ist.“
„Wir werden ihn öffnen müssen.“
„Ist schon eingestielt“, sagte Johannsen. „Der Schlüsseldienst ist unterwegs, ein Richter hat den nötigen Beschluss ausgestellt.“
„Sehr schön“, lobte Wiebke. Es war selten, dass ein diensthabender Richter so schnell reagierte. Vermutlich waren die Behörden nach dem Mord an Hans Olaf Berger aufgescheucht und legten an Tempo weiter zu.
Wiebke warf einen Blick auf die Uhr. Erika Brütsch erwartete sie sicher schon. „Ich muss los“, sagte sie. „Mal sehen, was die Vermieterin uns über Kerstin Möller erzählen kann.“
NEUN
Husum, Lundweg
Eine Nachbarin, die auf dem Bürgersteig mehr schlecht als recht das nasse Laub zusammenkehrte, bedachte Wiebke mit einem misstrauischen Blick. Wiebke nickte der alten Frau freundlich zu, dann stand sie vor dem Haus von Erika Brütsch. Es handelte sich um ein unauffälliges Reihenhaus mit geklinkerter Fassade und einem auffallend hohen Spitzdach. Von Grünspan überzogene Waschbetonplatten führten durch einen kleinen Vorgarten zum Eingang des Hauses, das aus den frühen 1960er-Jahren stammte und sich nicht von denen in der direkten Nachbarschaft unterschied.
Inzwischen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der Wiebkes Kleidung und das Haar innerhalb weniger Minuten durchnässt hatte. Sie fröstelte. Seit einigen Tagen versuchte Wiebke, die ersten Anzeichen einer Erkältung zu verdrängen. Doch die Halsschmerzen ließen sich nicht verleugnen. Später würde sie sich Schmerztabletten aus der Apotheke und Zitronen aus dem Supermarkt besorgen.
Doch jetzt gab es Arbeit. Wiebke wollte keine Zeit verlieren, denn alles deutete darauf hin, dass Kerstin Möller entführt worden war.
Eilig durchschritt sie den Vorgarten, nahm die drei breiten Stufen und fand sich unter einem schmalen Vordach wieder, das sie mehr schlecht als recht vor dem Nieselregen schützte. Fröstelnd schlug Wiebke den Kragen ihrer hüftlangen Jacke hoch und versenkte die Hände tief in den Taschen, während sie sich orientierte. Es gab ein in die Fassade eingearbeitetes Klingelbrett. „Brütsch“ stand in vergilbten Lettern darauf. Darunter befand sich eine nachträglich montierte Funkklingel mit der Aufschrift „K. Möller“.
Wiebke betätigte den oberen Knopf und lauschte dem tiefen Gong, der drinnen ertönte.
Die anderthalb Minuten, die Wiebke wartete, fühlten sich an wie eine Ewigkeit, dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet.
„Ja bitte?“ Misstrauen lag im Blick der alten Dame, die durch den Spalt spähte. Eine Panzerkette zwischen Tür und Rahmen verhinderte, dass ungebetene Gäste sich Zugang zum Haus verschaffen konnten.
„Frau Brütsch? Erika Brütsch?“ Wiebke blickte in das rundliche Gesicht einer älteren Dame, die sie auf Ende siebzig, vielleicht sogar auf Anfang achtzig schätzte. Die blauen Augen der Frau waren wachsam auf die Besucherin gerichtet.
Wiebke zog den Dienstausweis hervor und stellte sich vor.
„Polizei?“ Die Miene der alten Dame hellte sich auf. Die Tür wurde geschlossen. Wiebke hörte innen das Rasseln der Kette, dann wurde ihr die Haustür wieder geöffnet.
Wiebke ließ den Ausweis verschwinden und lächelte die alte Dame freundlich an. „Sie haben uns angerufen.“
„Weil ich mir große Sorgen um Frau Möller mache.“
Wiebke folgte der Frau in einen schummrigen Flur. Eine altmodische Deckenlampe mit rauchigem Glas verbreitete einen diffusen Lichtschein. Neben der Haustür gab es eine antiquierte Garderobe mit wetterfesten Jacken, überwiegend in Grau- und Brauntönen, daneben ein ovaler Ankleidespiegel. Auf einer Hutablage entdeckte Wiebke einen dunkelbraunen Cordhut, der von einer feinen Staubschicht überzogen war.
„Der gehörte Knut, meinem Mann“, sagte Erika Brütsch, die Wiebkes Blick gefolgt war. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn dort wegzunehmen, nachdem er …“ Die alte Dame brach ab und senkte den Blick, dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, so, als könne sie die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann damit zu Seite schieben. „Kommen Sie.“
Nacheinander betraten sie die Stube des kleinen Hauses. Wiebke blickte sich um. Auch hier alte, schwere Möbel, die den nicht allzu großen Raum förmlich erdrückten.
Eine Fensterfront in den Garten hinter dem Haus sorgte bei dem trüben Wetter mehr schlecht als recht für Licht.
„Nehmen Sie Platz.“ Erika Brütsch deutete auf den großen Sessel vor dem gekachelten Sofatisch.
Wiebke nahm die Einladung an und beobachtete die alte Dame, die gedankenverloren an das große Fenster trat und hinausblickte. Eine hölzerne Pergola mit Plexi-
glasdach bot einen Freisitz auch bei schlechtem Wetter. Die Terrasse selbst bestand aus einer rissigen Betonplatte, die an den Rändern mit Grünspan bedeckt war.
„Sie haben uns angerufen, weil Sie Ihre Mieterin vermissen“, begann Wiebke das Gespräch.
Die alte Dame nickte, ohne sich zu ihrer Besucherin umzudrehen. „Das kenne ich von ihr nicht. Frau Möller ist eine sehr ordentliche und eine höfliche Frau. Sie meldet sich immer kurz ab, wenn sie das Haus verlässt. So auch gestern Abend. Jeden Abend geht sie joggen, auch sonntags.“
Wiebke schwieg. Sie wollte den Redefluss der alten Dame nicht unterbrechen. Erst als Erika Brütsch verstummte, hakte sie nach: „Immer dieselbe Strecke?“
„Meistens. Entweder in dem Wäldchen bei Mild-
stedtfeld oder draußen, am Dockkoog.“
„Wann ist sie gestern aufgebrochen?“
„Gegen sechs Uhr abends.“
„Gibt es eine gute Freundin, einen Freund oder Familienangehörige, zu denen sie anschließend gefahren sein könnte?“ Obwohl Wiebke wusste, dass der Wagen von Kerstin Möller auf dem Wanderparkplatz stand, stellte sie diese Fragen. Sie erhoffte sich einen Hinweis auf das soziale Umfeld der jungen Frau.
„Es gibt eine gute Freundin, ja. Und seit einigen Wochen sogar einen Mann in ihrem Leben.“ Jetzt drehte sich Erika Brütsch zu Wiebke um. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. „Die junge Liebe ist so schön“, schwärmte sie mit geröteten Wangen. „Aber ich denke nicht, dass Frau Möller einfach so zu ihm gefahren ist. Sie wollte einkaufen – abgesehen davon hätte sie angerufen, um mir Bescheid zu sagen.“
Wiebke zog einen Notizblick aus der Tasche und machte sich Notizen. „Sicher haben Sie den Namen der Freundin und des jungen Mannes?“
„Aber sicher.“ Erika Brütsch trat an ein Beistelltischchen neben dem großen Sofa. Ihre Hände zitterten, als sie ein kleines, altmodisches Telefonregister nahm und darin blätterte. „Hier“, sagte sie schließlich und zeigte Wiebke ihre krakeligen Notizen. „Sven Gerissen heißt der junge Mann. Er wohnt wohl in der Husumer Neustadt, arbeitet als Verkäufer in einem Autohaus im Industriegebiet.“ Erika Brütsch nannte Wiebke Gerissens Adresse und die Nummer sowie den Namen des Autohauses, bei dem er arbeitete, danach blätterte sie weiter und fand den Eintrag von Kerstin Möllers bester Freundin. „Das ist Christiane Vollmer, sie wohnt in Treia.“ Auch hier diktierte sie Wiebke Adresse und Telefonnummer.
„Haben Sie schon versucht, dort anzurufen?“
„Aber sicher.“ Erika Brütsch nickte. „Leider vergeblich. Sie hat sich weder bei Christiane Vollmer, noch bei ihrem Freund gemeldet. Auch die beiden sind in größter Sorge, haben mich aber gebeten, noch abzuwarten, bevor ich die Polizei einschalte.“
Wiebke horchte auf. „Warum das?“
„Nun ja …“ Die alte Dame legte das Telefonbüchlein zurück und druckste herum. „Weil ich mir wohl zu oft und zu schnell Sorgen mache.“
„Sie haben alles richtig gemacht, als Sie uns angerufen haben“, versicherte Wiebke ihr und deutete auf das Telefonbuch. „Bestimmt haben Sie auch die Nummer von Kerstin Möller notiert?“
„Aber ja.“ Erika Brütsch nahm das Register wieder in die Hände und nannte Wiebke die Nummer. Wiebke zückte das Smartphone und wählte die Nummer. Schon nach dem ersten Freizeichen meldete sich die Mailbox. Wiebke unterbrach den Anruf, erhob sich aus dem bequemen Fernsehsessel und rief die Galerie ihres Handys auf. Schweigend zeigte sie Erika Brütsch das Bild, das sie bei der Grabstätte aufgenommen hatte.
„Ist das ihre Kleidung?“
Die alte Dame betrachtete das Bild auf dem Display. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie Wiebke ansah und langsam nickte. „Ja“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Das sind ihre Sachen.“ Sie räusperte sich. „Wurde sie vergewaltigt?“
Wiebke fand, dass die alte Dame bei aller Emotionalität abgeklärt klang. „Das wissen wir nicht. Spaziergänger fanden die Kleidung bei der Grabstätte bei Mildstedtfeld, von Kerstin Möller fehlt uns jede Spur. Um sicherzugehen, würde ich gern einen DNA-Vergleich anordnen“, erklärte Wiebke. „Dürfte ich mich in Kerstin Möllers Wohnung umsehen?“
„Aber sicher doch.“ Sie ging voran zum Flur. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Apartment.“
ZEHN
Bundesstraße 201 bei Schuby
Es war ein Kinderspiel gewesen, die Überreste von Kers-
tin Möller zu entsorgen. Niemand beobachtete ihn dabei. Obwohl, wenn man es ganz genau nahm, dann sahen ihm sogar Gott und die Welt dabei zu – ohne auf dem Schirm zu haben, was hier, auf der Bundesstraße in Richtung Westen, überhaupt abging. Ein siegessicheres Grinsen stahl sich auf seine Mundwinkel.
Ich bin gut, sagte er sich immer wieder. Verdammt gut.
Seine Hand zitterte ein wenig, als er den unauffälligen Schalter unter dem Armaturenbrett betätigte, ohne den Blick von der Landstraße zu nehmen. Ein gelbes Lämpchen im Armaturenbrett zeigte ihm, dass seine Erfindung funktionierte. Durch den Knopfdruck hatte sich ein geheimes Ventil im Wagenboden geöffnet, durch das die unbrauchbar gewordene Flüssigkeit ins Freie rann.