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Karola war in der Schulpause zu Astrid in die Toilette gekommen. Sie wollte wieder in die Clique aufgenommen werden, nachdem sie wegen eines Beinbruchs eine Zeit im Krankenhaus hatte bleiben müssen. Astrid würde ihr das schulden. So ein Schwachsinn. Astrid hatte Karola, die auf einen Baum geklettert war und es mit der Angst bekommen hatte, helfen wollen. Doch Karola hatte sich blöde angestellt. Von dem Gezeter hatte Astrid schließlich genug gehabt und daher Karolas Fuß in ihren Händen einmal rumgedreht. Dann war Karola geflogen. Aus diesem Grund sollte sie dem Trampel etwas schulden?
Astrid sagte ihr, niemand auf der Welt würde sie, eine Null, als Freundin haben wollen. Daraufhin hatte Karola geheult. Was für eine Nervensäge. Kurz hatte Astrid überlegt, ob Karola ihren Heiligenschein aufgeben würde und ihr dann einen Namen genannt. Frau Baukötter, die Lehrerin. Wenn sie dem Köter unbemerkt einen Gegenstand aus der Tasche nehmen und wieder zurücklegen könnte, also genauso geschickt sei wie ihre Schwester, dann gebe es Hoffnung für sie.
Der Köter hatte Astrids Verachtung. Jeden Samstag ließ die Baukötter sich im Frisiersalon die Haare legen und quatschte Astrids Mutter die Ohren mit Geschichten über ihre Schüler und deren Eltern voll. Gern wiederholte sie bei dieser Gelegenheit auch, dass Astrid zwar eine ausgezeichnete Schülerin sei, aber mehr Disziplin vertragen könnte. Mieser Köter. All dieses Geschwafel über Anständigkeit und Respekt. So eine Heuchlerin. Die Baukötter gab Claudia nie schlechte Noten, denn sie war die Enkelin des Bürgermeisters, dagegen schikanierte sie Maria, deren Vater ein Gelegenheitsarbeiter war. Und so ein Köter war Karolas Lieblingslehrerin, das Objekt ihrer Bewunderung, was schon genug über Karola sagte, aber auch darüber, wie sehr sich Karola wünschte, wieder zu den Rabenkindern zu gehören, denn sie war auf Astrids Forderung eingegangen.
Nach Karolas Tod hatte sich Katja immer mehr diesem Zwilling angeglichen. Als wäre der Geist der Toten in den Körper der Schwester eingesickert.
Nun war Katja ebenfalls tot und ihre Tochter Leni trauerte um sie.
„Sie sieht aus, als würde sie schlafen. Ich kann es gar nicht glauben. Erst vor einer halben Stunde habe ich Mutti noch gefragt, ob sie Schmerzen hat“, schniefte die Kleine in den Hörer.
Es war sicherlich schwer, in der Nacht neben der Leiche der eigenen Mutter zu sitzen.
„Hast du deinen Vater angerufen?“
„Nein, noch nicht, er arbeitet gerade in Dubai.“
„Ruf auch gleich den Arzt an. Du solltest nicht allein in dem Haus sein.“ Lenis Vater, ein stiller, fleißiger Mann, war meistens irgendwo in der Welt, nur nicht bei seiner Ehefrau. Von ihrem Verlobten hatte die Kleine ein Foto geschickt, ein Lackaffe, an den die Kleine in der Not offensichtlich noch gar nicht gedacht hatte.
„Tante Astrid, du kommst doch zur Beerdigung? Das hat Mutti sich gewünscht und ich wünsche es mir.“
Die Kleine hockte da neben einer Leiche und rief als erste Tante Astrid an. Wie konnte sie es ihr da abschlagen, zumal sie sowieso auf dem Weg nach Deutschland war.
„Keine Sorge, ich lass dich nicht allein.“
Bevor sie das Gespräch beendete, fiel ihr noch ein zu fragen, woran Katja gestorben war. Dann ging sie wieder zurück zum Taxi. Das Gold fühlte sich zwischen ihren Fingern glatt und kühl an.
In der Business Class waren alle Plätze besetzt. Ausgerechnet neben ihr saß ein Mann mit Flugangst. Bereits vor dem Start stand ihm der Schweiß auf der Stirn und seine Hände zupften an seinem Hemdkragen herum. Wenn er während des Starts in Panik geraten würde, müssten sie wieder landen und Astrid hätte Zeit verloren, Zeit die ihrem Vater nicht mehr blieb. Sie bot dem Mann ein Kaugummi an, damit er später den Druck auf den Ohren ausgleichen konnte. Sogleich stellte er sich vor und erzählte, wie sehr er sich vorm Fliegen fürchtete und mit wie viel Baldrian er versorgt war, einer Dosis für Elefanten. Er lachte nervös auf und erzählte ohne Punkt und Komma von seinem Job.
Astrid betrachtete den Mann genauer, während er sprach. Ein kleiner Dicker mit festem, prallem Fleisch, keiner von der Schwabbelsorte. Er hatte etwas von einem Flummi, sicherlich würde er genauso von einer Wand abprallen, wenn man ihn dagegen warf. Er besaß Niedlichkeitswert, war aber ein Idiot. Einer dieser dressierten Büroaffen. Trotz seiner Angst zu sterben, hatte er den Anweisungen seines Chefs Folge geleistet, statt ihm in den Hintern zu treten.
Ihr Vater hatte für solche Menschen nichts übrig. Menschen, die stolz auf ihr Gefangensein waren. Er hatte die Fabrikarbeit verabscheut und die Stechuhr geradezu gehasst. Büromenschen mit Krawatte waren für ihn ebenso Sklaven, nur Sklaven, die er noch weniger mochte. Vor seiner Heirat war er durchs Land gereist und hatte Gürtel und Schmuck hergestellt und verkauft. Er war geschickt mit den Händen, fast ein Künstler. Außerdem hatte er auf seinen Touren Antiquitäten aufgekauft, die er im Winter restaurierte und weiterverkaufte. Doch das Zentrum, worum das Leben ihres Vaters kreiste, das waren und blieben Frauen.
Ihr Vater hatte später auch Lexika verkauft, in denen, wie er ihr als kleines Mädchen gesagt hatte, das Wissen der Welt gesammelt sei. Er besaß wenige Bücher, die aber alle von ihm geschätzt wurden. Er hatte sie immer wieder gelesen, manche wie „Die Schatzinsel“ über zwanzig Mal. Daraus hatte er ihr vorgelesen, wenn er bei ihr und der Mutter war. Als kleines Mädchen hatte sie geglaubt, solange seine Bücher im Haus ihrer Mutter waren, würde er immer wieder zu ihnen zurückkommen. Denn sein Glück lag nicht bei ihnen im Haus, es bestand darin, in seinem VW-Bulli, in dem es eine Schlafpritsche, einen Gaskocher, Lexika und sonstige Sachen gab, übers Land zu ziehen und Frauen zu erobern. Er wurde nie ein Topverkäufer, aber das hatte auch nie zu seinen Zielen gehört. Einmal hatte Astrid ihn gefragt, warum er nicht bei ihnen bliebe. Da erzählte er ihr eine Geschichte, eine von den vielen, die er kannte und die sie von ihrer Frage ablenkte. Astrid hatte nie eine der Geschichten ihres Vaters vergessen.
Der Dicke neben ihr stöhnte auf. Astrid schenkte ihm ein kleines Lächeln und versicherte ihm, dass die Fluglinie seit Jahren ihr Vertrauen besäße. Er hob die Schultern, lächelte verlegen und hub abermals an, auf sie einzureden. Astrid schaltete auf Durchzug bis eine Frage sie aus ihren Gedanken riss:
„Haben Sie auch Kinder?“
Astrid kräuselte die Stirn. Sie musste daran denken, wie sie den Telefonhörer in der Hand gehalten und ihre Assistentin einen jungen Mann angekündigt hatte. Der Name hatte sie kurz aus der Fassung gebracht, doch dann hatte sie gesagt, sie würde keine Zeit erübrigen können und aufgelegt. Saverio, sie kannte ihren Sohn nur von einem Foto. Aber das ging den Dicken nun wirklich nichts an.
Endlich setzte sich die Maschine in Bewegung und der Dicke umklammerte die Lehne.
„Immer ein und ausatmen, mehr braucht’s nicht“, riet ihm Astrid. Er pustete aus und atmete ein und schaute sie mit einem fragenden Blick an, ob er es richtig machte. Offensichtlich wollte er sich nicht vor einer Frau blamieren, die Klassen über ihm stand und so nett war, sich mit ihm zu unterhalten.
Als das Flugzeug abhob, stieß er einen spitzen Schrei aus, da Astrid ihn jedoch fixierte, schluckte er und litt schweigend. Nachdem das Flugzeug über den Wolken flog und die Passagiere die Gurte öffnen konnten, bekam er wieder Farbe im Gesicht.
„Das haben Sie prima gemacht“, sagte Astrid.
Der Dicke strahlte wie ein Junge, der von seiner Lehrerin gelobt worden war. Sofort fing er an zu plappern, erzählte von seinem Leben, um die Angst in den Griff zu bekommen. Nach einer Stunde schlummerte er endlich ein, da war wohl nicht nur Baldrian, sondern ein Cocktail von Pillen im Spiel gewesen.
Astrid rieb den Goldzahn zwischen ihren Fingern, der sich geschmeidig anfühlte. Sie vermisste Lopez. Sie konnte noch spüren, wie er neben ihr lag, an ihren Körper geschmiegt. Sonst durfte niemand bei ihr übernachten, doch Lopez war eine Ausnahme. Neben ihm hatte sie die Augen schließen und sofort einschlafen können.
Die Wut stieg erneut in ihr hoch. Warum hatte er das Geld gestohlen? Warum hatte er sie dazu gebracht ihn zu töten? Ausgerechnet dem Geld der Samsonow-Brüder hatte er nicht widerstehen können, als er die Gelegenheit dazu bekommen hatte. Dem Geld, das er verzockt und das Ungeziefer auf seine Fährte gelockt hatte. Dabei hatte er nur einen Koffer von A nach B bringen sollen. Es war eine mörderische Idee gewesen, einen Abstecher ins Casino einzulegen und einen Gewinn einstreichen zu wollen. Abends hatte er dann vor ihrer Tür gestanden. Die Jagd war schon längst eröffnet. Er hatte überall die Lichter ausgeschaltet, immer wieder an der Tür gehorcht, ob jemand kommt und war bei jedem Geräusch zusammengezuckt. Astrid hatte ihn vom Sessel aus beobachtet, wie er durch die Wohnung stiefelte, sich Whiskey nachschenkte und sich erst im Morgengrauen aufs Sofa setzte. Er hatte sie angeschaut und gesagt: „Ich bin ein toter Mann.“ Astrid hatte gewusst, dass er recht hatte.
Die Samsonow-Brüder hätten ihn selbst dann getötet, wenn das Geld noch vorhanden gewesen wäre. In ihren Augen war es ein Verrat. Die Samsonows waren Abschaum, der seinen Profit mit Waffen- und Menschenhandel machte. Abschaum, der seine Kinder auf Privatschulen schickte, Politiker mit Spenden beglückte und sich als Geschäftsmann von Welt präsentierte. Big Business. Sich nicht zu schade dafür, einem die Haut bei lebendigem Leibe abzuziehen. Das war durchaus wörtlich zu verstehen. Ihnen genügte es nicht zu töten, sie zelebrierten das Schlachten. Nicht aus Vergnügen, sondern nach ihren Gesetzen. Das war ihre Art, das Revier zu markieren.
Um ihre Haut zu retten, hatte Astrid Lopez in einem Rohbau versteckt und dann Spider losgeschickt. Da sie ihm Zuflucht geboten hatte, wäre sie in den Augen der Samsonow Brüder eine Komplizin. Unter der Folter hätte Lopez ihnen alles erzählt.
Wenn die Brüder, am besten die gesamte Sippschaft, jemals auf dem elektrischen Stuhl landen würden, dann würde sie zu gern auf einem der Besucherplätze sitzen.
Die Landung verlief ohne Probleme. Der Dicke verabschiedete sich von ihr und überreichte ihr seine Visitenkarte, die sie, als er sich umdrehte, wegschnippte.
Auf dem Parkplatz stand bereits ihr Mietauto, ein Porsche Cabrio. Sie stieg ein und brauste los. Das Pflegeheim lag drei Stunden Fahrt entfernt.
Im Haus Auenruhe, einem ehemaligen Gutshaus, zu dem zwei Hektar Land gehörten, führte ein Pfleger sie in ein Zimmer, in dem Bilder von Bäumen an der Wand hingen und eine Orchidee auf dem Fensterbrett stand; auf dem Nachttisch brannte eine Kerze, neben der eine Bibel lag. Ihr Vater schlief, sein Atem rasselte. Astrid rückte einen Stuhl näher ans Sterbebett heran und wartete.
Das Warten auf ihren Vater war Astrid und ihrer Mutter vertraut gewesen. Manchmal hatten sie sogar in dieser Zeit Spaß miteinander. Wie an dem Tag, als Astrid die Schminke ihrer Mutter benutzen durfte. Im Bad hatte ihre Mutter ein Schränkchen, gefüllt mit Dosen, Tiegeln, Fläschchen, Tuben, Schachteln und Pinseln. Die Mutter war stets geschminkt, frisiert und parfümiert. Zurechtgemacht nach den Modeheften und Katalogen, die im Salon auslagen.
Am besten gefielen Astrid die Lippenstifte, immer wieder ummalte sie mit dem kirschroten ihren Mund. Ihre Mutter tuschte ihr die Wimpern, was ein bisschen anstrengend war, da sie still halten musste. Dann puderte sich Astrid das Gesicht, worauf sie niesen musste, denn es kitzelte in ihrer Nase. Das Haarspray stank, aber damit standen ihr die Haare wunderbar zu Berge. Rouge war auch eine tolle Sache, damit schmierte sie sich die Backen an. Die Mutter pinselte ihr noch die Augenlider an, Astrid hatte sich orange und blau ausgesucht. Sie fand sich schön, ihre Mutter meinte, sie könne jetzt im Zirkus auftreten. Nun wollte sie noch die Fingernägel lackiert haben, aber ihre Mutter meinte, ein kleines Mädchen brauche keinen Nagellack. Das war nicht schlimm, denn Astrid brannte sowieso darauf, ihrer Freundin Claudia das Kunstwerk zu zeigen, denn sie sah aus wie ein wilder Waldtroll.
Die Freundin fand sie auf dem Schulhof, sie hockte zusammen mit Maria am Sandkasten. Leider war auch Malte, Marias Cousin aus Hamburg, dabei. Ein Besserwisser und Angeber. Selbst Maria, die ansonsten jeden mochte, konnte diese Knalltüte nicht leiden. Im Moment störte es Astrid aber wenig und sie schritt stolz auf die Gruppe zu. Die Zwillinge kamen ihr vom Klettergerüst entgegengestürzt und fragten sofort, ob Astrid sie auch so anmalen könnte.
Malte verzog sein Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur Huren schminken sich.“
„Malte!“, rief Maria empört. „Das nimmst du zurück.“
„Mein Vater ist Staatsanwalt und der kennt sich mit dem Gesindel auf der Straße aus.“, sagte er. „Mein Vater bringt jeden Tag Verbrecher und Huren ins Gefängnis. Du weißt bestimmt noch nicht einmal was Huren sind, aber ich kann dir das erklären.“ Er nahm eine Hand voll Sand und warf ihn auf Astrid. „Huren sind Dreck und jeder kann mit ihnen machen, was er will.“
Die Mädchen schauten schockiert zu Astrid. Ihre Schminke und ihr Haar waren von Sand beschmutzt, einiges war in ihrem Kragen gelandet. Astrid bewegte sich zunächst nicht, denn sie musste gegen Tränen ankämpfen. Ihre Mutter und sie hatten sich so viel Mühe gegeben und jetzt war alles verdorben.
Aber sie würde vor Malte nicht heulen, nein, auf gar keinen Fall. Stattdessen stellte sie ihre Füße auseinander, zog ihren Schlüpfer beiseite und ließ einen breiten, starken Pinkelstrahl auf den Sand nieder. Dieser Malte glotze wie ein Affe. Dann griff sie in den nassen Sand und starrte ihn an.
Er machte einen Schritt zurück. „Ich habe meine Sonntagshose an, die darf ich nicht dreckig machen. Maria, sag das deiner doofen Freundin.“
„Astrid ist nicht doof“, erwiderte Maria.
Claudia packte Malte von hinten und drückte ihn auf den Boden. „Du bist so gut wie tot“, stieß sie hervor.
Sogleich sprangen die Zwillinge herbei und hielten seine Arme. Maria setzte sich auf seine Beine. Malte schrie vor Wut. Astrid drückte seine Nasenlöcher zu und stopfte ihm den Sand in den Mund. Er zappelte, seine Augen waren tellergroß. Bevor sie ihn losließen, riss ihm Claudia ein Haarbüschel aus. Malte hustete, spuckte Sand und Rotze aus.
„Ihr Proleten“, schrie er, „mein Vater macht euch fertig.“
Claudia wedelte mit dem Büschel. „Ich bring das unserer Waldhexe. Sobald du petzt, kriechen aus deinem Mund Spinnen, Maden und Lurche.“
Malte rappelte sich auf und lief davon. Der würde sich nicht mehr so schnell mit ihnen anlegen. Maria holte ein Taschentuch hervor und tupfte vorsichtig den Sand aus Astrids Gesicht. Typisch Maria, sie kümmerte sich um jeden, was manchmal nervte, aber diesmal nicht.
„Ich habe Malte beim Mittagessen in die Suppe gespuckt“, flüsterte sie Astrid zu und grinste.
„Sieht toll aus, so wie vorher“, verkündete Claudia und die Mädchen stimmten ihr zu.
Die Welt war wieder in Ordnung und sogar noch besser, als Astrid zu Hause in der Küche ihren Vater antraf. Er war wieder da. Sie stürzte in seine Arme und er warf sie in die Luft, fing sie wieder auf. Ihre Mutter tadelte ihn, er solle nicht so wild mit Astrid umgehen und sich anziehen. Die Ansichten ihrer Mutter waren manchmal komisch.
Ihr Vater lief gern in Unterhose im Haus herum, denn er mochte die Luft an seiner Haut. Schließlich war er einmal Ringer gewesen, solange bis eine Knieverletzung ihn zum Aufhören gezwungen hatte. Astrid hätte auch gerne die Luft an ihrer Haut gehabt.
„Du siehst hübsch aus, meine Große.“ Der Vater setzte sie ab und wandte sich seiner Frau zu.
„Hast du Astrid bereits aufgeklärt?“, fragte er unvermittelt.
Die Mutter sah ihn an, als habe er mehr als einen Schnaps getrunken. „Dafür ist sie zu jung.“
„Dann übernehme ich das.“
„Auf keinen Fall. Sie braucht solche Sachen nicht zu wissen.“
„Es gibt so viele Geschichten, die ich höre, wenn ich unterwegs bin. Letztens hat die Polizei einen Jungen in der Lüneburger Heide gefunden. Solche Perverse gibt es überall.“
„Natürlich habe ich Astrid verboten mit Fremden mitzugehen.“ Die Stimme ihrer Mutter wurde schrill. Das passierte stets, wenn sie sich angegriffen fühlte.
„Und was, wenn sie den Mann kennt?“
„Wie wäre es, wenn du häufiger bei uns wärst, dann könntest du auf sie aufpassen.“ Nun überschlug sich ihre Stimme.
Der Vater sagte nichts, fuhr sich durchs Haar. Astrid mochte es nicht, wenn die Eltern stritten und sie mochte es nicht, wenn sie sich anschwiegen.
„Ich kenne mich aus.“ Sie winkte mit der Hand ab. Bei den Katzen, Hunden, Pferden, Kühen hatte sie häufig genug das beobachten können, was die Erwachsenen Sex nannten. Wenn die Frauen im Friseursalon darüber redeten, dann sagten sie Geschlechtsverkehr dazu.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf, warf ihrem Vater Hemd und Hose zu und ging in den Salon. Er schlüpfte in seine Sachen und erklärte den Sex. Dinge erklären, davon verstand ihr Vater eine Menge.
Astrid hörte ihrem Vater aufmerksam zu und fragte ihm Löcher in den Bauch. Sie wollte alles genau wissen, doch als ihr Vater dann nicht aufhörte, von den Samen zu schwärmen, die Sportskanonen seien, flink, spritzig, meisterhaft, wurde Astrid sauer. Klar hatte ihr Vater solchen Samen, aber Malte, dieser Wichtigtuer auch? Astrid stampfte mit dem Fuß auf. Das sei ungerecht, dieser Idiot bekomme Tierchen, die überall hin konnten und sie habe nur so ein blödes Ei. Das sei superdoof.
Der Vater strich ihr über den Kopf und zog sie auf seinen Schoß. Er habe doch noch gar nicht zu Ende erzählt, meinte er, und sie kenne noch gar nicht die Geschichte wie sie, seine Tochter, die beste Tochter der Welt, entstanden sei. Er drückte sie an sich und rieb seine Bartstoppeln an ihrer Wange, worauf sie kreischte und lachte. Dann erzählte er.
Es gebe nicht nur ein Universum mit dieser einen Welt, sondern viele, viele mehr. Manche groß, manche klein. Und die mächtigsten Gestirne in jedem Universum seien die Sonnen.
Eines Tages machte sich eine Sonne in der Mutter auf, um in Dunkelheit und Stille das Leben zu bringen. Sie stieg empor, strahlte ihr Licht in die Welt. Ein gebieterisches, kraftvolles Leuchten, das Sehnsucht weckte, die Sehnsucht mit ihm zu verschmelzen.
Die Samen, Astronauten mit einer Botschaft, schossen durch das Universum. Nur einem gewährte die Sonne Gehör, sog ihn in ihr Inneres. Somit war dem Vater und der Mutter eine Tochter geschenkt.
Astrid rutschte vom Schoß des Vaters. Sie strahlte über das ganze Gesicht, denn mit einer Sonne konnte Malte, der Blödie, nicht mithalten. Ihr Vater war der klügste Mensch, er wusste alles.
„Und. Hast du vergessen, was ich dir vorhin gesagt habe?“, fragte der Vater.
„Nein“, fast war Astrid beleidigt. Ihr Vater hatte es doch häufig genug gesagt. „Wenn jemand was macht, was ich nicht mag, dann sag ich es dir oder Mama.“
„Dann pack ich mir den Kerl“, der Vater schnappte sich Astrid, die jauchzte als er sie in die Höhe warf und wieder auffing. „Dann schüttele ich den Kerl.“ Astrid wurde nun kopfüber von ihrem Vater an den Füßen gehalten. Was für ein Spaß.
Die Mutter riss die Schiebetür auf und rief: „Sei nicht so grob mit dem Kind.“ Die Tür zum Salon wurde wieder zurückgeschoben. Der Vater setzte Astrid auf den Boden ab. Von Spaß verstand die Mutter nur wenig, sie mochte lieber schimpfen oder verbieten.
„Papi“, sagte Astrid und zog an der Hand des Vaters, „können wir Pfannkuchen machen? Die Mami mag die so gerne und dann freut sie sich.“ Keiner konnte solche Pfannkuchen backen wie ihr Vater. Er holte Eier aus dem Kühlschrank und jonglierte damit. Mit dem Vater wurde es nie langweilig.
Die Pfannkuchen schmeckten lecker und sie verputzen Berge davon, scherzten, lachten und plauderten. Was für ein wunderbarer Tag. Astrid erhob auch keinen Einspruch, als die Mutter sie schlafen schickte, damit die Eltern unter sich sein konnten. Endlich war die Mutter glücklich.
Am Abend trieb der Durst Astrid aus dem Bett. Auf dem Weg zur Küche hörte sie hinter der Schlafzimmertür die Eltern streiten. Sie erschrak, der Vater wollte wieder fort, dabei war er doch gerade erst gekommen. Sie trat vorsichtig näher an die Tür, die einen Spalt offen stand, zuckte zusammen, als sie sah, wie die Mutter mit Fäusten auf die Brust des Vaters schlug. Sein Gesicht versteinerte sich und die Mutter schluchzte auf, schlang ihre Arme um seinen Hals. Er packte sie an den Armen und drückte sie von sich. Die Mutter bettelte darum, dass der Vater bei ihr bliebe, niemand würde ihn mehr lieben als sie.
„Du widerst mich an“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
„Mich wirst du nie los“, flüsterte sie fast, „ohne mich wirst du deine Tochter nie wieder sehen.“
„Wie will eine Gestörte mich davon abhalten?“
„Wenn sie dich erst einmal wirklich kennen lernt, dann weiß sie, was du bist, dann bist du nicht mehr ihr Held und ich nicht die Spielverderberin.“
„Du machst dich lächerlich“, der Vater verzog die Mundwinkel.
„Lächerlich? Ich? Du bist nie für uns da, weil du dich mit deinen Flittchen vergnügst und einen Bastard nach dem andern zeugst. Du bist ein schlechter Vater, du bist ein schlechter Ehemann.“
Die Eltern starrten sich voller Hass an. Dann wendete sich der Vater ab, er blieb kurz neben Astrid stehen, wollte etwas sagen, ging dann aber wortlos aus dem Haus. Nach einer Woche war er wieder da, so wie immer, früher oder später kam er zurück.
7
Die Morgenpost fiel durch den Türschlitz und Johanna, die gerade ihren Rucksack festzurrte, beobachtete, wie ein schwarz umrandeter Umschlag auf den Boden fiel. Keine Zeit für schlechte Nachrichten, dachte sie, rührte sich aber nicht von der Stelle, denn sie kannte die Handschrift, diese gestochen scharfen Buchstaben. Sie starrte auf ihren Mädchennamen, den sie seit Jahren nicht mehr trug. Was bedeutete das? Als sie den Brief aufhob, schmeckte sie das Frühstück, das aus einem Schinkenbrot und Orangensaft bestanden hatte. Sie schluckte, doch die Übelkeit kroch weiter in ihr hoch. Rasch ließ sie den Brief in ihrer Jackentasche verschwinden und gab dem Brechreiz nach. Im Bad würgte und spuckte sie und murmelte ein paar Flüche. Dann drückte sie den Spülknopf und setzte sich auf den Toilettendeckel.
Johanna rieb sich die Schläfen. Sie war eine Frau mit Lebenserfahrung, Intelligenz und einer Familie, für die sie die Verantwortung trug. Sie hatte eine Entscheidung zu treffen, sie allein. Was sollte sie tun? Vielleicht wäre ein Baby ein Neuanfang. Noch nie hatte Johanna ein Kind geboren, noch nie hatte sie den Wunsch dazu verspürt, noch nicht einmal Gedanken hatte sie daran verschwendet. Und nun, regte sich da eine Sehnsucht in ihr?
Johanna drehte den Wasserhahn auf, trank den bitteren Geschmack hinunter und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Du betrügst dich selbst, Johanna. Du hast zwei Stiefkinder, einen kranken Mann und einen Job. Sara würde dir nie verzeihen, willst du Sara verlieren? Und du warst ein schreckliches Kind. Keine guten Voraussetzungen.
Johanna holte den Brief hervor. War es eine Botschaft, eine Erinnerung oder warum hatte Katja den Mädchennamen mit angeführt? Das hatte sie noch nie getan. Johanna riss den Umschlag auf.
Ihre Augen weiteten sich, das konnte doch nicht wahr sein, aber es war schwarz auf weiß geschrieben. Katja lebte nicht mehr. Katja, die einmal im Jahr Johanna in Berlin besucht hatte. Ein Zwischenstopp im Bahnhofscafé auf dem Weg nach Potsdam. Die üblichen Fragen, wie geht’s, was machen die Kinder und die Ehemänner, Tschüss, alles Gute, bis nächstes Jahr. Aber niemals wurde über die gemeinsame Verstrickung, die gemeinsame Schuld gesprochen. Genau dieses Schweigen war es gewesen, das Johanna an das jährliche Ritual gebunden hatte, gewürzt mit einer Prise Mitleid.
Nun las Johanna das Bibelzitat auf der Karte und ein Gefühl von Wut stieg in ihr auf. Unverkennbar musste Katja es vor ihrem Tod selbst ausgewählt haben. Der Satz war dumm, aber eindeutig: „Der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.“
Katja war eine Frau gewesen, deren Erwachsenleben nach Plan verlaufen war, nach den von ihr vorgesehenen Zeiten, Ereignissen und Orten. Eine Frau, die sich nie entspannt zurücklehnte, nie ihr Gegenüber aus den Augen ließ. Eine Stütze der Kirchengemeinde. Eine Gotteskriecherin. Für Johanna war es stets ein Rätsel geblieben, was Katja von ihr gewollt hatte, verständlicher wäre es gewesen, wenn sie jeden Kontakt gemieden hätte. Nur einmal, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte, hatte sie hinter die Fassade geblickt.