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Katja hatte bereits im Café gewartet und hoch zur Uhr geschaut, die Stirn in Falten gelegt. Als ihr Blick abwärts über die Fensterscheibe glitt, musterte sie ihr Spiegelbild. Johanna wollte sich durch ein Hallo bemerkbar machen, doch sie senkte die Hand wieder. Das war das Gesicht einer Fremden und sie hatte das Gefühl bei einer intimen Begegnung zu stören. Einer Begegnung im kalten Zorn.
Es waren einmal sieben Mädchen gewesen, damals, als Johanna in den Sommerferien in die Verbannung zum Großvater aufs Land, nach Eichenstövel, geschickt worden war. Johanna verzog wehmütig die Lippen; der alte Mann, der nichts mit der Enkelin anfangen konnte, sich aber bemühte, der sanfte, alte Mann mit seinen rissigen Händen, seinen traurigen, langsamen Bewegungen, er war der Letzte auf dem Hof seiner Väter.
Jetzt war wieder eine von ihnen gestorben, mit zweiundvierzig Jahren, das war eindeutig zu früh, genau wie bei Karola, Katjas Zwillingsschwester.
Sechs waren Zeuginnen gewesen und mit den Jahren wandelten sich die Bilder und Johanna fragte sich, sind das noch die Originale? Wie dieses Bild, auf dem sie Katja auf den Boden drückte, ihr das Knie auf die Schulter presste und drohte: „Wenn du ein Sterbenswörtchen erzählst, passiert dir das Gleiche wie deiner Schwester.“ Johanna hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, war überrascht, schockiert gewesen, als Katja hinter dem Gebüsch hervorgesprungen war und sie angeschrien hatte. Sie war von einer Angst gepackt worden; der Angst, ihre Mutter würde sie für immer weggeben, wenn sie wüsste, was ihre Tochter getan hatte. In ihren Ohren hallte Katjas schrille Stimme: „Mörderin!“
Es war der Sommer, in dem sie zwölf Jahre alt geworden war und in dem sie ihren ersten Kuss erhalten hatte. Es war der Sommer, in dem sie ihren Großvater zum letzten Mal sehen sollte. Aber nie hatten sie und Katja über den Sommer gesprochen, in dem der Zwilling umkam, starb, weil sie sich einen Streich erlaubt hatten. Nein, stattdessen schickte Katja jedes Jahr eine Weihnachtskarte und begrüßte sie jedes Jahr im Café. Doch jetzt war es damit vorbei.
Johanna sah auf die Armbanduhr, sie musste los zum Sender. Da sie es eilig hatte, nahm sie ein Taxi. Während der Fahrt konzentrierte sich Johanna auf Daten, Argumente, Fragen, die sie heute mit ihren Studiogästen besprechen wollte, trotzdem schweiften ihre Gedanken immer wieder ab.
Als sie durch die Tür des Funkhauses schritt, kam ihr Ulf, ihr Assistent, entgegen. Sie konnte seine Nervosität an seinem Gesicht ablesen. Die Gäste waren bereits im Studio. Johanna gab allen die Hand, entschuldigte sich für ihre Verspätung mit einem bissigen Kommentar über Berlins Taxifahrer, grüßte Frank, den Tontechniker, durch die Scheibe mit einem Nicken, dankte der Pädagogin nochmals für den Literaturtipp und der Ärztin für ihr kurzfristiges Einspringen und erklärte den Ablauf der Sendung.
Sie setzten sich und stülpten sich Kopfhörer über. Wie üblich strahlte Johanna Ruhe und Kompetenz aus, sie war ein Profi. Sie fand noch ein paar aufmunternde Worte für den Vertreter der Krankenkasse und legte Karteikärtchen vor sich ab. Plötzlich spürte sie den Impuls hinauszurennen, es war nur eine Sekunde, dann leuchtete die rote Lampe auf und Johanna begrüßte die Zuhörerinnen und Zuhörer zur Diskussionsrunde. Alle Gedanken waren beim Thema, bei den Gästen. Sie war in ihrem Element. Als nach einer Stunde die grüne Lampe aufleuchtete, verabschiedete sie sich und bevor Ulf Einspruch erheben konnte, sagte sie etwas von Kranksein und ging, sie wollte nach Hause zu Sammy. Doch Ulf holte sie auf dem Flur ein.
„Ist es vorbei?“, fragte er, wobei er sich über den Nacken strich, ein Zeichen von Anspannung. Johanna musste überlegen, bevor sie wusste, was er meinte.
„Dir brauche ich doch nicht zu erzählen, wie viel ich zu tun habe. Ich würde es dir sagen, wenn es so wäre“, sagte sie und schaute zum Fahrstuhl. Eine Aussprache über den Stand der Beziehung, wer sich von wem missverstanden, vernachlässigt oder sonst was fühlte, konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Auf diesem Feld wies sie Defizite auf. „Außerdem dachte ich, du hättest genug mit der Köchin aus der Kantine zu tun.“
Erstaunlich, wie sehr ihm das Essen dort auf einmal geschmeckt hatte und was er sich alles hatte einfallen lassen, damit die Angebetete einer Verabredung zustimmte. Sogar die Peinlichkeit, ein Gedicht vorzutragen, hatte er nicht ausgelassen, was die Holde zunächst nicht beeindruckt hatte. Johanna hatte nicht gewusst, wen sie mehr bedauern sollte, Ulf, der tapfer seinen Erstling vortrug, oder die Köchin, deren Kolleginnen nur mit Mühe ein Gelächter unterdrücken konnten. Männer, ein seltsam Völklein.
Ulf tippte Johanna an die Hand, umschloss vorsichtig ihre Finger und lächelte dieses Lausbubenlächeln. Sie liebte es. Sie liebte es, wie seine Augen strahlten, wenn er sich freute, und seine Segelohren frech mitzugrinsen schienen. Würde die kleine Kaulquappe in ihrem Bauch es von ihm, dem Erzeuger, erben? Johanna wünschte sich einen Raum herbei, indem sie Ulf Stück für Stück ausziehen, ihn mit Küssen bedecken konnte. Sex tat ihr immer gut und die Schwangerschaft schien das reinste Aphrodisiakum zu sein. Gab es hier denn keine Besenkammer oder wie wäre es mit dem Fahrstuhl? Ruhig Blut Johanna, wenn das mit deiner Libido so weiter geht, ist bald nichts mehr vor dir sicher.
„Ich mag die Köchin, aber ich mag auch meine Chefin.“ Ulf trat näher an sie ran. Sie roch sein Rasierwasser, Sandelholz, Zimt, Wacholder. „Ich mag dich sogar sehr, sehr gern.“ Das Zittern in seiner Stimme machte ihr bewusst, dass er fürchtete, sie zu verlieren. Treffer. Mitten in ihr Herz. Johanna gab der Versuchung nach und führte ihn hinauf zur Dachterrasse.
Zurück fuhr Johanna mit der U-Bahn. Noch einmal holte sie den Brief hervor und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob sie Trauer empfand, schließlich war ein Mensch gestorben, den sie zwar nicht mochte, den sie aber seit Kindheitstagen kannte. Katjas Botschaft war klar, aber sollte sie auf eine Beerdigung gehen, auf der sie wahrscheinlich die Frauen traf, die sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte? Nur Katja hatte nie locker gelassen, hatte zu jeder aus der Rabenclique den Kontakt gehalten. Sicherlich hatte sie keiner der früheren Freundinnen von einer Krankheit erzählt. Johanna biss sich auf die Unterlippe, vielleicht war es Selbstmord gewesen. Müsste Katja dann in der Hölle schmoren oder schwebte ihrem Gott eine andere Folter vor? Quatsch, sie würde nie ihr Leben beenden. Verdammt, Katja, was ging in deinem Kopf vor?
Das monotone Rollen der U-Bahn verleitete Johanna dazu, die Augen zu schließen. In letzter Zeit fühlte sie sich oftmals wie unter Betäubung. Hoffentlich kündigte sich keine Erkältung an.
Der erste Sommer beim Großvater war ihre Trotzphase gewesen. Sie fühlte sich abgeschoben, abgestraft, denn ihre Mutter hatte sie, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, der Generalswitwe von gegenüber einen Krankenbesuch abzustatten, ins Auto gepackt und sie in diesem Dorf zurückgelassen, wo sie niemanden kannte. Dabei mochte sie doch nur nicht diese Villa mit den ausgestopften Tieren und dem Geruch nach alten Möbeln. Doch ihre Mutter hatte gemeint, genug von ihrer ewigen Bockigkeit zu haben. Johanna hatte vom ersten Augenblick an nur zurück nach Frankfurt gewollt, musste aber stattdessen irgendwie die Zeit im Dorf totschlagen. Bei einem Großvater, den sie nie zuvor gesehen hatte. Also fütterte sie die Ziege Sieglinde und den grauen Friedrich, das Kutschpferd, mit Leckereien. Ansonsten gab es nur noch Hühner auf dem Hof. Oder sie stöberte durch Haus und Scheune. Meistens lag sie im Heu und träumte vor sich hin, sah sich als Prinzessin in einem Ballkleid auf einem Apfelschimmel reiten oder als Zauberin böse Menschen in Warzenschweine verwandeln.
Nach einer Woche Lustlosigkeit schickte der Großvater sie Tabak und Schokolade einkaufen. In dem Lädchen war die Verkäuferin in ein Gespräch vertieft und so sah sich Johanna um, beobachtete ein Mädchen, das mit dem Rücken zu ihr vor einem Regal stand. Es hatte einen dicken Zopf, der geflochten war und ihm bis zum Po hing. Das Haar schimmerte in Gold, bestimmt würde es sich wie Seide anfühlen. Ein Papiermobile am Schaufenster reflektierte das Sonnenlicht, sodass der Zopf grüne und rote Farbpunkte aufwies. Johanna streckte die Hand aus, strich über einen der Punkte.
Sofort bereute sie es, denn das Mädchen wirbelte herum und fauchte: „Fass mich nicht an, Froschgesicht.“
Johanna wich zurück. Die Verkäuferin hinter der Ladentheke schnalzte mit der Zunge. Woraufhin das Mädchen mit den Schultern zuckte und hinausschritt. Das war eine Prinzessin, dachte Johanna, nicht du, du bist eher, was hatte die Schöne gesagt, ein Frosch. Einen Augenblick lang stand sie da mit gesenktem Kopf, doch da fragte die Verkäuferin, was Johanna wolle. Schnell wiederholte sie, was der Großvater ihr aufgetragen hatte. Die Frau, die zuvor mit der Verkäuferin geplaudert hatte, kniff ihr in die Backe und erkundigte sich nach der Mutter. Johanna merkte, wie ihr Körper ganz steif wurde. Ohne eine Antwort zu geben, legte sie das Geld auf die Theke und stürmte mit den Einkäufen hinaus.
Auf dem Heimweg spürte sie jemanden hinter sich und drehte sich um.
„Ist was?“, sagte die Schöne mit gerümpfter Nase. Johanna wollte keinen Streit und ging weiter. „Wenn wir dahinten auf den Feldweg sind, reiß ich dir das Gestrüpp von deinem Kopf.“
Nun blieb Johanna stehen. „Ich bin größer als du.“ Egal, wo Johanna war, sie war immer das größte Kind, aber dies schien nicht die gehoffte Wirkung auf die Schöne zu haben.
„So ein gerupftes Huhn werden nicht einmal deine Eltern wiedererkennen.“
„Ich habe keine Eltern und brauche auch keine.“ Johanna wusste nicht, warum sie so antwortete. Mit solch einer Gans sollte sie nicht reden. Erst später erfuhr Johanna, dass die Feindschaft zwischen ihr und der Schönen schon viel früher gesät worden war. Eine Familiengeschichte war der Grund dafür gewesen, warum ihre Mutter das Dorf hatte verlassen müssen. Die Schöne und Johanna waren durch Blutsbande miteinander verbunden. Nun standen sich die beiden gegenüber und es war nicht klar, was als Nächstes geschehen würde.
„Claudia“, rief ein Mädchen von den Stufen des Friseurladens, „lass die Bohnenstange in Ruhe. Sie kann nichts dafür.“
„Dein Glückstag“, schnaubte die Schöne. Sie warf einen Blick auf das Mädchen, lächelte es an und schritt davon. So ein Lächeln hätte Johanna gern auch mal bekommen. Aber die Mutter freute sich nie, sie zu sehen.
„Du bist die Johanna vom Künkelbauer, du hast Eltern“, sagte das Mädchen und schob ihre Sonnenbrille zurück auf die Nase.
Ja, sie hatte gelogen und war ertappt worden, doch was ging das diese Brillenschlange an.
„Wenn man keine Eltern braucht, können sie genauso gut tot sein“, sagte Johanna.
Die Brillenschlange nickte. „Ich bin Astrid. Wir können Freundinnen werden.“
Johanna wollte keine Freunde in diesem blöden Dorf haben, aber andererseits, wenn die Schöne auf diese Astrid hörte, war es vielleicht gut, sie nicht zu verärgern. „Mal sehen“, sagte sie deshalb vorsichtig, „könnte klappen, aber ich weiß nicht, ob ich viel mit anderen reden will.“
„Das ist in Ordnung. Soll ich dir was Tolles zeigen?“
Johanna rieb sich die Nase, wirklich Lust hatte sie nicht, aber wenn es hier was Tolles zu sehen gab, dann könnte sie ausnahmsweise mitgehen.
Sie folgte Astrid über die Dorfstraße an der Sparkasse und der Bushaltestelle mit der wuchtigen Kastanie vorbei in eine Seitenstraße, bis sie in eine mit Unkraut überwucherte Einfahrt abbog und vor einem Abbruchhaus stehen blieb. Johanna schaute sich um, toll war hier nichts, doch da zeigte Astrid mit dem Finger auf den Boden. An der Mauer hockte ein Spatz.
„Sein Flügel ist gebrochen“, erklärte Astrid, „kannst den ruhig anfassen, der fliegt nicht weg.“
Johanna ging vor dem Winzling in die Hocke. Er tat ihr leid. Behutsam nahm sie ihn in die Hand. Ein Tierarzt müsste dem Kleinen helfen können und sie würde ihn pflegen bis er wieder fliegen könnte.
Astrid trat neben sie, nahm die Sonnenbrille ab und musterte Johanna, die sich auf einmal selbst klein vorkam. „Der Vogel wird nicht wieder.“ Es war kein Bedauern in der Stimme. Sie tippte dem Spatz auf den Kopf und nahm ihn Johanna ab. Sie besah sich ihn von mehreren Seiten und plötzlich holte sie mit dem Arm aus und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand.
Johanna glaubte nicht, was sie sah, starrte mit offenem Mund den toten Vogel an.
Astrid verzog die Mundwinkel nach unten. „Ich habe dir gesagt, der schafft es nicht mehr.“ Sie blickte Johanna an, die noch immer starrte. „Ich habe dir nichts vorher gesagt, weil Leute aus der Stadt zimperlich sind, aber ich zeige dir was anderes Tolles.“
Johanna wollte nur noch nach Hause, doch Astrid packte sie an den Arm. „Stell dich nicht so an. Ich musste es tun. Er hatte Schmerzen.“
Johanna nickte, vielleicht hatte Astrid Recht, bestimmt hatte sie Recht, warum hätte sie es sonst tun sollen? Aber bei Astrid, das lernte Johanna schnell, konnte man nie sicher sein, warum sie etwas tat. Das war ihre erste Lektion gewesen. Damals vor dreißig Jahren.
Fast hätte Johanna ihre Haltestelle verpasst, war jedoch im letzten Moment aufgesprungen und hinausgeeilt. Der folgende Fußmarsch lockerte ihre Muskeln und sie fühlte sich schon besser, als sie zu Hause ankam. Johanna steckte den Hausschlüssel in die Tür. Nadja, ihre Lieblingshilfe, lugte hinter der Küchentür hervor.
„So früh habe ich Sie gar nicht erwartet“, ertönte es fröhlich.
Johanna lächelte zurück. Nadjas Anblick war immer eine Freude. Ihr Struwwelkopf verschwand wieder hinter der Tür und sie begann leise, bei der Arbeit zu pfeifen. Johanna lehnte sich an die Garderobe. Die Schuhe auszuziehen, verursachte ihr auf einmal Schwindel und sie verspürte den Wunsch, allein zu sein, allein mit Sammy. Vielleicht brütete sie tatsächlich etwas aus, in der Stadt schwirrten überall Bazillen herum, jeder Nieser ein Treffer. Nein, das tat sie nicht, sie war einfach nur schwanger.
„Nadja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie heute ein paar Überstunden abfeiern.“
Aus der Küche kam ein „Super!“ Johanna schmunzelte, diese Nadja, eine Frohnatur, von der sie sich ein Stück abschneiden konnte. Nadja kam in den Flur, schlüpfte in ihre Jacke.
„Das dumme Ding macht nur Probleme“, sagte sie, während sie vergeblich am Reißverschluss fingerte.
Johanna zwinkerte ihr zu, zog den Reißverschluss mit einem Ratsch hoch. Das veranlasste Nadja zu einem Jauchzer und sie umarmte Johanna. Für eine Sekunde genoss Johanna die Wärme und den Duft von Vanille auf Nadjas Haut.
Pudding in den Geschmacksrichtungen Vanille, Schokolade, Erdbeere und Karamell. Pudding stand für das Gefühl, bei Freunden zu sein, willkommen zu sein. Auch diese Art von Gefühlen war mit dem Dorf verbunden.
Bei ihrem ersten Besuch war Johanna durchs Dorf geschlendert und hatte Quietschmusik aus einem der Häuser gehört. Sie kam nicht vom Plattenspieler oder aus dem Radio, es war ein Instrument, sie vermutete eine Geige. Dem wollte sie nachgehen und näherte sich einem der offen stehenden Fenster.
Die Fensterbank war niedrig und sie konnte problemlos die Unterarme aufstützen und hineinspähen. Da saß ein sommersprossiges Mädchen auf einem Stuhl und zwischen ihren Knien war eine riesige Geige eingeklemmt. Johanna hörte bis zum letzten Ton zu.
„Gefällt es dir?“, fragte das Mädchen und eine Zahnlücke kam zum Vorschein.
Es legte den Bogen auf den Tisch und stellte das Instrument auf der Seite ab, kam zu Johanna, neigte den Kopf, bis er fast die Schulter berührte und verharrte wie ein Standbild.
„Was ist das für ein Instrument?“, stotterte Johanna angesichts dieses Verhaltens. Sogleich wurde sie rot, wie hörte sich das denn an, sie war doch keine Bekloppte.
„Wenn ich groß bin, werde ich Weltbestencellistin. Und du?“
Mit was sollte sie Weltbeste werden? Sie zuckte nur mit den Achseln, jetzt würde das Cellomädchen bestimmt nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.
Es sagte auch sogleich, es müsse weiterüben. Da öffnete sich die Zimmertür.
„Beatrice“, brummte ein Zweimetermann im Overall, „du hockst mir nicht den ganzen Tag in der Stube, ab nach draußen.“ Schwupp ging die Tür wieder zu.
Das Mädchen namens Beatrice verdrehte die Augen. „Wenn meine Mutter hier wäre, könnte ich weiterspielen.“ Sie runzelte die Stirn und schaute rüber zu ihrem Cello, kletterte dann jedoch aus dem Fenster. „Meine Mutter“, sagte sie, „hat mir versprochen, wenn ich gut bin, bekomme ich Stunden bei einer Musiklehrerin und nicht, wie jetzt, bei Fräulein Otto.“
Johanna konnte sich nicht vorstellen, was daran toll sein sollte, drinnen sitzen und den ganzen Tag üben zu müssen. Auf einmal schien Beatrice durch sie hindurchzublicken. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begann langsam im Takt mit dem Oberkörper zu wippen. Johanna wusste nicht, was sie tun sollte, warten oder gehen.
Vielleicht war diese Beatrice nicht richtig im Kopf. Johanna erinnerte sich, wie ihre Mutter gesagt hatte, die Leute aus dem Dorf seien alle Idioten. Außerdem was für ein Name. Klang nach Kneifzange. Wenn Eltern ihr Kind liebten, würden sie es Isabella oder Arabella, aber sicherlich nicht Beatrice nennen. Nein, sie würde nicht Beatrice genannt werden wollen, aber ihren Namen mochte sie auch nicht. Sie wollte nicht wie eine Tote heißen, das war unheimlich. Schuld daran war ihr Vater, denn seine Schwester, die nur zwei Jahre alt geworden war, war eine Johanna gewesen und wenn Johanna ein Junge geworden wäre, dann hätte sie den Namen Franz Josef, von ihrem Großonkel, bekommen. Glücklicherweise war sie ein Mädchen.
Wieso jemand Astrid hieß, grübelte Johanna weiter, verstand sie auch nicht. Früher in der roten Kindergartengruppe gab es eine Astrid, die immer mit Arschtritt gehänselt worden war. Die Brillenschlange würde niemand Arschtritt rufen, das würde keiner wagen, da war sich Johanna sicher. In der Gruppe, fiel ihr ein, hatte es auch eine Mercedes gegeben, über die keiner gelacht hatte, was Johanna verwundert hatte, bis sie erfuhr, dass das Mädchen nicht nach einem Auto benannt worden war, sondern der Name schon vor dem Auto existierte. Gut, dass sie nicht gelacht hatte, dann hätte sie als Dumme dagestanden.
Plötzlich wurde sie durch ein Poltern aus ihren Gedanken gerissen. Da stand der Zweimetermann und blickte mit zusammengeschobenen Augenbrauen zu ihnen hinüber. Sofort zog Beatrice sie mit sich: „Lass uns zu meiner Freundin Maria gehen.“
Nach kurzer Zeit war bei Maria der Teufel los. Es gab zwei Sofas, dazwischen einen Eichentisch und auf denen hüpften nun Johanna und Maria unter Kriegsgeheul hin und her. Die Sofas besaßen eine gute Federung und die Kissen waren ideale Wurfgeschosse. Beatrice wollte nicht mitmachen, aber sie sammelte die Kissen wieder ein und sorgte somit für Nachschub. Maria war flink wie ein Wiesel und konnte kräftige Schläge mit dem Kissen austeilen.
„He, du, magst du Schokoladenpudding?“, schrie sie.
Johanna musste erst einmal einen Lachanfall überstehen, bevor sie antworten konnte.
„Regenwürmer, die esse ich lieber. Und du?“
Maria kicherte. „Regenwürmer“, sagte sie, „mag ich, aber nur in Schokoladenpudding“, worauf sie mit einem Kissen umgehauen wurde, alle Viere von sich streckte und losprustete, „und Spinnen am liebsten in Vanillepudding.“
Johanna sprang auf den Boden und rieb sich über den Bauch, „lecker, und Kröten in Erdbeerpudding.“
Das war das Startzeichen für Maria und die drei machten sich ans Werk. Vanillepudding wurde gekocht.
Ein paar Minuten später kamen Zwillinge in die Küche. Es war unmöglich sie zu unterscheiden. Das gleiche Haar, die gleiche Kleidung. Johanna versuchte trotzdem, einen Punkt in ihren Gesichtern auszumachen, an dem sie einen Unterschied fand. Ein Zwilling, das war eine feine Sache. Gern hätte Johanna auch einen gehabt. Die Zwillinge tuschelten miteinander, neckten sich und machten sich einen Spaß daraus, Johanna zu fragen, wer Katja und wer Karola war. Ein lustiges Paar.
Kaum war der Pudding in die Schüssel geschüttet und in feierlicher Prozession ins Wohnzimmer getragen worden, tauchte Claudia auf. Johanna erwartete Stunk, doch Claudia benahm sich als wäre Johanna Luft, damit war Johanna einverstanden.
Doch als sie draußen Himmel und Hölle spielten, flüsterte Claudia ihr zu: „Niemand will dich Vogelscheuche hier haben.“
Claudia hatte nie ihre Meinung geändert, und Johanna war sich sicher, dass dies auch in hundert Jahren nicht geschehen würde.
Johanna ging hinaus auf die Terrasse. Sie legte ihrem Mann zur Begrüßung die Arme um die Taille und küsste ihn auf den Hals. Sammys Körper beruhigte sie immer, ließ sie zur Ruhe kommen. Er schaute in den Garten, das konnte er stundenlang. Die Vögel, das Rascheln der Blätter, das Eichhörnchen, das Summen der Bienen, die Farben der Blumen konnten seine Aufmerksamkeit erheischen. Er schien zufrieden, egal, ob sie da war oder nicht. Glücklicher Sammy. Verfluchter Tauchunfall. Er konnte sich seitdem nur noch eingeschränkt bewegen und Gesichter schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Er lebte in seiner Welt. Dazu gehörte, dass sie das Esszimmer zu seinem Zimmer umgebaut hatte, da es so für alle leichter war. Seufzend richtete sie sich auf, sie würde das Mittagessen kochen müssen. Die Kinder würden bald aus der Schule kommen.
Johanna kramte in dem Wandschrank nach Puddingpulver, fand jedoch keins. Also sollte es wenigstens Kartoffelpüree mit Spinat und Fischstäbchen geben, dazu Spiegeleier. Ihr Leibgericht als Kind. Aus dem Keller holte sie einen Eimer Kartoffeln und begann zu schälen. Es war befriedigend zu sehen, wie leicht das Schälmesser über die Kartoffeln glitt und ein Stück nach dem anderen wegschnippte. David konnte Berge an Essen verputzen. Johanna verstand nicht, wo er das alles ließ, er war rank und schlank. Manchmal bestellte er sich noch spät abends eine Pizza. Vor ihm war kein Vorrat im Haus sicher und in seinem Zimmer stapelten sich leere Chipstüten, Schokoladenpapier und anderes Zeug. Sara dagegen war die Disziplin in Person. Für ihren Körper kamen nur ausgewählte Zutaten auf den Teller. Alles war dem Ziel einer Ballettkarriere untergeordnet. Johanna musste schmunzeln, Sara wusste genau, was sie wollte.
Sie sah Sara noch als kleines Mädchen vor sich, wie sie ihren Bruder an der Hand gehalten hatte. Sara, so ernst mit ihren großen Augen und den aufeinander gepressten Lippen, wie sie Johanna kommen sah, die Frau, die ihr Vater ein paar Mal mit nach Hause gebracht hatte. David, der vor sich hin träumte und Johanna erst bemerkte, als seine Schwester ihn anschubste. Sammy hatte angerufen, Johanna gebeten, seine Kinder vom Kindergarten abzuholen, da er es nicht mehr rechtzeitig aus dem Stau schaffen würde. Er wollte nicht, dass die Kinder auf ihn warten mussten, wie damals bei ihrer Mutter, die nie ankam, weil ein angetrunkener Autofahrer ihr die Vorfahrt genommen hatte. Das waren feste Bilder in Johannas Kopf.
Auch an Saras ersten Schultag erinnerte sich Johanna. Der orangefarbene Tornister, die grüne Zuckertüte, das Karokleidchen und Saras Schwanken zwischen Freude und Furcht. Sammy hatte gemeint, David solle auch eine Tüte bekommen, damit er nicht leer ausgehe, doch Johanna fand, das sei keine gute Idee. Der liebe Sammy, immer darauf bedacht jeden zu umsorgen. Nein, das war Saras großer Tag. Sie sollte im Mittelpunkt stehen und sicherlich würde sie ihrem Bruder auch von ihren Süßigkeiten abgeben. David würde seinen großen Tag im nächsten Schuljahr haben. Dann die Fahrt mit dem Auto. Sara schwieg. Sammy versuchte, sie mit Scherzen aufzumuntern. Und als sie ausstiegen, auf diesem Parkplatz standen, nahm sie Sammys und Johannas Hand. Sie blickte hoch zu Johanna und sagte: „Mama, du kommst doch mit?“
Für Johanna war es in Ordnung gewesen, dass die Kinder sie bisher mit ihrem Vornamen angeredet hatten. Die Kinder waren ein Teil von Sammy und somit hatte sie die Kinder als einen Teil ihres Lebens akzeptiert. Ohne es sofort zu bemerken, hatte sie sich in die Kinder verliebt und da vor der Schule hatte Sara sie zum ersten Mal Mama genannt.
Dagegen hielt Johanna es für unwahrscheinlich, dass ihre Eltern sie liebten. Das war keine große Erkenntnis, kein großer Schmerz. Es hatte Kämpfe gegeben, aber die waren lange her. Sie waren ausgefochten, die Positionen klar.