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Am leichtesten war es mit ihrem Vater gewesen, der selten in Erscheinung trat. Er hatte seine Arbeit als Chefredakteur und er hatte zu Hause sein Arbeitszimmer, in das er sich nach dem Essen zurückzog, um ein Buch zu lesen und einen Rotwein zu genießen. Bei Tisch, dort wo sie ihn am häufigsten sah, durfte nicht geredet werden.
Ein einziges Mal hatte er seine Tochter in sein Reich gebeten. Johanna wollte die Schule verlassen und eine Ausbildung als Goldschmiedin beginnen. Endlich würde sie weg können, ihr eigenes Leben genießen in einer kleinen Wohnung. So ihre Hoffnungen. Sie hatte heimlich Bewerbungen verschickt, doch dann hatte ihre Mutter es herausgefunden und gepetzt.
Der Vater redete, sie hörte zu. Seine Tochter würde Abitur machen und studieren. Was, das könnte sie selbst entscheiden. Ende des Gesprächs. Er verlangte nicht viel von seiner Familie, nur ein vorzeigbares Bild von Ehefrau und Tochter. Ein Bild, das seiner Position und seinem Selbstverständnis entsprach. Widerspruch duldete er nicht und war ihn auch nicht gewohnt. Also war ihr Fluchtversuch gescheitert, ihr Mut hatte nicht ausgereicht.
Ihr Vater war ein schöner Mann, ein kluger Mann, auf den sie als Kind stolz gewesen war. Sie erinnerte sich immer gern daran, wie sie ihn gebeten hatte, zum Elternsprechabend zu gehen. Überraschenderweise tat er ihr den Gefallen. Ihr schöner Vater in dem gestärkten Hemd und dem Maßanzug, als wäre er einem Katalog entsprungen, ging zu dieser schrecklichen Lehrerin, die Johanna das Leben schwer machte, sie an der Tafel vorführte, sie mit ihrem Blick hypnotisierte. Die Rechnung ging auf. Seit diesem Abend hatte die Lehrerin sie nicht mehr malträtiert, sogar Nachsicht gezeigt, wenn sie eine Erklärung nicht verstand. Als Kind hatte Johanna schnell begriffen, dass Frauen sich in der Nähe ihres Vaters auffällig benahmen. Ihre Stimmen wurden höher oder weicher, sie zupften an Haar und Kleidung herum oder hingen an seinen Lippen und ständig lächelten sie. Rudi, ein Nachbarsjunge, den sie nur doof fand, pflegte für solche Fälle immer die flache Hand auf seine Faust zu klopfen und „ficke, ficke Kuchen“ zu johlen. Am liebsten hätte sie ihm dafür eine gescheuert, aber das hätte nur Ärger gegeben. Natürlich hatte sie gewusst, was damit gemeint war, sie war kein dummes Kind gewesen.
Ihre Mutter dagegen war immer und überall da gewesen, nicht, dass sie sich Zeit für Johanna genommen hätte, dafür gab es genug im Haushalt und im Garten zu tun, aber morgens mäkelte sie bereits an Johannas Haar herum, das ihr nicht gekämmt erschien, mittags beschwerte sie sich, dass Johanna undankbar sei, weil ihr das Essen nicht schmeckte, nachmittags störte sie Johanna bei den Hausaufgaben, um im Kinderzimmer zu putzen und abends kontrollierte sie Zähne und Ohren. Oft hatte sich Johanna gewünscht, ihre Mutter würde irgendwo arbeiten gehen, so wie bei Claudia. Glückliche Claudia.
Johanna hatte immer gespürt, dass sie nicht die Tochter war, die ihre Mutter sich gewünscht hatte. Nie war sie mit ihr zufrieden gewesen. Im Supermarkt hatte sie einer Frau von einem Missgeschick ihrer Tochter erzählt. Sie fanden das lustig und dann hatte die Mutter noch gemeint, „unsere Johanna ist ein Sturkopf“, und hatte amüsiert den Kopf geschüttelt, „dabei habe ich mir immer ein Schmusekind gewünscht.“ Johanna hatte einen Klumpen im Magen gefühlt. Ja, die Mutter wollte ein Kind mit blondem, langem Haar, in das sie Schleifen binden, und dem sie schöne Kleidchen anziehen konnte. Johanna ließ die Eier aus dem Karton auf den Boden plumpsen. Sie wusste, wie sie die Nerven ihrer Mutter reizen konnte.
Genauso hasste ihre Mutter es, wenn sie mit ihren dreckigen Gummistiefeln über den Parkettboden lief. Ein Abdruck nach dem anderen, gekonnt gesetzt. Die Mutter schlug sie nie mehr als einmal, aber dafür war es stets ein Schlag mit voller Kraft. Er schien aus heiterem Himmel zu kommen, obwohl sie wusste, dass er kommen würde, wie ein Fallbeil. Bei einem Schlag flog sie sogar gegen den Türgriff, was eine Riesenbeule hervorrief. Ihre Mutter wendete sich dann ab, ging irgendeiner Beschäftigung nach, als sei nichts geschehen. Neben dem Schmerz, der Demütigung fühlte Johanna Überlegenheit. Ihre Mutter verlor die Kontrolle, wenn ihre Tochter es darauf anlegte, dabei war sie nur ein Kind.
Und ihre Mutter musste den Vater fragen, wenn sie neben dem Haushaltsgeld Ausgaben plante. Johanna dagegen bekam ein großzügiges Taschengeld von ihrem Vater. Reitunterricht und Hockey oder was immer Johanna gerade ausprobierte, zahlte er. Der Vater war der Meinung, Johanna könne gut mit Geld umgehen, denn sie investierte nicht alles in Süßigkeiten oder Spielzeug. Das war die einzige Anerkennung, die ihr Vater jemals geäußert hatte. Umso mehr hasste Johanna es, wenn ihre Mutter sie zum Vater schickte, damit sie ihn anlog und nach Geld für sich fragte, das die Mutter dann nahm. Wenn möglich, tat Johanna nur so, als habe sie den Vater gefragt und gab der Mutter ihr Erspartes, das sie für diese Fälle ansammelte. Auf diese Weise hatte Johanna den Umgang mit Geld gelernt.
Das Mittagessen war rechtzeitig fertig, als David in die Küche kam, seiner Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gab und sich gleich einen Berg von Püree, Spinat und Fischstäbchen auf den Teller häufte. Sara grummelte nur ein Hallo, schaute in die Töpfe und verkündete, sie wolle erst später essen. Schon war sie auf ihrem Zimmer verschwunden. David dagegen verschlang sein Essen mit Appetit. Johanna setzte sich zu ihm und hörte ihm zu, wie er mit Glanz in den Augen von seiner Bandprobe erzählte. Zu seinem Geburtstag hatte ihm Johanna, wie gewünscht, eine Gitarre geschenkt und kaum konnte der Junge drei Griffe, hatte er mit seinen Schulfreunden eine Band gegründet und wollte auf dem nächsten Schulfest spielen. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht. Johanna schüttete ihm sein Glas nach. Sammy und sie hatten einen tollen Jungen großgezogen. Einen Jungen, dem es mit Fünfzehn nicht peinlich war, seine Mutter zu umarmen oder zu küssen, selbst nicht vor anderen Leuten. Natürlich war er auch ein Schlawiner, der wusste, wie er von seiner Mutter das bekam, was er wollte, aber er kannte seine Grenzen.
Und sie würde dem neuen Kind ebenfalls eine gute Mutter sein. Wie um sich selbst zu bestärken, reckte sie das Kinn vor. David würde sich über einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester freuen. Sie sah es schon vor sich, wie David mit dem Hosenscheißer Bauklötze aufeinandertürmte oder einem Ball nachjagte. David würde die Rolle als großer Bruder gefallen. Sara dagegen, oh je, an Sara durfte sie nicht denken. Seit zwei Jahren stritten sie über jede Kleinigkeit und das lag nicht an der Pubertät. Angefangen hatten die Schwierigkeiten damit, dass Johanna eine Traumreise in die Karibik für Sammy und sich organisiert hatte. Ja, sie hatte Sammy zum Tauchen in den Korallenriffs überredet. Und in Saras Augen trug sie damit die Schuld an dem Unfall, an allem was folgte. Sara kannte keine Gnade, nur zeitweiligen Waffenstillstand.
Nachdem David ebenfalls auf sein Zimmer gegangen war, setzte sich Johanna noch eine Weile zu Sammy. Wenn sie bei ihm war, nahm sie seine Hand. Da hockten sie dann wie ein altes Ehepaar. Johanna gefiel die Vorstellung; sie und Sammy mit grauem Haar, auf der Haut Spuren der Zeit und dankbar, dass sie sich noch immer hatten.
„Sammy“, sagte sie, „würde es dir gefallen, einen süßen Fratz auf deinem Schoß sitzen zu haben, einen, der sich an dein Bein klammert und seine ersten Schritte versucht?“
Johanna küsste seine Fingerknöchel, einen nach dem anderen. Sie vermisste es, von ihm in den Arm genommen zu werden, wie er ihren Namen aussprach, sein Strahlen, wenn er sich über einen Erfolg freute, seinen tadelnden Blick, wenn sie sich in etwas verrannt hatte. Sie vermisste ihn. Wenn sie könnte, sie würde immer an seiner Seite bleiben, alles andere vergessen. Nur sie beide, Körper an Körper, für alle Zeit. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und begann, ein Lied zu summen. Als David sich noch vor Monstern unter seinem Bett gefürchtet hatte, hatte sie es ihm vorgesungen bis er eingeschlafen war. Sammy liebte ihre Stimme.
Sie nahm sich eine der Zeitschriften vom Gartentisch zur Hand und las ihm vor, was, das war egal. Früher mochte er Historienromane und Reiseberichte. Früher war er auch ein leidenschaftlicher Koch gewesen, der die Küche als sein Experimentierfeld ansah, jetzt aß er nur Frikadellen oder Knackwürstchen mit Käse überbacken, trank statt Cognac lieber Malzbier. Johanna würde ihm gleich das von Nadja vorbereitete Mittagessen in die Mikrowelle stellen.
In der Zeitschrift begutachtete Johanna ein paar Frisuren. Eine Hochsteckfrisur fand sie pfiffig. Das wäre eine Gelegenheit, mal wieder etwas mit Sara zu unternehmen, überlegte Johanna. Sie streifte ihre Ohrclips ab und massierte ihr Ohrläppchen. An die Geschichte, die ihr daraufhin in den Sinn schoss, hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Katjas Tod spülte einiges an Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis hervor. Ihre Opfergabe für die Rabenclique.
Anfangs hatte Johanna nicht mit der Clique auf Streifzüge durch Wald und Wiesen gehen oder am See baden können. Nur auf den Puddingpartys bei Maria tolerierte Claudia sie. Daher verbrachte Johanna die meiste Zeit mit Astrid und manchmal spielte sie auch mit Maria. In den zweiten Sommerferien änderte sich dies jedoch.
Astrid nahm sie mit zum Knusperhäuschen, wo laut Astrid die älteste Frau der Welt, älter als jede Schildkröte, lebte. In der Tat war Tante Heide hundert Jahre alt, was Johanna zunächst gar nicht glauben wollte. Eine so alte Frau hatte sie sich krumm und buckelig vorgestellt, mit Falten so tief wie Gräben, doch die Tante sah aus wie eine Oma aus den Märchen mit weißem Haar und rundlicher Figur. Höchstens achtzig, hatte sie Astrid später zugeflüstert. Johanna fand es schön, dass die Leute aus dem Dorf sich um die alte Frau kümmerten. Sie brachten ihr jede Woche die Einkäufe nach Hause, putzten die Fenster, reparierten das Dach, hackten das Holz, holten sie an Weihnachten und Ostern mit der Pferdekutsche zur Kirche ab und schauten überhaupt nach, ob es ihr gut ging. Tante Heide war früher die Hebamme im Dorf gewesen. Sie hatte sogar Claudias Großmutter, die Frau Bürgermeister, auf die Welt geholt und da war sie auch schon alt gewesen, hatte Claudia herablassend Johanna erklärt.
Mit dieser Aussage von Claudia fühlte Johanna sich gewarnt, denn bei allem was ihre verstorbene Großmutter betraf, verstand Claudia keinen Spaß. Immerhin beleidigte oder schubste sie Johanna nicht bei Tante Heide; wieder ein Platz mehr, an dem Claudia sie nun duldete, was Johanna Astrid zu verdanken hatte, denn sie war nicht von ihrer Seite gewichen, bis Claudia mit Johanna gesprochen hatte.
In Anwesenheit von Erwachsenen benutzte Claudia nie Kraftausdrücke, prügelte sich nie, schließlich war sie die Enkelin des Bürgermeisters und ein ungebührliches Benehmen hätte ihre Mutter nicht geduldet. Wenn sie jedoch unter sich waren, kannte Claudia keine Hemmungen. Nicht, dass sie jemals ein Mädchen aus ihrer Bande geschlagen hätte, aber wer nicht dazu gehörte, durfte keine Gnade erwarten. Johanna kannte die Geschichten von Kindern und was ihnen geschehen war, wenn sie Claudias Zorn heraufbeschworen hatten. Die Strafe für die Kinder, wenn etwa Beatrice wegen ihrer komischen Bewegungen geärgert wurde, folgte stets auf dem Fuß, sodass es im Dorf keine mehr gab, die es sich mit Claudia verscherzen wollten. Einzig und allein sie, Johanna, wurde von Claudia gehasst und nichts, was sie tat oder sagte, keines ihrer Friedensangebote, schien daran etwas ändern zu können.
An diesem Tag wollten die Mädchen Tante Heide einen Apfelkuchen backen. Das hatte Claudia vorgeschlagen, die sogleich das Zepter in die Hand nahm, schließlich war es ein Rezept ihrer Großmutter. Äpfel mussten geschält, Mehl gesiebt, Eier getrennt werden. Die Zwillinge kneteten den Teig und wurden von Claudia ermahnt, nicht alles vorher aufzulecken. Es war ein geschäftiges Treiben in der Küche und Claudia suchte alle Schränke nach Cognac ab, weil die Apfelstücke und die Rosinen unbedingt damit beträufelt werden mussten.
Das Gelächter, Geplapper und Geschepper drang durch die offen stehende Tür nach draußen, wo Johanna mit Tante Heide auf der Holzbank saß. Claudias Blick bei Johannas Versuch, beim Backen zu helfen, hatte Johanna abgeschreckt und daher leistete sie lieber der alten Frau Gesellschaft.
Johanna hatte die Tante auf Anhieb gemocht, die sich gefreut hatte, Johanna kennenzulernen, ihr über die Wange gestrichen hatte und sich nun mit ihr auf der Bank unterhielt, sie nach ihrer Mutter fragte und sagte wie schön es sei, dass Johanna wieder daheim in Eichenstövel sei. Das Dorf war ganz und gar nicht ihr Zuhause. Nun, alte Menschen waren manchmal sonderbar, aber das war nicht schlimm.
Warum wusste Johanna auch nicht, aber plötzlich fing sie an, ein Lied zu summen, worauf die Augen der Tante aufblitzten. Sie wirkten auf einmal wie die Augen eines Mädchens, das seine Geburtstagsgeschenke betrachtet.
„Wo Menschen Lieder singen, gibt es keine bösen Menschen“, sagte sie verschmitzt, „das wurde in meiner Familie immer gesagt.“
Johanna konnte nicht anders, als die Tante anzulächeln und zu singen: „Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit.“
Die Tante klatschte in die Hände, dann fiel sie mit ein.
„Was für eine schöne Stimme du hast, mein Kind“, sagte sie zum Schluss. Nun kicherte sie auch noch wie ein junges Mädchen.
Johanna fühlte ihre Brust vor Stolz anschwellen und sogleich stimmte sie das nächste Lied an. Nach und nach kamen die anderen zu ihnen, Maria, Beatrice, Astrid, die Zwillinge und schließlich auch Claudia und alle sangen mit, bis der Duft des Apfelkuchens ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und sie sich endlich über ihn hermachen konnten. Riesenportionen Sahne gab es dazu und Claudia war mit ihrem Werk zufrieden, was sie milde stimmte. Nach dem Gelage, zu dem es auch Kakao gegeben hatte, lagen sie mit ihren vollen Bäuchen überall verteilt herum wie die Kätzchen bei einem Mittagsschlaf; die Zwillinge zusammen in dem Ohrensessel, Beatrice unter dem Tisch auf dem Wollteppich, Astrid und Claudia unter dem Birnenbaum, Maria in dem Autoreifen auf dem Rasen und Johanna auf der Bank neben der Tante, die in der Sonne döste und ab und zu blinzte, um zu schauen, ob all ihre Kätzlein da waren.
Als sie sich dann alle auf den Weg machen wollten, fragte die Tante, was sie denn heute am Johannestag noch vorhätten. Die Mädchen schauten sich an, keine wusste, mit diesem Tag etwas anzufangen.
Die Tante hob ihren Zeigefinger an den Mund, „na so was, wisst ihr denn nicht, dass der heilige Johannes an diesem Tag enthauptet wurde?“
Die Mädchen schüttelten die Köpfe, schon wieder einer dieser Heiligen. Die Armen mussten immer so leiden, wurden mit Pfeilen durchbohrt, von Löwen gefressen oder bei lebendigem Leibe gegrillt und das Gruselige war dabei, dass sie dennoch guckten, als würden sie es erdulden wollen.
„Dann wisst ihr auch nicht“, sagte die Tante weiter, „dass man an diesem Tag Kräuter sammelt und über Türen und ans Fenster hängt, damit das Haus geschützt ist?“
Nein, davon hatten sie auch noch nie was gehört.
„Welche Kräuter denn?“, fragte Claudia.
Die Tante überlegte: „Kamille, Thymian, Bärlapp, Beifuß, Arnika, Ringelblume und Johanniskraut, an die erinnere ich mich.“ Sie rieb ihr Kinn, dann fuhr sie fort zu sprechen. „Wir tanzten um das Feuer, wunderbar, und sprangen über die Flammen.“ Ihre Augen bekamen wieder diesen Glanz. „So waren wir das Jahr über vor Unheil und Krankheit geschützt. Kinder, ihr müsst immer auf eure Gesundheit achten.“
Auf dem Weg ins Dorf verkündete Claudia, sie müssten auch so ein Feuer machen. Die Zwillinge waren wie immer von Claudias Ideen begeistert und begannen laut durcheinanderzuplappern, doch sofort gebot Claudia Einhalt. Sie könnten erst dann weiter darüber reden, wenn Johanna nicht mehr dabei sei, schließlich gehöre sie nicht zum Clan der Raben. Johanna versetzte es einen Stich, so sehr hatte sie gehofft, dazu zu gehören, hatte geglaubt, Claudia würde sie nach dem heutigen Tag nicht mehr ausschließen. Schweigen herrschte, doch dann hörte sie Astrids Stimme.
„Wir sollten abstimmen, ob wir Johanna aufnehmen.“
Außer Claudia nickten alle, aber sie beugte sich der Mehrheit. „Also gut“, sagte sie, „wer ist dagegen?“ Claudia streckte die Hand in die Luft, die Zwillinge schlossen sich ihr wie gewohnt an. „Das ist ein Unentschieden und damit kann sie nicht bei uns mitmachen.“ Sie zuckte die Achseln, als ließe sich daran nun mal leider nichts ändern, aber Astrid gab nicht auf, sie wollte für ihre Freundin einstehen.
„Die Zwillinge gelten nur als eine Stimme“, entgegnete Astrid. Der eine Zwilling schaute Claudia an, der andere erhob sogleich Protest, den Astrid mit einer Handbewegung wegwischte. „Sie waren mal ein Mensch, kriegen also auch nur eine Stimme.“ Astrid verschränkte ihre Arme vor die Brust.
Claudia musterte Astrid: „Gut, aber sie muss ein Opfer bringen.“
Damit erklärte sich Astrid einverstanden. Alle schienen zufrieden, nur Johanna wurde mulmig zumute, was für ein Opfer? Als sie mit Astrid allein war, fragte sie nach.
„Mach dir nicht in die Hosen. Sie wird dir schon nicht den Kopf abhauen.“ Jetzt wurde Johanna richtig nervös. Der heilige Johannes wurde enthauptet und heute war das Johannisfest. Nun gut, Claudia würde ihr nicht den ganzen Kopf abhacken, das wäre Mord, aber vielleicht würde sie ein bisschen daran herumschnippeln, das wäre ein Opfer. Johanna wurde übel, sie traute Claudia nicht, nein, sie würde am Abend nicht auf der Wiese wie verabredet erscheinen. Astrid sah ihr die Ängstlichkeit an.
„Wenn du nicht kommst, werde ich nie wieder deine Freundin sein“, sagte sie verärgert. „Schisshasen kann ich nicht leiden.“
Was sollte sie tun, sie wollte Astrids Freundin bleiben. Ihr blieb also keine Wahl.
Im Dämmerlicht wirkte die Sommerwiese als wäre sie mit Magie überzogen. Die Rabenkinder hatten bereits Holz gestapelt, duftende Kräuter drüber gestreut und Steine angeordnet. Auf dem Boden lag ein Teppich aus Blütenblättern. Jedes Mädchen hatte sich Blumen ins Haar geflochten. Claudia sah in ihrem weißen Kleid aus wie eine Elfenkönigin, nur steckte in ihrer Blumenkrone eine Rabenfeder. Sie nahm Johanna bei der Hand und führte sie zum Steinkreis. Dort sprach sie Worte aus, die wie Zauberworte klangen, fremd und geheimnisvoll. Johanna bekam eine Gänsehaut. Sie sagte sich, dass alles nur ein Spiel sei. Johanna, stell dich nicht bescheuert an, mach mit, das sind deine Freundinnen. Es ist ein Abenteuer und du darfst dabei sein.
Rasch brach die Dunkelheit herein. Astrid und ein Zwilling zündeten das Feuer an. Es sah schön aus, das Orange und das Blau und das Gelb. Claudia legte ihr die Hände auf die Schultern, drückte sie auf die Knie runter, während die anderen Mädchen zuschauten. Der Himmel war schwarz, die Welt war schwarz, außer das Fleckchen Wiese, auf dem sie standen, mit dem Feuer, mit den Blumen, in ihren weißen Kleidern, an denen eine Feder befestigt war. Plötzlich spuckte Claudia ihr ins Gesicht, was Johanna erstarren ließ. Die Spucke rann ihr die Stirn hinab. Claudia war hinterhältig, war gemein. Sie hätte es wissen müssen. Doch dann beugte Claudia sich zu ihr hinunter und strich mit ihrer Feder die Spucke weg. Johanna hörte Claudia wieder diese Zauberwörter sagen.
„Rabenkind“, sagte sie dann weiter, „aus meinem Mund erfährst du deinen Namen.“ Sie trat hinter Johanna, legte die Hand auf den Kopf und drückte ihn hinunter zu den Feuersteinen. Nun zog sie das linke Ohrläppchen auf einen der Steine.
Wieder überkam Johanna ein Schrecken. Oh, nein, sie will nicht den Kopf, sondern das Ohr abhacken. Das Opfer würde ihr Ohr sein. Die Kinder in der Schule würden sie hänseln, ihre Mutter würde weinen und der Vater würde mit ihr schimpfen. Nein, sie musste jetzt wegrennen. Doch bevor sie aufspringen konnte, war da etwas Spitzes, gefolgt von einem Schlag, einem Schmerz.
„Steh jetzt auf“, befahl Claudia. Johannas Knie zitterten, ihr war schwindelig. Ein Zwilling half ihr auf und hielt noch den Stein in der Hand, mit dem er den Nagel durch das Ohrläppchen getrieben hatte. Ihr war als würde ihr Ohr in Flammen stehen. „Wähle nun“, sagte Claudia hoheitsvoll zu ihr, „wem aus dem Clan der Raben du deinen Namen verraten willst.“
Konnte es sein, sie gehörte nun tatsächlich zu ihnen? Die Angst wich der Freude. Sie hatte bestanden, sie hatte nicht versagt, sie hatte noch nicht einmal geschrien. Erwartungsvoll musterte sie die Mädchen, was würde nun passieren? Hoppla, sie sollte ihren Namen verraten? Den kannten doch alle! Nein, Claudia wollte ihr einen Namen geben; sie hatte ihr nach dem Schlag etwas zugeraunt. Hatte sie ihren neuen Namen richtig verstanden? Blöd, wenn sie ihn jetzt falsch sagen würde. Sie sollte wählen, also sollte sie nicht allen ihren Namen sagen, aber war das erlaubt? Johanna tat, was ihr das Sicherste erschien. Sie ging zu Astrid und flüsterte ihr den Namen ins Ohr. Astrid nickte, es war also die richtige Entscheidung. Aber noch immer ruhten Blicke gespannt auf ihr. Sie war nun im Clan der Raben. Sie richtete sich zu voller Größe auf. Sie gehörte endlich dazu. Diese Gedanken kreisten durch ihren Kopf. Auch Beatrice und Maria gab sie ihren Namen. Dann waren da wieder Zweifel. Sollte sie den Zwillingen den Namen geben, schließlich hatten sie nicht für sie gestimmt, Claudia kannte ihn, oder kannte Claudia ihn erst, wenn sie ihn ihr nannte? Sie wog ab und als sie sich endlich entschloss, auch den letzten drei den Namen zu geben, packte Astrid sie am Arm und sprang mit ihr über die Flammen.
Nun war auch für die anderen kein Halten mehr. Alle sprangen. Es ertönte ein Gekreische und Gejohle, in das Johanna einstimmte. Sie tanzten, drehten sich um das Feuer, stießen die Laute, die in ihnen waren, in die Nacht. Drehen, Kreisen, Stampfen, Füße hoch, Füße runter, Arme überall, die Glieder schwer, die Gedanken leer. Immer weiter. Als Johanna zu Boden fiel, sah sie den Rasen auf sich zukommen, sah die Grashalme, die Blumen und spürte die Feuchtigkeit der Erde auf ihrer erhitzten Haut. Sie glitt in einen Traum.
Als sie die Augen wieder öffnete, schrie sie auf, denn sie konnte nichts sehen, wusste nicht, wo sie war. Noch einmal schrie sie, als etwas nach ihr griff, doch da hörte sie Astrids Stimme. Langsam setzte sie sich auf und nun konnte sie das Glimmen des Feuers erkennen und Astrid, die davor hockte und mit einem Stock darin rumstocherte. Schnell rutschte Johanna neben ihre Freundin, suchte Schutz, schließlich waren sie mitten in der Nacht allein am Waldesrand.
„Du bist ohnmächtig geworden, aber du brauchst keine Angst zu haben, ich habe die ganze Zeit auf dich aufgepasst“, sagte Astrid, ohne dabei die Glut aus den Augen zu lassen. Das stimmte, sie brauchte keine Angst zu haben, denn sie hatte ihre Freundin an ihrer Seite, die beste Rabenfreundin, die sich ein Mädchen wünschen konnte, eine, die dich nie allein lässt. Endlich gehörte sie zum Clan der Raben. Das war einer der glücklichsten Momente der Kindheit gewesen.
Kinder und ihr magisches Denken, dachte Johanna und klemmte sich die Zeitschrift mit den Frisuren, die sie Sara zeigen wollte, unter den Arm. Sie stand vom Stuhl auf und blickte über ihren Garten, über den Rasen, die Sandsteine und die Pflanzen. In all den späteren Jahren hatte Johanna bezweifelt, dass die Dorfmädchen jemals ihre Freundinnen gewesen waren, aber solche Erinnerungen stimmten sie wehmütig.
Johanna ging hoch zu Sara und klopfte bei ihr an. Als sie eintrat, beugte sich Sara über ein Mathebuch.
„Schau mal, Sara, wäre das nichts für dich? Ich finde es hübsch. Weißt du, wir könnten gemeinsam zum Friseur. Der Salon um die Ecke bietet Rabatt, wenn Mutter und Tochter kommen. Danach könnten wir ein Eis essen gehen.“
Sara konzentrierte sich weiterhin auf ihr Buch. „Du bist nicht meine Mutter“, sagte sie beiläufig.
Wenigstens war sie so gnädig gewesen, ihr nicht ins Gesicht zu schauen, um zu sehen, wie es in sich zusammenfiel. Aber es war wohl nur Gleichgültigkeit.
Johanna stammelte: „War nur eine Idee, muss nicht sein.“ Haltung bewahren, Haltung bewahren, dachte Johanna und machte sich auf den Rückzug. War sie als Mutter weniger wert, weil sie das Kind nicht höchst persönlich aus ihrem Leib gepresst hatte? Musste sie erst Blut, Dammriss, entzündete Brustwarzen aufweisen, um als Mutter geadelt zu werden? Johanna hätte jetzt gern irgendetwas an die Wand geschmissen. Dieses kleine Biest.