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Der Magus überlegte. »Er ließ Euch zum Sterben zurück, und wir entkamen nur knapp. Falls er Euch für tot hält, wird er Euch in den Strudeln nicht mehr suchen. Womöglich vernichtet er sogar Euer Blut.«
Inselm ging, und der Prinz, dessen Blick sich inzwischen geklärt hatte, schickte auch Leron und Finny fort. Als sie beide allein waren, sagte er: »Ich erinnere mich an eine Mühle und einen Baum.«
Die alte Mühle. Hatte sie tatsächlich ausgerechnet davon geträumt?
»Außerdem an dich, in einem zerschlissenen Leinenkleid. Woran erinnerst du dich?«
Sie schüttelte frustriert den Kopf, versuchte noch einmal, das diffuse Gefühl in ihrer Brust zum Bild zu verdichten. Tatsächlich kam eine Erinnerung. Die Erinnerung an einen hohen Giebelsaal. Aber sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob es die Erinnerung an den eben verlassenen Traum war, oder an einen ganz anderen, älteren. Dann kam noch ein Bild.
»Eine Frau, mager wie ein Gerippe. In einem Käfig.«
Der Prinz schnaubte verächtlich. »Also waren wir gar nicht im gleichen Traum. Inselm ist nur ein Schwindler, und du bist nur aus reinem Zufall in seinem Beisein erwacht.«
»Sagt das nicht.« Sie setzte sich auf die andere Seite des Bettes. »Dieser Baum an der Mühle, hat einer seiner Äste bis an das Dach gereicht?«
»Also erinnerst du dich doch daran?«
»Ja, aber nicht aus einem Traum. Ich habe in dieser Mühle gelebt.«
Das Dach war ihr Zufluchtsort gewesen. Von dort hatte sie so oft beobachtet, wie die Müllerin nach ihr suchte, es schließlich fluchend aufgab und ins Haus zurückkehrte. Dann hatte sie sich auf die Schindeln gelegt und in den Tag geträumt.
Nachdenklich sah der Prinz sie an. »Du glaubst also tatsächlich, Krolan habe dich in einen Traum eingesperrt und Inselm habe dich gerettet.«
Inselm und er, Prinz Siluren. Gegen alles, was er für wahr hielt, hatte er sich in Magus Inselms Hand begeben. Die Hand eines Mannes, dem er misstraute. »Wenn Ihr nicht daran glaubt, warum habt Ihr Euch ebenfalls in den Schlaf versetzen lassen?«
»Er behauptete, es sei nötig, um dich zu finden. Außerdem: Auch wenn ich nicht daran glaube, kann es wahr sein.« Er lächelte. »Falls dies Wirklich eine Gelegenheit gewesen wäre, Krolan selbst zu begegnen, hatte ich sie nutzen wollen.«
Sie senkte den Blick. »Ich wünschte, ich könnte Euch versichern, dass ich Krolan nichts verraten habe.«
»Aber du erinnerst dich nicht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Man kann wohl üben, sich zu erinnern. Das tun die Magoi. Aber es ist schwer.«
Er sah sie nachdenklich an. »Angenommen, das alles wäre tatsächlich wahr. Dann spräche Krolans Versuch, dich zu töten, nicht gerade für deine Kooperation.«
Wie gern wollte sie das glauben! Wollte glauben, sie sei stark geblieben und wüsste selbst im Traum noch, wo ihre Loyalität lag. Aber es war zu riskant. Sie war eine undichte Stelle, eine mögliche Verräterin.
Sie stand auf. »Tut mir leid, Hoheit. Ich hätte Euch schon viel früher von meiner Anwesenheit befreien müssen. Lebt wohl.«
Seine Augen wurden groß. »Ich habe nicht verlangt, dass du gehst.«
»Ich muss aber. Wenn ich bleibe, seid Ihr in Gefahr.«
»Wenn du gehst, bist du in Gefahr.«
Sie lächelte matt. »Ich bin ein großes Mädchen.«
»Was, wenn Krolan dich noch einmal in den Schlaf zwingt? Nach Inselms Worten ist es nicht leicht, einen Menschen in jener Welt aufzuspüren. Dazu ist eine …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »gefühlsmäßige Verbindung nötig. Du solltest also in meiner Nähe bleiben.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Hoheit, Ihr seid kein Magus. Ihr könnt nicht einmal erkennen, wenn Ihr träumt.«
»Da magst du recht haben, aber es gibt mehr Magoi in Galathräa als nur Inselm.«
Sie verschränkte die Arme. »Ihr wollt also sagen, es lässt sich in Galathräa leichter ein weiterer Magus finden als ein weiterer Freund Kira Idrastochters.«
»Das fürchte ich, ja.«
Ehe Kira antworten konnte, klopfte es, und auf Silurens Aufforderung hin trat Finny ein und knickste. »Vergebung, Hoheit, aber der Herzog von Etharold verlangt, Euch zu sprechen.«
Der Prinz zögerte, unschlüssig. Offenbar wollte er das Gespräch so nicht beenden. Doch einen Herzog und Onkel ließ auch ein Prinz nicht warten, und so stand er auf und zog die Jacke straff. Mit strengem Blick zeigte er auf Kira. »Du wirst in diesem Haus bleiben, bis wir unser Gespräch beendet haben. Befehl der Krone!«
Kapitel 3
Man sagt mir, mein Gemahl liebe mich. Doch welch eine Liebe ist das, die mich einsperrt in dieses Schloss, die mir Tat und Rede verbietet? Auf die gleiche Weise liebt er auch seinen Hund!
– 12. Akh’Eldash, 11. Eintrag, Vers 6
Onkel Elim wünschte ihn zu sprechen – das war eine gute Nachricht. Offenbar ging es ihm besser. Siluren folgte Finny, die ihn nicht etwa zu Elims Gemach führte, sondern zum Ratssaal.
Im Vorzimmer standen fünf Offiziere, und Siluren versuchte erfolglos, in ihren verschlossenen Gesichtern zu lesen. Offenbar wollte Elim zuerst mit ihm allein sprechen, bevor er seine Offiziere hinzu bat. Bald würden sie Silurens Offiziere sein.
Diese Vorstellung war seltsam.
Elim saß in einem Lehnstuhl am Feuer. Er war noch immer blass, seine Augen dunkel umrändert. Ein Pfeil hatte sich in den Knochen seiner Hüfte gebohrt, das war keine leichte Verwundung.
»Du hättest noch nicht aufstehen sollen, Onkel. Wir hätten in deinem Gemach reden können.«
»Damit meine Offiziere mich im Bett liegen sehen wie eine kranke Wöchnerin?«
»Sie hätten sicher Verständnis dafür.«
»Ach!« Elim machte eine unwirsche Geste. Falls er von den Vorgängen um Kira und den Magus gehört hatte, erwähnte er sie mit keinem Wort. Stattdessen fragte er: »Was tust du noch hier?«
»Ich verstehe nicht …«
»Dein Vater braucht meine Truppen in Adelmund. Er braucht dich!«
Als hätte Ruothgar ihn jemals gebraucht! Als wäre Siluren für seinen Vater jemals etwas anderes gewesen als eine Enttäuschung und Last! »Ich werde sie ihm bringen. Darüber hatten wir bereits gesprochen.«
»Du müssest längst unterwegs sein!«
»Wir haben gestern erst eine Schlacht gewonnen.« Hatte die Medizin ihn das etwa vergessen lassen? »Die Männer haben bis tief in die Nacht gefeiert.«
»Marschieren können sie auch mit Brummschädel. Krolan steht vor Adelmund, und sobald Trenkar ihm seine fehlenden Männer zuführt, wird er zum Angriff blasen. Denkst du, er wird sich darum scheren, ob seine Soldaten erschöpft sind vom Marschieren oder vom Feiern? Denkst du wirklich, er wird dir auch nur die kleinste Verschnaufpause gönnen?«
Siluren senkte beschämt den Blick. Daran hatte er tatsächlich nicht gedacht. Er hätte es wissen können, aber er hatte es nicht wissen wollen.
In den vergangenen Tagen hatte er weit mehr erreicht, als er jemals von sich selbst erwartet hätte – als irgendjemand von ihm erwartet hätte. Irgendwie hatte er sich gewünscht, es möge genug sein. Er hatte es sich und anderen bewiesen: Er konnte mehr sein als ein Zauderer und Feigling. Reichte das nicht? Durfte er nun nicht zurückkehren zu seinen Büchern?
Aber es ging nicht um ihn. Dies war kein Parcours, den Coridan für ihn ersonnen hatte, sondern ein echter Krieg, und es ging um Galathräa.
Elim schüttelte den Kopf. »Ich hätte nach allem, was Woring mir erzählt hat, mehr von dir erwartet.«
Siluren sah auf. »Du hast mit Woring gesprochen?«
»Natürlich habe ich das.« Woring war ein bürgerlicher, aber die Stadtoberen von Bethelgard hatten ihm den Oberbefehl gegeben. Auch wenn Siluren als Prinz über ihm stand, so wusste doch Elim so gut wie jeder, dass Woring die Schlacht um Bethelgard geführt und gewonnen hatte.
»Woring hat mir berichtet, wie du Trenkar zum Narren gehalten und wie du die Bresche verteidigt hast – mit eigener Hand. Dein Vater wird stolz auf dich sein. Aber glaube nicht, du hättest damit deine Pflicht gegenüber deinem Land, gegenüber deinem König bereits erfüllt. Dieser Krieg hat gerade erst begonnen.«
Womöglich wäre sein Vater heute tatsächlich stolz auf ihn gewesen. Aber all das würde sich in sein Gegenteil verkehren, wenn er den nächsten Schritt tat und scheiterte.
Was Kira jetzt wohl gesagt hätte? »Am sichersten scheitert Ihr, wenn Ihr es gar nicht erst versucht.« Ihre Sicht auf die Welt war so völlig ohne Umwege, ohne Raffinesse. Vermutlich war es genau das, was er brauchte. Er durfte sie nicht gehen lassen. Ohne sie säße er jetzt auf Krailenhost beim Frimm-Spiel mit Leron.
»Nun gut.« Siluren straffte die Schultern. »Dann rufen wir jetzt die Offiziere herein.«
Elim hob die Brauen. »Was willst du ihnen sagen?«
»Ich mag Zeit vergeudet haben, aber ich habe mir durchaus bereits Gedanken gemacht.«
Zufriedenheit zeichnete sich in Elims Gesicht ab, und er nickte dem Türdiener auffordernd zu.
Die Offiziere nahmen die Nachricht, dass sie im Morgengrauen unter Silurens Oberbefehl losmarschieren würden, stoisch zur Kenntnis. Als sei es unter ihrer Würde, eine Reaktion zu zeigen. Vermutlich hatten sie das bereits erwartet.
Siluren gab jedem von ihnen die Hand, und Elim verlor einige Worte über jeden Mann. Sie alle waren altgediente Vasallen des Herzogtums von Etharold, Grafen und Barone, sie alle hatten schon oft mit Elim auf dem Schlachtfeld gestanden, außer dem Jüngsten vielleicht, der noch jünger schien als Siluren selbst, und der hier war, um die Stelle seines erkrankten Vaters auszufüllen. Sie alle waren wortkarg, und vermutlich hatten sie sich ihre Meinung über ihren zukünftigen Befehlshaber bereits gebildet. Siluren der Zauderer, den den Oberbefehl einem Bürgerlichen wie Woring überlässt. Es würde schwer werden, diese vorgefassten Meinungen zu verändern.
Aber warum sollte er das auch? Er war nun einmal der, der er war, und hatte er nicht genau damit Bethelgard lange genug halten können, bis sie und Onkel Elim gekommen waren, um die Schlacht zu wenden? Er fasste die Männer scharf ins Auge. »Man sagt mir nach, ich sei ein Mann der Worte, nicht der Taten.« Nach einer kurzen Pause entstehen fügte er an: »Ich fürchte, das entspricht der Wahrheit.«
Ihre Verunsicherung war geradezu greifbar. Welcher Befehlshaber würde sich selbst als schwach darstellen, und wozu? Doch Worte waren keine Schwäche, das war Siluren heute bewusster als je zuvor, und so fuhr er fort: »Nach Herzog Etharolds Bericht seid ihr alle Männer der Tat, und mir scheint daher, wir ergänzen uns gut. Um Erfolg zu haben, müssen Denken und Tun zu einer Einheit finden. Ich bin euer Befehlshaber, der Kronprinz, und daher erwarte ich Euren Gehorsam. Aber da ich ein Mann des Wortes bin, erwarte ich auch, dass ihr eure Gedanken und Bedenken aussprecht. Ich hoffe auf den Rat gerade der Erfahrenen unter euch, und ich habe sicherlich noch vieles zu lernen. Ich bin bereit dazu. Aber wenn eine Entscheidung getroffen, ein Befehl erteilt wurde, erwarte ich Gehorsam und Pflichterfüllung. Von euch wie von jedem Mann in der Truppe.«
Hatte er sie damit für sich gewonnen? Zweifelhaft. Aber zumindest hatte er seinen Standpunkt klar gemacht. Alles andere würde folgen – so hoffte er zumindest. Als er ihnen eröffnete, sie sollten den Männern noch an diesem Abend den Monatssold auszahlen, zeigten die auf Elim gerichteten Blicke ihre Verwunderung.
»Seht nicht ihn an«, forderte Siluren. »Fragt mich.«
Es dauerte einen Moment, bis der älteste unter ihnen – Brigum von Bleyhardt – zu sprechen wagte. »Wir marschieren erst seit wenigen Tagen, und es ist nicht üblich, den Soldaten mehr als das Handgeld im Voraus zu zahlen.«
»Dieser ganze Marsch über den Niedersee wird mehr als unüblich, und wir müssen uns davon verabschieden, Dinge aus dem einzigen Grund zu tun, weil man sie schon immer so gemacht hat. Wir werden durch Dörfer und Marktflecken ziehen, die ihre Wintervorräte nahezu aufgezehrt haben, und Trenkars Truppen werden nicht zimperlich gewesen sein. Unsere Männer werden weder stehlen noch plündern. Gebt den Befehl aus: Die Soldaten werden bezahlen, was sie nehmen. Wer stiehlt oder Raub erpresst, wird behandelt wie ein gemeiner Dieb.«
Nicht alle schienen zufrieden mit der Antwort. Insbesondere Bleyhardt schien noch etwas auf der Zunge zu brennen, doch er sprach erst, als Siluren ihn dazu aufforderte.
»Hoheit, die meisten von ihnen sind schlichte Männer. Sie kennen das nicht – so viel Geld zu besitzen, ohne es zumindest teilweise sofort zur Begleichung von Schulden verwenden zu müssen.«
Das immerhin war ein gutes Argument. Es durfte nicht noch eine durchzechte Nacht geben. »Wohlan denn, den halben Monatssold. Das dürfte die Gefahr im Zaume halten. Erst recht, wenn sie wissen, dass wir im Morgengrauen losmarschieren.«
Nun wagte auch ein andrer, zu reden. »Was geschieht mit den Gefangenen?«, fragte er. »Wir haben fast zweitausend Tote und Verwundete zu beklagen. Mit den Oneräern könnten wir unsere eigene Truppe stärken.«
Siluren widerstand der Versuchung, seinen Onkel anzusehen. Er musste sich daran gewöhnen, solche Dinge mit seinen Offizieren selbst auszuhandeln. Seine Offiziere. Große Göttin, was tat er hier bloß? »Ist das nicht ein Risiko? Wir hätten potenzielle Verräter in unseren Reihen.«
Wieder antwortete Bleyhardt. »Das wäre richtig, wenn man mit ihnen ein eigenes Regiment schaffte. Wir werden sie aber unter unsere eigenen Männer stecken. Das hält sie unter Kontrolle. Für den Rest sorgt die militärische Disziplin, und in der Schlacht zählt nur noch der Wunsch, am Leben zu bleiben.«
Siluren nickte. »Wir bieten ihnen den gleichen Sold wie unseren Männern.«
Bleyhardt lächelte. »Unterschiedliche Listen zu führen, würde unseren Zahlmeister ohnehin überfordern.«
Als sie gegangen waren, sah Siluren seinen Onkel an. »Nun?«, fragte er.
Elim nickte. »Ihre Herzen wirst du erst gewinnen, wenn du sie in einer Schlacht zum Sieg führst. Aber für heute ist es genug.«
***
Kira kehrte in ihre eigene Kammer zurück. Jemand hatte das Bett gemacht. Vermutlich die gleiche Person, die auch das Kleid aufgehängt hatte, das sie gestern achtlos auf den Boden geworfen hatte. Kira strich hilflos über die scharfen Falten, die sich über Nacht in dem Stoff gebildet hatten. Hoffentlich würde Finny das wieder hinbekommen.
Sie wandte sich ab, wollte nicht an ihn denken, doch das war hoffnungslos. Wohin auch immer sie den Blick wandte: da war das Mieder, das er ihr ausgezogen hatte, da lag ihr Dolch – Dolch und Buch. Da waren die Tiegel mit dem Puder, mit dem man sie schön gemacht hatte – für ihn. Da war die Schildjacke, die er ihr geschenkt hatte, und dort der Helm. Das Schwert, mit dem sie gekämpft hatte – an seiner Seite.
»Hör auf!«, befahl sie sich selbst. Sie fand den Spiegel und blickte sich ins Gesicht. Die Farben waren fort, weggeweint und ins Kissen gewischt. Sie sah wieder aus wie sie selbst – Kira, die nur sich selbst gehörte. Die stark genug war, ihr Leben alleine zu meistern und sich zu nehmen, wonach ihr der Sinn stand.
Zumindest, so flüsterte eine Stimme in ihr, solange es erreichbar war.
Wieso tat die Erdmutter ihr das an? Warum zeigte sie ihr, wie die Sehnsucht ihres Herzens Erfüllung finden konnte, nur um diese dann in unerreichbare Ferne zu rücken? Das war nicht redlich. Das war grausam.
»Hör auf, dich selbst zu bemitleiden!« Wer bekam schon den Märchenprinzen? Nur die Akh’Eldash!
Es war, wie es war. Sie würde nicht daran zerbrechen, sondern ihren Weg weitergehen und diese Nacht wie einen Schatz in ihrem Herzen verwahren. Es war ein Versprechen an sich selbst, wie sie sich zuvor schon einige gegeben hatte, und sie hatte sich selbst noch nie enttäuscht. Sie war stark. Seit Orrens Tod hatte sie immer auf eigenen Beinen gestanden, war niemandem zu Dank verpflichtet gewesen. Wenn sie etwas erhalten hatte, war es immer ein Geschäft gewesen und ihre Gegenleistung prompt. Sie hatte sich nie etwas schenken lassen, sich nicht beschützen und schon gar nicht aushalten lassen. Sie konnte für sich selbst sorgen.
Aber jetzt besaß sie ein metallbesetztes Wams, das sie nicht gekauft und dazu einen Helm, der sie nichts gekostet hatte, sie aß am Tisch des Prinzen und ritt auf einem Ulphan, der ihm gehörte, und was verlangte er dafür?
Sie wusste, was die anderen dachten, allen voran Leron mit seinem unverschämten Grinsen. Gut, sie hatte das Bett des Prinzen geteilt, und bei der Göttin, sollte sie jemals wieder die Gelegenheit dazu haben, würde sie es erneut tun. Aber sie tat es nicht für Geld oder um irgendeinen Vorteil zu erlangen. Sie tat es, weil es ihr gefiel. Sie war Kira, die ihren Weg selbst bestimmte, und bei den drei Ammen, sie würde mitnehmen, was immer sie von diesem Leben bekommen konnte.
Abgesehen davon gab sie sich nicht der Illusion hin, diese Nacht wäre einen guten Helm und eine Schildjacke wert gewesen. Sie hatte für ihn gekämpft, an seiner Seite. Dafür bekam jeder Soldat seinen Sold.
Sold, sagte jene Stimme in ihr, aber nicht Geschenke. Keine fetten Würste vom Tisch des Herren. Aber sie würde keine Mätresse sein, keine Gespielin und auch kein Schoßhund, dem man den Kopf kraulte. Sie war nicht hier, um den Prinzen zu amüsieren. Es wurde wirklich Zeit zu gehen.
Sie zog sich an: ihr Mieder, ihre Hosen. Das waren ihre Sachen. Den Rest würde sie als Leihgabe betrachten, wie das Kleid, und zurücklassen. Zwar war da ein leises Gefühl des Bedauerns, als sie die Schildjacke betrachtete, aber sie wäre sich schäbig vorgekommen, sie mitzunehmen. Noch einmal blickte sie sich um, fand nichts mehr, das ihr Eigentum war, und wandte sich zum Gehen.
Leron stand ihrer Tür gegenüber an die Wand gelehnt. Es war keine Frage, wozu er hier war. Siluren hatte ihn ganz offenbar dazu abkommandiert, auf sie aufzupassen. Wieder einmal.
»Du sollst mich aufhalten, wenn ich gehe«, stellte sie fest.
Er nickte.
Sie legte die Hand ans Rapier. »Ich kann dich besiegen, das weißt du.«
Er wirkte fast traurig, als er antwortete: »Würdest du das wirklich tun? Mir eine Klinge in die Kehle rammen, nur um einem Gespräch aus dem Weg zu gehen?«
Sie empfand gute Lust dazu. »Er hat kein Recht, mich einzusperren.«
Jetzt wiegte Leron zweifelnd den Kopf. »Er ist der Prinz.«
»Ich sollte wohl froh sein, dass es nicht der Kerker ist, wie?« Sie ging ins Zimmer zurück und warf die Tür hinter sich zu.
Dann setzte sie sich so, wie sie war, mit Mantel und Waffen, auf einen der beiden Stühle, die links und rechts des Tisches an der Wand standen, und wartete.
Irgendwann erklangen Stimmen im Gang, dann klopfte es. Sie antwortete nicht gleich, ließ ihn noch einmal klopfen, ehe sie aufstand und ihm öffnete.
Da stand er, lächelte verlegen. »Darf ich eintreten?«
Wortlos machte sie einen Schritt zur Seite.
Er trat ein und sah sich um, offenbar tatsächlich interessiert daran, wie seine Untergebene so untergebracht war. Dann setzte er sich und forderte sie auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Sie tat es, steif und widerwillig. Sie saßen auf beiden Seiten des Tisches, aber nicht einander gegenüber. Stattdessen blickten sie beide auf das Bett, wie Kira mit leisem Unbehagen feststellte.
»Eigentlich«, begann er, »erwarte ich, dass Menschen in meinem Dienst meinen Befehlen Folge leisten.«
»Nun, ich stehe nicht in Eurem Dienst. Ich habe keine Siegelmarke und weder Handgeld noch Sold erhalten.«
»Du hast recht. Das müssen wir ändern.«
Sie seufzte und ließ die Schultern sinken. »Hoheit. Wir beide wissen, ich bin eine Gefahr für Euch.«
»Möglich. Aber du bist auch eine Gelegenheit.«
Sie verstand nicht, und er erklärte es ihr. »Ich denke, du weißt mehr über Krolan, als du mir bisher erzählt hast.«
»Ich soll Euch von Krolan erzählen?«
»Ist das so abwegig?«
»Nein, aber … trotzdem. Er könnte im Traum Dinge von mir erfahren, und ich würde mich nicht einmal daran erinnern.«
»Nur, wenn er dich tatsächlich noch einmal heimsuchen sollte, was Inselm für unwahrscheinlich hält. Dennoch werden wir dafür sorgen, dass du nur solche Dinge weißt, die wir Krolan wissen lassen wollen. Wie bei Geran.«
»Ihr könnt nicht alles vor mir geheimhalten. Ich werde wissen, wo wir sind und wohin wir marschieren.«
Er lächelte schwach. »Wir werden mit zwanzigtausend Mann unterwegs sein. Das lässt sich kaum geheimhalten.«
Das war richtig. Krolan würde noch mehr Spione im Lande haben, auch solche, die ihr Wissen auf althergebrachte Weise in Briefen oder Schwirrern teilten. Vielleicht konnte der Prinz sie tatsächlich zur Täuschung einsetzen, so wie er es mit Geran getan hatte. Resigniert senkte sie den Kopf. »Offenbar habt Ihr das alles schon sehr genau durchdacht.«
»Das habe ich, und es gibt tatsächlich nur ein einziges Argument, dem ich mich beugen würde.«
Unsicher hob sie den Kopf. Er sah sie ernst an. »Willst du fort von mir?«
Sie hielt das Wort zurück, das sich ihr auf die Zunge drängte: nein!
Allein der Gedanke, ihn niemals wiederzusehen, schmerzte. Aber es würde später noch mehr schmerzen. Je länger sie es andauerte, je länger sie es hinauszögerte, umso größer würde die Wunde sein, die der unvermeidliche Abschied schließlich reißen musste.
Doch Kira Idrastochter hatte sich noch vor keinem Schmerz gedrückt. Sie würde den Krug bis zur Neige leeren und den unvermeidlichen Kater in Kauf nehmen.
»Ich verlange festen Sold, so hoch wie der Lerons.«
Er wiegte den Kopf. »Leron ist Korporal und steht seit Jahren im Dienst meiner Familie.«
»Mein Schwert ist flinker als das seine.«
Er nickte. »Nun gut. Einverstanden.«
»Ich werde Helm und Jacke als Leihgabe betrachten, um meinen Dienst besser versehen zu können. Doch ich bin nicht Eure Konkubine.«
Sein Blick ging kurz zum Bett hinüber. »Das ist … bedauerlich.«
»Ihr versteht mich falsch. Das soll nur heißen, ich erwarte keine Geschenke.« Als sein Blick dem ihren wieder begegnete, fügte sie an: »Ich werde Euch ja auch keine machen.«
Er lächelte. »Verstehe.«
»Gut. Dann haben wir wohl alles geklärt.«
»Nicht ganz.« Jetzt wandte er sich ihr zu, streckte die Beine unter den Tisch und stützte die Arme darauf. »Du weißt sehr viel über mich. Wie ich für meinen Vater empfinde und für meinen Bruder. Du kennst meine Selbstzweifel, meine Leidenschaft für das Wissen und sogar den Helden meiner Jugend. Aber ich weiß so gut wie nichts über dich.«
Sie zögerte. Ihre Vergangenheit war nichts, das sie jedem auf die Nase band. Aber er war nicht jeder, und vielleicht schuldete sie ihm tatsächlich etwas Offenheit.
»Was wollt Ihr wissen?«
»War dein Vater Müller?«
»Nein. Der Müller war … ein Freund meines Vaters.«
Er fragte nicht weiter, sah sie nur abwartend an. Schließlich gab sie sich geschlagen. Es gab ohnehin nicht viel zu erzählen. Ihr Vater war Soldat gewesen, ihre Mutter war ihm im Tross hinterhergezogen. Kiras früheste Erinnerung war ihr Vater, gegen den sie mit einem Stock kämpfte, lachend und prustend, und ihn zu Fall brachte. Die zweite, wie er ihr danach mit stolzem Lächeln über das Haar strich. Es war die glücklichste Erinnerung aus jener Zeit. Daneben gab es noch das Bild eines kleinen Jungen, ihres Bruders, der leblos zwischen den Pflanzen am Flussufer trieb. Dann das ihrer Mutter, schreiend in den Wehen, und als sie verstummt war: ihr Vater, die Wangen nass von Tränen, der eine Decke über die Mutter zog. Ganz hinauf, bis der Stoff auch ihr Gesicht bedeckte.
Danach hatte ihr Vater sie in die Obhut der Müllersfamilie gegeben und war weitergezogen – mit dem Versprechen zurückzukehren. Unermüdlich hatte sie mit ihrem Stock geübt, um ihn zu beeindrucken, wenn er sie wieder zu sich holte, und bald hatte sie die Müllersbuben und die Jungen aus dem Dorf überflügelt. Voller Ungeduld hatte sie gewartet, gehofft, und wenn die Sehnsucht eines Kindes je ein Wunder hätte bewirken können, dann die ihre. Doch so oft sie auch hinauf auf den Giebel der Mühle geklettert war, um stundenlang die Umgebung abzusuchen, sie hatte ihn niemals wiedergesehen.
Irgendwann hatten Soldaten die Mühle niedergebrannt und die Müllerin umgebracht. Für den Müller in seinem Gram war Kira nur noch ein unerwünschter Esser gewesen. Vielleicht auch hatte er nicht vergessen können, dass ihr Vater selbst ein Kriegsmann gewesen war. Das Leben in der wiedererbauten Mühle war unerträglich geworden, und als sich in den herbstlichen Baumkronen die gelben Kiras zum Flug nach Süden versammelt hatten, da wäre sie am liebsten mit ihnen geflogen. Im darauffolgenden Frühjahr hatte sie die Mühle verlassen, um ihren Vater zu suchen.