- -
- 100%
- +
»Ich danke dir«, sagte Kraeh und meinte es ehrlich.
Sie schwieg.
Weiter unten im Tal wurden winzige Lichter entzündet. Ein helleres Glimmen, meinte der ehemalige Krieger, könnte Brisak sein, obwohl es durch den Dunst, der die Abenddämmerung um den Rhein so oft begleitete, verwischt wurde.
Kurz überlegte er, die hässliche Frau vor ihrem vermeintlichen Liebhaber zu warnen, entschied sich aber kurzerhand dagegen. Es war nicht seine Angelegenheit. Was wusste er schon von diesem Arduhl? Wollte er selbst überhaupt wieder am Leben teilnehmen? Zu welchem Zweck denn? Irgendwie schien es, als würde ihm schon wieder ein Weg aufgenötigt werden. Eine Stimme tief in seinem Inneren sagte ihm, dass er gebraucht werde. Der Ruf einer Eule weckte alte Erinnerungen. Lousana, die starke Kriegerin mit den fremdländischen Zügen, die seine Freundin gewesen war, kam ihm in den Sinn. Von ihrem Abbild in seinem Kopf war es nur noch ein kleiner Sprung zu jener Frau, der vor so langer Zeit die ganze Glut seines Herzens gehört hatte: Erkentrud. Weshalb um alles in der Welt war er damals von ihrer Seite gewichen? Sie war schön, hart und mächtig gewesen, alles, was ein junger Krieger sich nur wünschen konnte. Aber halt! Im Nachhinein verzerrte man die Dinge leicht zu Idealen, die so niemals der Wirklichkeit entsprochen haben. Die Königin der Druden wollte ihn mit Heikhe, seinem Mündel, verheiraten. Ihrer beider Leidenschaft füreinander war nach dem Krieg ebenso schnell erloschen, wie der Stein, den er gerade über die Klippe warf, in das Tal raste. Aber plötzlich wusste er, was zu tun war. Weshalb hatte er nicht schon früher daran gedacht? Das Becken tief unter Erkenheim! Es hatte ihn schon einmal aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Sicher würde es ihm auch jetzt wieder helfen. Das war es! Sein Weg würde ihn nach Erkenheim führen.
* * *
Den nächsten Tag begannen sie mit dem Abstieg. Er erwies sich zum Glück als leichter, als Kraeh es am vorigen Abend befürchtet hatte. Teilweise standen die alten Stützstreben noch. Wo es ging, balancierten sie vorsichtig über morsche Balken, die beunruhigende Geräusche von sich gaben, ihr Gewicht aber trugen. An den Stellen, die von Steinlawinen überschüttet worden waren und meist Stege und Geländer mit sich in die Tiefe gerissen hatten, ging Arduhl voran, prüfte die möglichen Gefahren und gab dann den anderen den Weg frei. Isabel ließ sich ebenso wie Kraeh auf besonders tückischem Untergrund von Lubbo helfen. Wenn er gerade mal nicht auf seine Schritte achten musste, fragte Kraeh sich, wie die Tannen, die vereinzelt aus dem Hang wuchsen, es schafften, hier zu überleben. Zwischen all dem Granit machte es den Anschein, als hätten sie sich gerade so viel Erde an einem kleinen Vorsprung oder einer Felsenmulde mitgenommen, dass ihre Wurzeln Halt fanden.
Ein scharfer Wind blies ihnen in den Rücken und machte ihnen zusätzlich zu schaffen, schließlich jedoch erreichten sie zwar ausgelaugt, aber unversehrt eine schmale Holzbrücke am Fuß des Hanges, das letzte unversehrte Überbleibsel des alten Pfades. Allesamt atmeten sie auf, als sie hinter der Brücke anhielten und zurücksahen auf das, was sie geschafft hatten. Isabel sandte ein Dankesgebet gen Himmel.
»Es gibt noch eine andre Route«, fiel Kraeh ein, dem die ängstlichen Blicke Lubbos unangenehm waren. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass am Ende noch jemand abstürzte, wenn die Reisegesellschaft denselben Weg zurücknehmen sollte, nachdem sie ihn abgeliefert hatten. Dieser Weg barg ein zu großes Wagnis, viel zu groß, bloß um seine alte, stinkende Haut aus dem Wald zu schaffen.
Isabel wandte sich ihm zu.
»Es ist wahr. Sie führt dort«, er zeigte die Richtung mit dem Finger an, »an der Steilwand entlang. Wenn ihr dem Gebirgsverlauf drei Tage westlich folgt, gelangt ihr an einen Pass der wesentlich leichter zu besteigen ist.«
Arduhls Augen verengten sich. »Drei Tage? Und wenn wir dort ankommen, kannst du beschwören, dass weder Firsen noch Räuber auf uns warten und Wegzoll verlangen?«
Kraeh sagte nichts. Was hätte er auch dagegen halten sollen? Natürlich konnte er nichts dergleichen versprechen. Außerdem, war Arduhl nicht selbst ein Wilder? Aber das bedeutete natürlich nichts. Die Firsen waren untereinander zerstritten und kein Stamm erkannte die Grenzen des anderen an.
»Noch mehr kluge Einfälle, alter Mann? Oder können wir weitergehen?«, fragte Arduhl wütend.
»Er hat es nur gut gemeint«, wies Isabel ihn zurecht und sagte dann beschwichtigend zu Kraeh: »Wir werden über deinen Rat nachdenken, Henfir.«
Der dunkelhäutige Krieger schüttelte den Kopf und ging eilig voran. Kraeh trat an seine Seite, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. »Sie ist zu leichtgläubig«, zischte Arduhl. Er erlaubte sich nur deshalb, seiner Respektlosigkeit Luft zu machen, da er wohl davon ausging, den greisen Unruhestifter bald für immer los zu sein.
»Du musst es ja wissen«, raunzte Kraeh zurück und verlangsamte seine Gangart, bis er wieder bei den anderen war.
So gingen sie den ganzen restlichen Tag das überwucherte Tal hinab. Arduhl lief als Späher voraus und ließ die übrigen fünf an Weggabelungen zu sich aufschließen, wenn er sicher war, dass keine Gefahr drohte. Die beiden anderen Männer, der eine hochgewachsen und schlaksig, der andere feist und untersetzt, waren ebenso gottesfürchtig wie langweilig. Lieber noch unterhielt Kraeh sich mit dem einfältigen Lubbo als mit diesen demütigen, stets an den Lippen Isabels hängenden Windbeuteln. Die Heilige selbst war schweigsam und stellte zumeist ein entrücktes Grinsen zur Schau, das in einem fort zu sagen schien: ›Seht, wie wunderbar die gesamte Schöpfung doch ist!‹ Der alte Krieger wusste damit nichts anzufangen und so tauschte er Belanglosigkeiten mit Lubbo aus oder sann im Stillen.
Die Nacht war bereits angebrochen, als sie brachliegende Äcker und kurz darauf die ersten Häuser erblickten.
* * *
Isabel hatte wieder die Führung übernommen. Vor ihnen lag eine größere Siedlung, die Kraeh nicht kannte. Zielbewusst steuerte die füllige Frau auf eine Aussparung in der mannshohen Palisade zu. Sie grüßte die beiden wachhabenden Soldaten, die aufgrund ihres gelben Wappenrocks über dem Brustpanzer auch bei der herrschenden Dunkelheit ins Auge stachen. Sie kannten die Heilige und ihre Gefährten, und nachdem sie den als Henfir vorgestellten Alten mit dem langen weißen Bart kurz gemustert und ihn offensichtlich als ungefährlich eingestuft hatten, gaben sie den Weg frei. Einen Steinwurf weiter, noch außerhalb des Stadtkerns, stand ein mehrstöckiges Gasthaus. Sie betraten es und fanden sich in einem bürgerlichen Schankraum wieder. Auch hier waren Isabel und die Ihren schon eingekehrt. Der Wirt löste sich von dem größten der runden Tische im Raum, an dem er mit seinen Gästen getrunken hatte, kam auf sie zu und bot ihnen Zimmer für die Nacht an. Er wirkte leicht enttäuscht, da Arduhl darauf bestand, sofort zu bezahlen.
»Im Morgengrauen werden wir aufbrechen«, meinte Arduhl zerknirscht und leiser an Isabel gewandt: »Wir füllen unsere Vorräte auf und machen uns dann so schnell wie möglich auf den Weg.«
Sie nickte, fischte die berechneten Silber- und Kupferstücke aus einem Beutel, den sie unter ihrem abgetragenen Gewand hervorgeholt hatte, und drückte sie dem schlaksigen Wirt in die offene Hand. Nach Abwicklung des Geschäftes setzte er sich wieder zu seinen Leuten.
Isabel wünschte Kraeh Gottes Segen, ehe sie die Wendeltreppe betrat, die hoch zu den Schlafräumen führte. Die Übrigen folgten ihr. Als Letzter kam Lubbo. Auch er wünschte dem Alten alles Gute und meinte, vielleicht sehe man sich ja irgendwann wieder. Kraeh bedankte sich bei ihm und blieb schließlich allein zurück. Er war zwar erschöpft, wollte aber nicht gleich zu Bett gehen. Lieber hätte er sich an einen der freien Tische gesetzt und etwas getrunken. Wie aber sollte er das anstellen? Isabel hatte zwar, großzügig, wie sie war, seine Unterkunft bezahlt, offensichtlich aber nicht die Möglichkeit erwogen, dass einer ohne ein einziges Kupfer in der Tasche unterwegs sein könne. Na ja, dachte er und verkniff sich ein Grinsen, sie war nicht seine Mutter und hatte bereits mehr für ihn getan, als irgendjemand hätte erhoffen können. Er schalt sich einen närrischen, alten Tor, dass er versäumt hatte, die Leichen der Grabschänder zu plündern. Es war ihm in Anbetracht der Umstände schlicht nicht in den Sinn gekommen.
Letztlich beschloss er leichthin, seinen leeren, genau genommen nicht einmal vorhandenen Geldsack zu ignorieren, setzte sich an einen verwaisten Tisch und bestellte, als der Wirt nach geraumer Zeit zu ihm kam, einen Krug Ale. Der schlaksige Mann mit dem kurzen Haarschnitt war anscheinend daran gewöhnt, dass seine Gäste anschreiben ließen. »Trink, iss und fühl dich wohl«, sagte er gutmütig. Kraeh vermutete den Grund seiner Großzügigkeit in dem üppigen Trinkgeld, das er sicherlich von Isabel erhalten hatte, und wahrscheinlich würde dieselbe enden, sobald sie abgereist war. Dennoch folgte er der Einladung. Nach dem Ale bestellte er einen weiteren Krug und eine Schale Eintopf, dessen aufgebrühter Geruch bald den Schankraum erfüllte.
Er schob sich gerade den zweiten Löffel in den Mund, als Arduhl sich ihm gegenüber am Tisch niederließ. Kraeh hatte ihn nicht die Treppe herunterkommen sehen, schob diese Tatsache allerdings auf die Trübheit seiner alten Augen. Wortlos lenkte Arduhl die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich, zeigte auf den Eintopf und hatte wenig später auch eine Schale vor sich stehen.
Schweigend schaufelten sie das mittelmäßige Sammelsurium an Kalbsfleisch, verkochtem Kohl, zerstoßenen Kartoffeln und allerlei anderen Zutaten, die in dem bräunlichen Durcheinander untergingen, in sich hinein.
Sie hatten gerade zu Ende gegessen, da schwang heftig die Eingangstür auf. Ein junger Mann, nicht älter als siebzehn Sommer, in der ärmlichen Kleidung eines Stallburschen, stand auf der Schwelle. Sein Gesicht zeigte einen entsetzten Ausdruck, einen Schrecken, den er gleich in Worte fassen sollte.
»Es herrscht Krieg!«
Alle Gespräche verstummten.
»Was sagst du da, Junge?«, fand der Wirt als Erster die Fassung wieder, während er auf ihn zuging und ihn unruhig dazu bewegte, sich erst einmal zu setzen und alles in Ruhe zu berichten.
Das Dutzend verstreuter Gäste, das nicht am Haupttisch saß, rückte näher. Einige trugen ihren Stuhl heran, andere waren aufgesprungen und bildeten nun eine Traube um den Überbringer jener unfassbaren Nachricht. Nur Kraeh und Arduhl blieben sitzen. Die Aufregung ließ alle so laut sprechen, dass sie auch so das meiste mitbekamen. Von den stürmischen Stimmen setzte die vernünftigste – die eines, seiner Kleidung nach zu urteilen, in die Jahre gekommenen Kaufmannes – sich durch, die bat, der Bursche möge von Anfang an erzählen.
Er sei gerade beim Brunnen gewesen, Wasser für seine kranke Schwester zu holen, als ein Bote zu den Wachen gerannt kam, die dort immer stehen. Der Bote habe geflüstert, damit niemand mitbekomme, was er zu sagen habe, doch in der Aufregung haben sie ihn schlicht übersehen. »Die Sihhila sind in die Mittelreiche eingefallen!«, rief der Stallbursche aus. »Rösser, Kriegswagen, tausende von Soldaten, eine riesige Armee zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her! Jede Stadt, die sich nicht beugt, wird dem Erdboden gleichgemacht!«
»Beruhige dich«, meinte der Wirt. »Das alles ist etliche Tagesreisen entfernt. Wahrscheinlich hat der Kaiser den Vormarsch bereits aufgehalten …«
»Der Bote sagte noch etwas anderes«, fiel ihm der Junge ins Wort. »Die Zwillinge sind hierher unterwegs. Der Kaiser befürchtet, die bisher friedlichen Sihhila im Westen könnten sich dem Angriff anschließen. Und auch die Firsenstämme könnten sich unsere Schwäche zunutze machen.«
Wieder bemühte sich der Wirt, die Stimmung abzukühlen, doch er klang weniger zuversichtlich als zuvor. »Die Zwillinge sind schon lange in der Gegend. Soweit ich weiß, suchen sie nach einer bestimmten Person. Das hat nichts mit den anderen Ereignissen zu tun.« Sein Ton wurde brüchig: »Aber sag, kommen sie wirklich hierher? In unsere Stadt?«
Der Junge bejahte, so habe er den Boten verstanden.
Wilde Spekulationen folgten. Einige erhoben sich eilends, um das Gehörte ihren Freunden und Bekannten mitzuteilen. Die Neuigkeiten würden sich wie ein Lauffeuer ausbreiten und, sofern der Krieg selbst es nicht tat, Panik und Entsetzen in die Herzen der Menschen pflanzen. Chaos und Anarchie würden ihre dunkle Saat aufgehen lassen, ehe es die Schwerter taten.
Kraeh, der mit einem spitzen Knochenstück, das er in dem Eintopf gefunden hatte, Fleischreste aus seinen klaffenden Zahnzwischenräumen pulte, fragte sein Gegenüber, was es mit jenen Zwillingen, vor denen sich alle so fürchteten, auf sich habe.
Als Arduhl antwortete, hatte Kraeh einmal mehr das Gefühl, etwas verbinde sie, vielleicht einfach nur die Außenseiterrolle, die sie beide einnahmen. Zwar gab es noch andere Männer im Schankraum, deren Haut dunkel war, aber keiner wirkte dazu noch so edel und stolz wie er.
»Sie sind der rechte Arm des Kaisers, bekannt für ihren bedingungslosen Fanatismus und die damit einhergehende Grausamkeit. Der Wirt hat recht. Sie treiben sich schon seit einiger Zeit in der Gegend herum. Hast du von der Kriegskrähe gehört?«
»Nein«, sagte Kraeh, womöglich etwas zu voreilig, da sein Gegenüber ihn daraufhin mit einem stechenden Blick beäugte, ehe er fortfuhr.
»Sie ist eine Legende, ein Krieger aus der alten Zeit. Weil er gottlos war, bemühte sich die Kirche, ihn vergessen zu machen. Sie war einigermaßen erfolgreich damit. Niemand nennt mehr offen diesen Namen. Jene aber, welche die Gräuel der Kreuzler kennenlernten, tuscheln abends an den Feuern. Man sagt die Krähe werde zurückkommen und das Land vom Joch der Kruki befreien.«
»Kruki?«, hakte Kraeh nach.
»So nennen sich die Anhänger des Kreuzes selbst, in Abgrenzung zu den Sihhila, die den wahren Gott verehren.« Seine Worte waren bei dieser offenkundigen Lästerung so leise geworden, dass Kraeh sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
»Ich weiß nicht, wer du bist«, meinte Arduhl dann ein klein wenig lauter, »aber du bist nicht der, für den du dich ausgibst.«
»Du scheinst mir aber auch nicht gerade überrascht über den Ausbruch des Krieges«, konterte Kraeh.
Arduhls Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Wohl besser, wir gehen jetzt schlafen«, bedeutete er und wischte mit einer beiläufigen Handbewegung die letzten Sätze weg. »Mein Gefühl sagt mir, dass wir schon bald all unsere Kräfte brauchen werden.«
Das taten sie dann auch. Aber es sollte keine lange Nacht mehr werden.
* * *
Ein Geräusch hatte Kraeh geweckt. Er setzte sich im Bett seines beengten Zimmers auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur fahles Dämmerlicht fiel durch das kleine Fenster über dem Kopfende des Bettes. Da war es wieder: ein Poltern, gefolgt von lauten Schritten, wie sie typisch für eisenverstärkte Stiefel sind. Eine Frauenstimme ertönte. »Ihr da, macht das ihr fortkommt!« Kraeh wunderte sich über die Deutlichkeit, mit der er die Stimme wahrnahm.
Er streifte das Laken ab und stieg aus dem Bett. Mit dem Ohr auf dem Dielenboden lauschte er, doch es war nichts mehr zu hören, abgesehen von weiteren Schritten, die sich nun deutlich vernehmbar die Treppe zu den Gästezimmern hochbewegten. Er begab sich in die Hocke. Durch seine Knie fuhr ein bitterer Schmerz. Er biss die Zähne zusammen und zog behutsam Lidunggrimm aus der Scheide. Geschrei auf dem Flur. Die verschlafene Stimme Isabels, deren Protestrufe in einer schallenden Ohrfeige erstarben. Zweimal schlug Stahl aufeinander, dann war es still, bis die Schritte, diesmal eindeutig mehr als zuvor, sich wieder nach unten entfernten. Kraeh atmete auf, verfluchte aber zugleich die Schwäche seines gealterten Schwertarmes.
Kurz blendete etwas seine Augen und er bemerkte den schmalen Riss im Boden, durch den das Licht gedrungen war. Umständlich legte er sich flach auf den Boden und linste direkt in den Schankraum unter sich. Der Mann, der die Öllampe geschwenkt hatte, trat beiseite, als zwei Gestalten, jene, die gerade die Treppe hinabgegangen sein mussten, in Kraehs Blickfeld kamen. Sie ähnelten sich auf groteske Weise. Wie der mit der Öllampe trugen sie eine weiße Tunika. Im Gegensatz zu ihm war ihr Kettenhemd und der auf Hochglanz polierte Harnisch darüber perfekt an ihre Statur angepasst. Das Rüstzeug der weiblichen Gestalt vermittelte den Eindruck, sie stünde nackt unter ihm; die metallenen Brüste waren formvollendet, bis auf die Stacheln, welche die Brustwarzen ersetzten. Ihre behandschuhte Linke ruhte auf einer nietenverstärkten Peitsche, welche in ihrem Gürtel steckte. Selbst unter dem spitz zulaufenden Helm und dem Visier, das ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, war die Unerbittlichkeit ihres Wesens deutlich zu erkennen.
Das Ebenbild dieser scharfkantigen Züge fand sich unter dem von Rosshaar gekrönten Helm ihres Bruders, durch dessen Aussparung an der Augenpartie, ein Blick purer Boshaftigkeit aufflammte, als er den Kopf leicht nach oben bewegte. Für einen Augenblick blieb Kraehs Herz stehen. Hatte ihn der männliche Zwilling bemerkt? Ein Teil von ihm wünschte es sich sogar. Zu Kampf und Tod gezwungen zu werden, wäre vielleicht besser gewesen, als dem, was nun folgen würde, tatenlos zuzusehen. Die grünen Augen des Zwillings hatten sich aber wieder abgewandt und blickten nun nach unten auf eine Person außerhalb von Kraehs Blickfeld.
»Ich frage nur ein einziges Mal«, drohte er. »Wo ist Arduhl ap Tulaf?«
Isabel keuchte, sie wisse es nicht, er müsse in der Nacht verschwunden sein.
Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie bereits geschlagen worden war, und doch schwang in ihrer Antwort noch ein Körnchen Entrüstung mit, die sie vor der Erkenntnis der Ausweglosigkeit ihrer Lage bewahrte.
»Er ist fort, mehr kann ich euch nicht sagen«, bedeutete sie flehend, wechselte dann aber rasch wieder den Tonfall. »Wir sind doch Diener desselben Gottes, jenes liebenden Gottes, den Kaiser Gunther über alle anderen zur ihm gebührenden Gloria erhoben hat. Ich stehe unter beider Schutz. Hütet euch, mich noch einmal anzufass…«
Das Wort endete in einem Röcheln. Kraeh sah sie erst, als ihr lebloser Körper nach vorn fiel. Nein, sie war nicht tot, bemerkte der Alte schaudernd. Ihre Handballen stützten sich auf dem Boden ab, in dem kläglichen Versuch, den am Hals blutenden Leib aufzurichten. Lidunggrimm zitterte in Kraehs Hand.
»Wir, mein Bruder und ich, handeln auf Geheiß des Kaisers«, bemerkte der weibliche Zwilling sadistisch. »Eine Hure wie du aber sollte sich weder auf ihn noch auf Gott berufen.« Die Peitsche der Frau knallte auf Isabels Rücken, wo sie einen grässlichen Striemen hinterließ. Hände und Arme klappten ein und sie landete auf dem Gesicht.
Ein Kampfschrei erscholl. Lubbo hatte es geschafft, sich von seinem Bewacher zu lösen, der überrascht und leicht zeitversetzt, hinter ihm herkam. Jeden Augenblick würde Lubbos Klinge an dem Schulterschutz der Peinigerin vorbeifahren und ihre Kehle öffnen. Doch sein Angriff wurde jäh gestoppt. Wie Lubbo an sich hinunterblickte und des Schwertes in seiner Magengegend gewahr wurde, fiel ihm die eigene Klinge zu Boden. Er keuchte, als der männliche Zwilling den Stahl in seinem Bauch umdrehte. »Tötet sie alle!«, schnaubte derselbe wutentbrannt und das Gemetzel begann. Kraeh nahm nichts davon wahr außer den Schreien der beiden anderen, die ihn aus dem Wald gerettet und hierher begleitet hatten, und dem abscheulichen Anblick, wie die Frau in der glänzenden Rüstung sich über Isabel beugte, um sie, dem Anschein nach schneller, als sie eigentlich vorgehabt hatte, zu töten, indem sie die Heilige mit der Peitsche erdrosselte.
»Wickelt die Leichen in eure Umhänge«, kam die Anweisung, des Zwillings, der gerade sein Schwert aus Lubbos Fleisch befreite, »wir wollen kein unnötiges Aufsehen erregen.«
Die Soldaten machten sich an die Arbeit, der Zwilling jedoch sah sich, wohl seiner Intuition folgend, misstrauisch im Raum um, ohne sich dabei zu bewegen. Schon zuvor, als der ihm in die grünen Augen geblickt hatte, verstand Kraeh nun, hatte dieser etwas geahnt. Die beiden da unten waren nicht das, worauf man ihrem Äußeren nach schließen mochte. Sie waren keine Menschen und sie wussten, dass sie beobachtet wurden.
Als die Soldaten den Befehl ausgeführt hatten, die Leichen, so vermutete Kraeh, eingewickelt neben der Eingangstür lagen und einer die Blutlachen auf dem Boden mit einem Lappen aufwischte, flüsterten erst die Zwillinge miteinander, dann winkten sie vier der Soldaten herbei und gaben ihnen weitere Order, die Kraeh nicht verstehen konnte. Aber es war deutlich genug, was der Inhalt gewesen war. Die Soldaten huschten schleichend aus seinem Blickfeld und kurz darauf hörte er ihre gedämpften Schritte auf der Treppe.
Kraehs Blut geriet in Wallung. Was sollte er tun? Das Fenster war groß genug, um hindurchzuschlüpfen, aber wenn diese Mörderbande nicht närrisch war, wovon er nicht ausging, würden ihn unten bereits andere Männer mit gezückter Waffe erwarten. Ein Fußpaar war direkt vor seiner Tür, die er, wie ihm jetzt gewahr wurde, leichtsinnigerweise nicht verschlossen hatte. Einen Wimpernschlag bevor sie aufschwang, hechtete Kraeh direkt an die Wand daneben. Er hatte Glück; die Soldaten hatten sich aufgeteilt, nur einer stand auf der Schwelle. Lidunggrimm fuhr diesem so unerwartet und schnell durch die Kehle, dass jener keinen Laut mehr herausbrachte. Der Lebenssaft sprudelte Kraeh in einer Fontäne entgegen, als er den Körper mit beiden Armen auffing und so geschwind er es vermochte, in das Zimmer hievte. Die Tür stand sperrangelweit offen. Würde jemand vorbeigehen, war er entlarvt. Durch die Wände hörte er, wie in einem Nebenraum ein Wortgefecht entbrannte. Ein anderer Gast wollte sich nicht einfach abführen lassen und der Soldat, welcher sich mit dem Streitlustigen befasste, rief nach Hilfe. Bestens!, schoss es Kraeh durch den Kopf, während seine senilen Finger die Kerze auf dem Nachttisch mit dem für sie bereitliegenden Feuerstein entzündete. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis der Docht endlich aufloderte. Vorsichtig, mit der hohlen Hand die kleine Flamme schützend, stellte er die Kerze auf den Boden neben das Bett. Sogleich fing das Laken Feuer. Er schob Lidunggrimm in die Scheide, schleifte den Leichnam des toten Soldaten zum Fenster und stemmte ihn nach oben. Wie ein Sack polterte er über das Dach. Er verhakte sich an der Regenrinne und blieb in grotesker Haltung liegen. Unten wurden Befehle gebrüllt. Sehr gut! Inzwischen brannte das Zimmer lichterloh. Kraeh schlang sich seinen Fellmantel um die Schultern, stürzte aus der Tür, dann den Gang entlang und schließlich die Treppe hinunter.
Während er nach unten hastete, wobei eine der Stufen ihn beinahe zu Fall gebracht hätte, nahm er sich die Zeit, kurz nachzudenken. Diese Kaisertreuen suchten vornehmlich nach Arduhl. Die Soldaten töteten auf Geheiß, wie er hatte erfahren müssen, auch Unschuldige, aber eben nur auf direkten Befehl hin. Seine Sorge musste also allein jenen Zwillingen gelten. Sie würden dort sein, wo ein potenzieller Ausreißer die beste Möglichkeit zur Flucht hätte. Sofern sie seine Finte geschluckt hatten, vermuteten sie ihn auf dem Dach. Zwar hatte er die Leiche nach vorne hin, zur Seite der Eingangstür aus dem Fenster geworfen, aber nur ein Dummkopf würde, wenn er einmal auf dem Dach war, den kürzesten Weg wählen. Demnach wären sie auf der Rückseite des Hauses und er würde wie der besagte Dummkopf handeln.
Im Schankraum hatte sich bereits Qualm angesammelt. Der leichte Morgenwind gab dem Feuer, was es brauchte, um sich flugs auszubreiten. Kraeh stürmte an den Säcken vorbei, in denen sich, wie er wusste, die heilige Isabel, der gutmütige Lubbo und die beiden anderen befanden. Er riss die Tür auf und vernahm das Knistern hinter sich, mit dem das Freudenfeuer seinen Dank über den neuerlichen Luftzug ausdrückte. Hustend waren die Soldaten, die oben gesucht hatten, nun hinter ihm am unteren Ende der Treppe angelangt. Der Ärgermacher hatte seinen Widerstand aufgegeben und stolperte gleich den Soldaten vorwärts, um seine Haut vor den Flammen zu retten.
»Feuer! Feuer!«, platzte Kraeh einige Schritte vor ihnen aus dem Gasthaus. Er war verwundert, wie schnell die Menschen aus den umliegenden Häusern herbeikamen, um dem Spektakel beizuwohnen. Einige liefen mit schwappenden Eimern heran. Tatsächlich waren die Zwillinge nicht zu sehen. Die drei Soldaten, die den Eingang bewachen sollten, wurden der Lage um sie herum kaum Herr. Abgelenkt von dem Anblick ihrer Gefährten hinter Kraeh, erkannten sie in dem Alten, der einen panischen Ausdruck zur Schau stellte, offenbar keine Gefahrenquelle. Ehe er es wirklich begriff, fand Kraeh sich in einer Seitengasse wieder.






