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»Und befriedet«, schaltete sich Thorbilt ein.
Erst jetzt fiel Kraeh die Kette um Rotfars Hals auf, deren Ende unter der am Kragen bestickten Tunika verschwand. Der Wirt verstand und zog an dem Kettchen, bis das kleine goldene Kreuz zum Vorschein kam.
»Wir sind jetzt alle Krukis hier«, erklärte er, da Kraehs Augen sich zu Schlitzen verengten. »Aber sag«, sprach er weiter, die Anspannung seines Gegenübers mit unechter Gelassenheit überspielend, » was bringt dich dazu, in meiner bescheidenen Schenke einzukehren, Herr Kraeh? Eli ist nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt, doch würde er sich sicher geehrt fühlen, die große Kriegskrähe an seiner Tafel willkommen zu heißen.«
Kraeh lächelte. »Das wird sich morgen herausstellen.« Er nahm den letzten Schluck aus seinem Humpen; »Vorerst aber möchte ich dich um einen Schlafplatz bitten. Sofern es für dich in Ordnung ist, dass ich bezahle, sobald es mir möglich ist.«
Rotfar versicherte ein wenig aufgewühlt, er sei selbstredend ein gern gesehener Gast, stand auf und ging in einen Nebenraum. Kurz darauf kam er mit einem Bettlaken unter dem Arm zurück. »Leider kann ich nicht mehr anbieten«, sagte er, als er Kraeh in den unbelegten Schlafraum hinter dem Tresen geführte. »Für einen Mittagsschlaf wird’s hoffentlich reichen«, fügte er noch mit einem Zwinkern hinzu, indem er seinem unerwarteten Gast das Laken in die Hand drückte.
Kraeh bedankte sich und richtete das Bett, welches der Tür am nächsten war. Natürlich würde er wieder kein Auge zutun, den beiden war nicht zu trauen. Er döste ein wenig, darauf bedacht, dass der Schlaf ihn nicht vollends übermannte. Gerne hätte er noch mehr erfahren, aber sein Geist war so träge wie seine Glieder steif. Mit jenen wenigen Dingen jonglierend, die er eben gehört hatte, driftete er ab und schlief unversehens doch ein. Es musste bereits früher Abend sein, als das Tuscheln seiner beiden Gastgeber ihn weckte. Zumindest seine Instinkte waren noch einigermaßen auf Trab. Der beschleunigte Herzschlag in seiner Brust verdrängte den Rest der Müdigkeit. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, Kraeh spürte einen Blick auf sich ruhen, dann schloss sie sich wieder.
»Er schläft«, hörte er Rotfar zu seinem Onkel sagen.
Das durfte doch wohl nicht wahr sein! So plump konnten sie nicht vorgehen. Natürlich versprachen sie sich eine Belohnung dafür, dass sie ihn an die Obrigkeit verrieten, der Grund lag also nahe: Geld. Dem einen fehlte es gänzlich, der andere war wohl von jener Art, die nicht genug bekommen konnte. Aber doch nicht auf diese Weise! Alle machten so ein großes Gerede um seinen Namen, und sobald sie mit ihm zu schaffen hatten, taten sie so, als hätten sie den dümmsten Einfaltspinsel der ganzen Rheinlande vor sich!
Getuschel folgte, aus dem klar »Halbe, halbe« und »Einverstanden« herauszuhören war. Ihre Dummheit kommt mir zugute, versuchte Kraeh, sich zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht gänzlich.
Die Außentür wurde geschlossen. Rotfar hatte das Haus also verlassen. Kraeh gähnte, dann stand er auf. Thorbilt saß, mit Blick auf die Tür, auf einem Schemel. Als sie plötzlich aufging, wäre er fast hintenüber gestürzt. Noch so eine törichte Idee. Was wollte sein Bewacher nun machen? Ihn durch seine Erbärmlichkeit zum Heulen bringen?
»Thorbilt, Thorbilt«, sagte Kraeh kopfschüttelnd. »Man sollte meinen, du hättest aus unserer letzten Begegnung eine Lehre gezogen …«
Der Bettler antwortete nicht, während sein eines Auge auf der Suche nach einer Ausrede durch den Raum irrte.
»Du denkst vermutlich, du hättest nichts mehr zu verlieren.« Kraeh schaute verächtlich auf ihn herab. »Die Gesetze der Spiegelungsgleichheit aber scheinen nahezulegen, dass du mit einem Bein weniger viel hübscher anzusehen wärst …« Dabei glitt seine Hand langsam zu Lidunggrimms Knauf.
Als der Bettler zu winseln begann, nahm Kraeh sich einen Stuhl, rückte ihn vor Thorbilt und setzte sich darauf. Der Schreck hatte gesessen.
»Also hör zu«, untergrub Kraeh das Gejammer, »von jetzt ab werde ich dir jedes weitere Mal, das wir uns begegnen, ein Körperteil abnehmen. Das ist ein Versprechen …«
»Danke, danke!«, fiel ihm das Häuflein Elend ins Wort.
»Soll ich mit der Zunge anfangen?«, fuhr Kraeh ihn an. Mit zusammengepressten Lippen und einer Träne im Auge, bewegte Thorbilt seinen Kopf stumm von links nach rechts.
»Dachte ich mir. Und deinem liebreizenden Neffen richte aus, dass ich kommen werde, ihn zu holen. Ich werde ihm einen Sack Geld um den Bauch binden und ihn im Fluss versenken. Hast du verstanden?«
Thorbilt nickte.
»Schön, hüte dich, mir noch mal über den Weg zu laufen«, sagte der nach dem unruhigen Schlaf wenig erholte alte Krieger, indem er sich erhob. Er zögerte. »Dein Mantel«, forderte er. Umständlich schälte sich der Bettler aus dem alten Fetzen und reichte ihn Kraeh.
Sein Magen war flau, als er aus der Taverne trat. War er so tief gesunken, es nötig zu haben, greise Krüppel einzuschüchtern und auszurauben? Aber halt, dachte er, während er der kleinen Gasse vor sich nach links folgte, da müsste er sich ja beinahe dazurechnen und andererseits gefiel ihm auch die Vorstellung, wie Rotfar sich die nächste Zeit in die Hose machen würde aus Angst, die Kriegskrähe stünde irgendwann vor seiner Tür. Er schob diese Gedanken beiseite. Was er vor allem brauchte, war einen Ort, an dem er wirklich ausruhen und sich erholen konnte, doch er hatte kein Geld, um sich ein Gasthaus leisten zu können, und ohnehin wäre es wohl keine gute Idee gewesen, beim nächsten Verräterpack abzusteigen.
Die Gasse war wie ausgestorben. Nur vereinzelt drangen Geräusche aus den wenigen erleuchteten Häusern an seine Ohren. Sein neuer Mantel stank nach Pisse und Schweiß, kurz wurde ihm wieder übel. Offensichtlich war mehr Zeit vergangen, als er gedacht hatte; Tagesschlaf hatte ihn schon immer verwirrt. Die Rinnen zu beiden Enden der Gasse, welche die Abwässer der Haushalte sammelten, ehe sie in den Rhein gespült wurden, dampften in der Kälte der Nacht und legten einen dunstigen Schimmer über die Pflastersteine, die beinahe völlig darunter verschwanden. Hatte er sich getäuscht oder war gerade tatsächlich der Ruf einer Krähe zu hören gewesen?
Noch einmal. Jetzt war er sich sicher. Schon stießen die schwarzen Schwingen durch die Luft und das Tier landete nur einen Funkenflug vor ihm auf dem Boden. Der Dunst verschluckte den gefiederten Körper bis auf den Kopf. Der Schnabel öffnete und schloss sich, aber diesmal war nichts zu hören. Oder doch? Kraeh konzentrierte sich. Er hatte das übermächtige Gefühl, der Vogel wolle mit ihm in Kontakt treten, wollte ihm etwas sagen, ihn … warnen!
Er reagierte instinktiv. Mit einem schnellen Satz verbarg er sich in einer ausgesparten Nische eines Mauerfundaments. Schon hallten Schritte durch die Gasse, Kettenringe rasselten. Es handelte sich um mindestens zehn Mann, schätze er. Als die Patrouille einbog, flog die Krähe auf. Auf sie aufmerksam geworden, hob der Mann, der die Truppe anführte, seine linke, zur Faust geballte Hand in die Höhe, woraufhin die Soldaten hinter ihm anhielten. Wortlos machte der Mann noch einige Schritte, den Blick auf den sich schnell entfernenden Vogel geheftet. Er stand nun direkt neben Kraeh, der den Atem anhielt, während seine Hand lautlos zu Lidunggrimm wanderte. Der Offizier hatte die Enden seines Schnurrbartes nach oben gezwirbelt. Voller Konzentration lauschte er in die Totenstille. Gleich würde er ihn entdecken, dessen war der alte Krieger sich sicher, immerhin war sein Versteck nicht gerade ausgefallen. Der Mann brauchte nur den Kopf zu drehen. Wie viele würde er in der Überraschung niederstrecken können, bis sie ihn überwältigten?
Die Soldaten, welche in einer Zweierreihe auf ihren Vorgesetzten warteten, begannen, ungeduldig zu werden. »Der hat wohl ein Gespenst gesehen«, schnappte Kraeh auf und zu seiner Rettung auch der Offizier. Er wandte sich ab und der Vorlaute musste eine knappe Rüge über sich ergehen lassen. »Eli verlangt nicht mehr, als einen alten Sack in den Palas zu schaffen«, verteidigte sich der ausgescholtene Soldat.
»Ja, nur war dieser alte Sack zufälligerweise einmal der größte Krieger, den diese Welt kannte. Und genau deshalb, weil du es nicht sonderbar findest, dass wir auf der Suche nach der Kriegskrähe eine Krähe auffliegen sehen, wirst du niemals zum Offizier aufsteigen, geschweige denn, dass dich jemals ein Schwertorden als Ritter aufnehmen wird.
Los jetzt!«, befahl der Schnauzbart abrupt, offenkundig ärgerlich darüber, sich überhaupt auf diese Diskussion eingelassen zu haben.
Im Laufschritt zog der waffenstarrende Trupp am Schlupfwinkel Kraehs vorbei. Als er sich sicher war, dass sie weg waren, trat der Greis aus der Nische zurück auf die Gasse.
Wie er sich durch die menschenleeren Straßen stahl, tränten seine Augen und Schweiß perlte unangenehm seinen Nacken hinab. Fast schien es, als hätten seine Beine ein Eigenleben entwickelt. Ohne das direkte Geheiß ihres Besitzers trugen sie ihn durch die schmuddeligen Viertel der Unterstadt. Kraehs Gedanken gingen auf anderen Wegen, flogen zurück zu jenen Tagen, die er an Siebenstreichs Hof verbracht hatte, wo er zum letzten Mal sogenannten Rittern begegnet war. Die bretonischen Abgesandten, die damals dort verweilten, hatten jenen Rang bekleidet. Er hatte sich gut mit ihnen verstanden, jedoch nie genauer nachgehakt, was es mit ihren Titeln auf sich hatte, deshalb war sein Bild von einem Ritter vage. Der schnauzbärtige Soldat von vorhin allerdings wollte nicht einmal jener ungenauen Vorstellung entsprechen. Ein Ritter war doch zumindest hoch zu Ross anzutreffen, edel und tugendhaft in all seinem Betragen. Kraeh musste über sich selbst schmunzeln, er hatte doch wahrlich genug gehört und gesehen, um nicht auf solche Wunschbilder hereinzufallen.
Fischgeruch brachte ihn zurück in die Wirklichkeit. Hier im Hafenviertel lebte man anscheinend nach einer anderen Zeit. Letzte Verhandlungen wurden geführt, während die meisten Stände des kleinen Marktes, auf den er gedankenverloren zugegangen war, von ihren Betreibern soeben aufgeräumt wurden. Die Waren, Muscheln, Flusskrebse, vor allem aber Fische in jeder erdenklichen Form und Größe, wurden in von Salz glänzenden Stoff eingewickelt und anschließend in Körbe verpackt. Am nächsten Tag würden sie nur noch die Hälfte wert sein, ein Gesetz, das jenen, welche mehrere Körbe zu füllen hatten, in die schlecht gelaunten Gesichter geschrieben stand. Dennoch wurde bei der harten Arbeit, an der sich die ganzen Familien beteiligten, auch gescherzt und gelacht.
Kraeh lehnte sich an eine Ecke und sah den Männern, Frauen und Kindern dabei zu, wie sie Bretter vor die vom Tran klebrigen Ablageflächen türmten, Karren beluden und Mütter ihre Kleinsten mitten in all dem Schmutz und Gestank stillten. Es war offensichtlich ein rauer Alltag. Ungeachtet dessen rührte sich in Kraeh der Anflug von Bitterkeit. Nie nach seiner Jugend hatte er die Freuden eines solch einfachen Lebens kosten dürfen, nie erfahren dürfen, wie es sich anfühlte, einen eigenen Sohn in den Armen zu halten.
»Du da!«, gellte ein sehniger Halbstarker ihn an, der trotz der Kälte lediglich eine armfreie Strickjacke trug. »Willst du nur herumstehen oder dir ein bisschen Kupfer durch Arbeit hinzuverdienen?«
»Eigentlich wollte ich über den Fluss«, sagte Kraeh ein wenig aus der Fassung geraten. Nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, wartete hier nichts als eine dunkle Kerkerzelle und vielleicht eine glühende Zange auf ihn. Nein, er durfte nicht auf Hilfe hoffen und würde den Weg nach Erkenheim alleine meistern müssen. Geschliffen hin oder her, die Drudenfeste war sein Ziel. Er hatte kein anderes.
Der Bursche ließ von seinem Tun ab, kam ausladenden Schrittes auf ihn zu, setzte eine feixende Miene auf und meinte: »Da bist du nicht der Erste. Pass auf, ich bin hier eigentlich fertig, wenn du den Tisch da drüben schrubbst und kurz auf meinen Bruder aufpasst«, er deutete auf einen verloren wirkenden Jungen mit einem Lappen in der Hand, »kannst du mit übersetzen.«
Er wartete die Antwort gar nicht ab – augenscheinlich war das Angebot in seinen Augen viel zu großzügig, als dass es einen Sinn ergeben hätte, dieses auszuschlagen –, gab dem sommersprossigen Jungen einen Klaps und war schon um eine Ecke verschwunden.
Zugleich überrumpelt und erfreut, wie leicht ihm dies zugefallen war, trat Kraeh an den niedrigen Tisch, ließ sich den Lappen reichen und begann, die Überreste des Tages von dem maroden Holz zu wischen.
Der Junge mit dem fettigen, flachsblonden Haar sprach kein Wort. Auch als Kraeh sich als Henfir vorstellte, blieb der Kleine stumm. Da Kraeh gerade mit dem Tisch fertig war und sich daranmachen wollte herauszufinden, was den Jungen wohl so eingeschüchtert hatte, tauchte sein älterer Bruder wieder auf. Doch er kam nicht allein; fünf weitere Fischersöhne in seinem Alter trotteten hinter ihm her. Ihre abgetragenen Westen und Mäntel wölbten sich an den Hüften. Sie trugen Waffen.
»Mein Name ist Svain«, sagte jener, der ihm die Überfahrt angeboten hatte, während er den Jungen ein Stück mit sich schob, bis sie ein altes Weib erreichten, das ihn wie selbstverständlich an die Hand nahm. Sobald die beiden außer Sicht waren, stellte Svain die anderen vor. »Allesamt Freunde von mir«, schloss er. Und weil er Kraehs Blick zuvor bemerkt hatte, erklärte er, sie trügen Waffen zu ihrem Schutz, da man nie wisse, was der Fluss einem bringe, besonders des Nachts.
Kraeh tat die Rede mit einem »Aye« ab und folgte den wenig Vertrauen erweckenden Burschen die Straße hinab, welche zum Ufer führte.
Ein breiter Kahn, unstet im Wasser auf und ab schwappend, erwartete sie, ein gutes Stück von den letzten regulären Anlegestellen entfernt. Nur jene, die für die Pacht eines bewachten Ankerplatzes nicht aufkommen konnten, banden hier ihre Boote an Felsblöcke, die sonderbar einsam ihren stummen Dienst verrichteten und dabei einem, der nicht gesehen werden wollte, jede Menge Schutz böten. So dachte Kraeh, den Blick auf den siebten im Bunde gerichtet. Nachdem dieser von Svain gegrüßt worden war und das Halteseil losgebunden hatte, sprang der junge Mann ins brackige Wasser, das ihn bis zur Brust umspülte, und hielt das Boot gerade. Die Strömung schien nicht stark und den Übrigen gelang ein trockener Einstieg. Kraeh war froh, den Balanceakt hinter sich zu haben, da keiner der Burschen daran gedacht hatte, ihm eine Hand zu reichen. Schon wollte er nachfragen, als der zweite Passagier unvermittelt vor dem Bug und hinter Svain, der als Anführer das Boot als Letzter betreten würde, auftauchte. Svain musste ihn die ganze Zeit über gesehen haben, zumindest wirkte er nicht überrascht.
Zwei Dinge schossen Kraeh durch den Kopf. Wieso hatte er selbst ihn nicht früher bemerkt? Er hatte doch extra auf die Umgebung geachtet. Und woher, bei den enthaupteten Nornen, kannte er den Mann? Ein lang geschnittenes, schwarzes Cape gab nicht viel von seiner Statur preis, verdeckte auch die Haare, irgendetwas aber an seinen Bewegungen war unverkennbar. Sie waren zu genau, sparsam und allzu exakt ausgeführt. Sein Satz in den Kahn, dem es wohl selbst nicht aufgefallen war, dass er nun das Gewicht eines weiteren Reisenden tragen musste, so schnell und sacht zugleich war er zugestiegen, war formvollendet. Der Mondschein gab ebenmäßige Züge unter einem struppigen Bart preis.
»Ah …«, staunte Kraeh, im selben Moment vergegenwärtigend, dass es vielleicht von Vorteil war seine Bekanntschaft mit Arduhl zu verhehlen. »Ah ja, dann kann’s ja losgehen«, rettete er die Situation. Arduhl setzte sich ohne ein Anzeichen, ihn wiederzuerkennen, Kraeh gegenüber auf die wenig bequemen Querstreben, die das Boot anstelle von Bänken durchzogen.
Der junge Mann zog sich triefend auf den Kahn und Svain gab ihm mit seinem Sprung genug Schub, um abzulegen. Die beiden stakten sie mit zwei langen Stangen ein gutes Stück vom Ufer weg. Sobald die Strömung stärker und der Grund tiefer wurde, ließen sie davon ab und Svains Bande wickelte Ruder aus einer Kuhhautplane und begann, den Kahn mit kräftigen Zügen auf den Fluss hinauszuschippern.
Die Überfahrt würde eine Weile dauern. Kraeh streckte sich aus, so gut es ging. Jede Faser in ihm lechzte nach Ruhe und Erholung. Meine Güte, dachte er, bin ich alt geworden. Seine vor Müdigkeit tränenden Augen fielen zu; er ließ es geschehen. Sie öffneten sich erst wieder, als sie bereits auf der anderen Seite, in einen von Wasserpest bedeckten Seitenarm einliefen. Es war einer der wenigen im Einzugsgebiet Brisaks, welcher nicht der Flussbegradigung unter Brans Regentschaft zum Opfer gefallen war. Die ausladenden Wurzeln eines überhängenden Baumes diente ihnen als Anlegestelle. Der Kahn wurde vertäut und sie kletterten, an den klitschigen Wurzeln Halt suchend, an Land. Kraehs Magen fühlte sich flau an. Seine aus der Erschöpfung herrührende Konzentrationsschwäche hatte der unruhige Schlaf in dem Gasthaus nicht vertreiben können und sie war ihm nur allzu deutlich bewusst, als die sieben Burschen sich, sichtlich nervös, im Halbkreis um ihn und Arduhl herum gruppierten.
»Hier ist der Rest«, sagte Arduhl in seinem fremdländischen Akzent und warf Svain ein klimperndes Beutelchen zu.
Der Angesprochenen ließ es, ohne einen Blick darauf zu werfen, in einer Tasche verschwinden.
»Wir wollen das Doppelte. Und sein Schwert.«
Kraeh erinnerte sich, wie beim Erwachen sein Mantel von Lidunggrimms Scheide gerutscht war. Schon wieder Ärger wegen der kostbaren Klinge! Früher hatte sie einmal den Zweck gehabt, Ärger zu beseitigen …
Arduhl blieb stumm. Er schien ebenso wenig überrascht von der Wendung wie Kraeh selbst, nur hätte Kraeh, wäre er alleine gewesen, eher auf eine schnelle Flucht gebaut. Svain und seine Jungs hatten von Anfang an geplant, sie aus der Stadt zu bringen, um sie hier im mehr oder minder rechtlosen Raum in Ruhe auszunehmen. Waren eigentlich alle Menschen schlecht oder hatte er in der letzten Zeit einfach nur Pech? Der Südländer trat vor Kraeh, seine Hände waren unter den Falten seines Capes verschwunden. Auch die der anderen wanderten zu ihren Hüften.
Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse. Kraeh bemerkte die Bewegung am Rande seines Blickfeldes zu spät, um dem Knüppel ganz auszuweichen. Er traf ihn hart an der Schulter und schmetterte ihn mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes, durch dessen karge Krone das Mondlicht den Platz des Geschehens beleuchtete.
Als er sah, wie jener, der den Schlag gegen ihn geführt hatte, von der Wucht seines Hiebes leicht aus dem Gleichgewicht geraten, in Arduhls Schwert lief, das dort auf wundersame Weise wie aus dem Nichts aufgetaucht war, entschied er sich, dem Folgenden als Zuschauer beizuwohnen und seine Zurückhaltung nur aufzugeben, falls es nötig werden würde – wozu es nicht einmal im Ansatz kommen sollte.
Arduhls Bewegungen waren ein Liebesgeständnis an seine Klinge. Sie berührte die anderen Waffen nicht, sie waren es nicht wert, nur ihre Besitzer bekamen ihren Kuss zu spüren. In unglaublicher Schnelligkeit und Präzision tauchte sie in sie ein und wieder hinaus. Noch nie hatte Kraeh bei einem Schwertkampf so wenig Blut fließen sehen. Einer nach dem anderen, der den Kuss empfing, sackte in sich zusammen; den Boden noch nicht ganz erreicht, fiel schon der Nächste. Es war, wie einem Künstler des Todes zuzusehen.
Als er mit ihnen fertig war, wischte Arduhl den Stahl an Svains Weste sauber.
»Hast du ein Ziel, alter Mann, oder suchst du nur nach einem raschen Tod?« In seiner Stimme schwang ein Hauch von Verachtung mit.
»Ich bin auf dem Weg nach Erkenheim, zu einer alten Bekannten.«
Arduhls Miene zeigte auch jetzt kein Erstaunen, er schürzte nur die Lippen und bedeutete dem Alten – wie selbstverständlich davon ausgehend, dass sie gemeinsam reisen würden – vorauszugehen. Kraeh massierte sich die geprellte Schulter und kam mühsam auf die Beine. Er orientierte sich kurz am Nordstern und schlug dann eine ungefähre Richtung in den schlüpfrigen Untergrund des Auenwaldes ein.
Lidunggrimm schnurrte in ihrer Scheide, enttäuscht, den Tanz verpasst zu haben. Kraeh beruhigte sie in Gedanken matt: Unser Tag wird kommen.
* * *
Sie waren nicht lange gegangen, als Kraeh nicht mehr weiterkonnte. Wenig erfreut gestand Arduhl ihnen eine Rast bis zum Morgengrauen zu. Der Alte erstaunte ihn dadurch, einen Schlafplatz zu finden, der frei von Schlick und Schlingpflanzen war, über die man immerfort stolperte und deren Dornen Schlitze und Löcher in Arduhls Lederstiefel gerissen hatten, durch die nun die kühle Nässe seine Füße heimsuchte. Er war die rauen Höhen der Gebirge von Morak und die trockene Einsamkeit der Mura-Steppen gewohnt; diese klamme Sumpflandschaft aber, in der sie sich befanden, zehrte an seinen Nerven. Er wrang den Stoff aus, den er um seine Füße zu wickeln pflegte, und folgte dann mit kleinmütigem Widerwillen, den er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dem im Plauderton vorgebrachten Rat des Alten. Angewidert sah er seinen Händen dabei zu, wie sie die Stiefel dick mit dem Fett beschmierten, das er sonst gebrauchte, um seine Schwertscheide geschmeidig zu halten. Schließlich hängte er Stofflappen und nun matt glänzendes Schuhwerk an einem niedrigen Ast auf, dass der Wind damit spielen konnte.
Da der Alte auf die Frage, ob er in diesen Gebieten aufgewachsen sei, schon nicht mehr antwortete, bettete Arduhl seinen in die Kapuze gehüllten Kopf auf einen umgestürzten Baumstamm und schloss, obwohl er keine Müdigkeit verspürte, die Augen. Alles ist lediglich eine Sache des Willens, vergegenwärtigte er sich die Lehrworte seines Großneffen Idrahims, der damals das erste Viertel seiner Ausbildung übernommen hatte. Wir sind nicht mehr als die Summe jener Fähigkeiten, die wir uns in unserer Jugend zu eigen machen.
Ob der Greis, der mittlerweile geräuschvoll schnarchte, wohl ahnte, welche Kräfte sie zusammengeführt hatten? Es war gleich. Er würde sich von ihm aus diesem ungastlichen Landstrich führen lassen, der nicht besser geeignet hätte sein können, seine Spuren zu verwischen, und ihn dann seinem Schicksal überlassen.
Er konzentrierte sich darauf, sich auf nichts mehr zu konzentrieren, und schlief kurzerhand ein.
Die Sonne reizte seine Nase und ein heftiges Niesen ließ ihn schließlich hochfahren. Sie hatten verschlafen! Nicht sie, wie Arduhl kurz darauf aufging. Henfir oder wie auch immer der Alte heißen mochte, saß ein kleines Stück entfernt über einem knisternden Feuer, das kaum Rauch entwickelte. Auf einem aus hellen Zweigen errichteten Rost über der Feuerstelle, brodelte ein Sud in seinem Tonbecher, den der Alte ihm entwendet haben musste, als er noch geschlafen hatte.
Zerknirscht kam Arduhl auf die Beine, seine Nase war zu und in seinem Hals hatte sich über Nacht ein unangenehmes Kratzen eingenistet.
»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, fragte er schlecht gelaunt, während er neben das Feuer trat und von oben in seinen Becher schielte. Mit einer Geste, die ihm zu verstehen gab, dass das Getränk seinem Hals wohltun würde, bot Kraeh ihm den Becher an, nachdem er selbst einen Schluck daraus genommen hatte. Als Arduhl das dampfende Gebräu, immer noch auf eine Erwiderung wartend, an die Lippen setzte, hob Kraeh in provozierendem Tonfall zur Gegenfrage an: »Wieso habt Ihr, Arduhl ap Tulaf, die heilige Isabel an ihrem letzten Morgen nicht geweckt?«
Das hatte gesessen. Und Kraeh war besonders stolz darauf, den vollen Namen seines Gegenübers behalten zu haben, den er von einem der Zwillinge aufgeschnappt hatte, als er in dem Gasthaus der stille Zeuge ihrer Grausamkeiten geworden war.
Der Südländer nahm einen großen Schluck von dem bitteren Sud, ohne die Miene zu verziehen, kniete sich hin und gab dem Alten den Becher zurück. Ihre Gesichter waren einander nun so nah, dass sie sich beinahe berührten.
»Die Schnepfe konnte einfach den Mund nicht halten.« Seine Stimme war flach und ausdruckslos. Kraeh kannte diese Art zu sprechen von Sedain und er wusste ja auch so bereits, dass sein Gegenüber nicht zu jener Sorte Hund gehörte, die laut bellte, weil ihre Zähne stumpf waren.
»Am Ende«, fuhr Arduhl fort, »erging es ihr wie allen, die zu viel reden.« Es stand außer Frage, er wollte drohen, aber etwas in den dunklen Augen verriet Kraeh, dass ihm der Tod Isabels, obgleich sie ihm als Mittel zum Zweck gedient hatte, keinesfalls gleichgültig war. Auch deshalb, vor allem jedoch aus einer alten Charakterschwäche heraus, gegen die er längst aufgegeben hatte anzukämpfen, stichelte er weiter.






