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Bei dieser Unterredung zeigte Herriot wieder eine starke Erregung. „Ich war stets gegen diese Ruhrbesetzung“, rief er mit erhobener Stimme Stresemann zu. „Als mein Vorgänger Poincaré einmarschierte, hat keiner der Alliierten zunächst Widerspruch erhoben. Jetzt aber, wo ich mich mit der Räumung einverstanden erklärt habe, werde ich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Ich komme mir vor wie jemand, der eine steile Treppe hinabsteigt und ein kostbares Gut in den Händen trägt – das ist der Friede. Wenn mir jemand in den Rücken stößt, komme ich zu Fall. Auf mich kommt es nicht an, aber wenn ich stürze, geht auch jenes kostbare Gut in die Brüche: der Friede!“
In den letzten Tagen der Konferenz wurden dann in stunden –, oft nächtelangen Sitzungen die technischen Fragen und die Vertragsformulierungen zum Abschluß gebracht. Meine Arbeit betraf dabei wieder hauptsächlich die französisch-sprachigen Verhandlungen, während Kiep weiter für die englischen Übersetzungen sorgte und Michaelis ausgeschaltet blieb. Eine Fülle von technischen Einzelheiten auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet wurde im Zusammenhang mit dem Dawès-Plan geregelt. Der Plan blieb, so wie wir ihn vor Monaten im Sprachendienst übersetzt hatten, die unveränderte Grundlage.
Das Wesentliche an der Londoner Konferenz war „das, worüber eigentlich nicht gesprochen werden durfte“, die zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland getroffenen Sondervereinbarungen über die politischen Fragen, d. h. über die Liquidierung des Ruhrabenteuers. Sie wurden nicht in dem eigentlichen Vertrag niedergelegt, sondern fanden ihren Ausdruck in einem amtlichen Briefwechsel zwischen den beteiligten Delegationen. Als das Wichtigste aber erschien mir damals und erscheint mir heute noch das, worüber überhaupt keine schriftlichen Abmachungen getroffen wurden: die grundsätzliche Abkehr von der Methode des Diktates der Sieger über die Besiegten und die erstmalige Einführung eines neuen Verhandlungsverfahrens, indem sich sämtliche Beteiligten als Gleichberechtigte am Verhandlungstisch gegenübersaßen – wenn auch zunächst nur formell; aber auch das war schon ein großer Fortschritt und die unerläßliche Voraussetzung für die spätere Befriedung. – Nach der überreizten, kriegsähnlichen Atmosphäre, die der Ruhreinmarsch heraufbeschworen hatte, war damit trotz aller sachlichen Einschränkungen ein sehr bedeutender Schritt getan.
Wesentlich ergänzt wurde dieses Verfahren durch die erstmalige Aufnahme des persönlichen Kontaktes in ungezwungener Aussprache zwischen den verantwortlichen Staatsmännern. Was ich dabei auf der französischen Seite erlebte, hatte sich gleichzeitig, zwar in weniger dramatischer Form, aber doch im selben Geist, auch auf der englischen Seite in den Gesprächen abgespielt, die MacDonald und Kellogg mit den Deutschen geführt hatten. Es war tatsächlich die Morgendämmerung einer besseren Zeit in den internationalen Beziehungen am Horizont sichtbar geworden. Der Silberstreifen war trotz aller späteren Rückschläge und Vorbehalte keine Illusion gewesen.
Zu den Problemen, die damals in der Luft lagen, gehörte auch die Kriegsschuldfrage. Bekanntlich wurde Deutschland im Versailler Vertrage die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg aufgebürdet. Bald nach Versailles war in Deutschland und auch in der übrigen Welt Widerspruch gegen diese Schuld these erhoben worden, und zwar auf Grund von Dokumenten, die erst allmählich aus den geheimen Archiven der Kanzleien an die Öffentlichkeit gelangten. Die deutsche Regierung hatte ursprünglich die Annahme des Dawes-Planes dazu benutzen wollen, um gegen die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkriege Stellung zu nehmen. Es bestand die Absicht, diese Erklärung in der Schlußsitzung der Londoner Konferenz abzugeben. Die Schlußrede des Reichskanzlers Marx, die wir vorher übersetzt hatten, enthielt auch einen entsprechenden Passus.
Die deutsche Delegation, der wohl bekannt war, wie scharf die Reaktion der Alliierten auf eine amtliche deutsche Zurückweisung der Schuldthese sein würde, hielt es für erforderlich, zumindest MacDonald vorher zu informieren, um einen Zwischenfall und ein Scheitern der Konferenz im letzten Augenblick nach Möglichkeit zu verhindern. Denn auf dieser These von der Alleinschuld Deutschlands beruhte ja das ganze Gebäude des Nachkriegseuropas, wie es sich aus dem Versailler Vertrag ergab. Letzten Endes bildete sie auch die Grundlage für die mit so vieler Mühe unter Dach und Fach gebrachte Reparationslösung im Dawes-Plan.
So bereitete sich denn Marx darauf vor, MacDonald am letzten Tage der Konferenz, am 16. August, noch unter vier Augen zu informieren. An diesem Tage jagte jedoch eine Besprechung die andere. Es war den ganzen Tag über einfach nicht möglich, MacDonald allein zu sprechen. Immer näher rückte die für 6 Uhr nachmittags im englischen Auswärtigen Amt angesetzte Schlußsitzung. Marx beabsichtigte, MacDonald noch kurz vor deren Eröffnung über sein Vorhaben ins Bild zu setzen. So fuhren wir denn etwas früher in das Foreign Office. Hier stellte sich jedoch heraus, daß die Alliierten bereits seit einiger Zeit in einem anderen Raum unter sich berieten, so daß sich wieder keine Gelegenheit zu einer Aussprache ergab. Die Sitzung der Alliierten zog sich länger, als erwartet, hin; dadurch begann die Schlußkonferenz erst geraume Zeit später als vorgesehen. Natürlich war nun nicht mehr daran zu denken, MacDonald gewissermaßen zwischen Tür und Angel über diesen wichtigen deutschen Schritt ins Bild zu setzen.
Inzwischen hatten wir von einigen nicht an der alliierten Beratung teilnehmenden Engländern gehört, daß in der Schlußsitzung nur die Unterzeichnung des Vertragswerkes vorgenommen werden würde und daß MacDonald als einziger eine Schlußrede halten sollte.
Die drei deutschen Hauptdelegierten berieten sich wegen dieser neuen Lage kurz in einer Ecke des Konferenzsaales. Nun würde ja Marx gar nicht mehr sprechen können und auch seine Erklärung in der Schuldfrage nicht loswerden. Es wurde also beschlossen, die Aktion auf später zu verschieben und die Erklärung bei Annahme des Dawes-Abkommens durch den Reichstag abzugeben. Dies sei, so hörte ich Stresemann sagen, vielleicht ein geeigneterer Augenblick, da er die Gefahr von unangenehmen Reaktionen der Gegenseite praktisch ausschließe.
Wenige Minuten danach war die alliierte Besprechung zu Ende, und die Schlußsitzung der Londoner Konferenz begann. Sie war wie so viele andere Schlußsitzungen, die ich später noch mitmachte, alles andere als feierlich. Monoton verlas Sir Maurice Hankey, der englische Generalsekretär der Konferenz, einige technische Erläuterungen für die Paraphierung des Abkommens„ das in einem vom 16. August datierten Protokoll vorlag. In diesem wurde festgestellt, daß alle beteiligten Regierungen und die Reparationskommission die Annahme des Sachverständigenplans bestätigt und seiner Ingangsetzung zugestimmt hätten. Vier Abkommen zur Durchführung des Planes waren als Anlagen dem Protokoll angeschlossen.
Gleichzeitig mit dem Protokoll und seinen Anlagen wurde ein Schriftwechsel zwischen Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland andererseits über die militärische Räumung des Ruhrgebietes veröffentlicht. In diesem wurde zwar die Maximalfrist von einem Jahre beibehalten, in einem zweiten Schreiben Herriots und der Belgier aber wurde die militärische Räumung der Zone Dortmund-Hörde und der seit dem 11.Januar 1923 außerhalb der Ruhr besetzten Gebiete für den Tag nach der Unterzeichnung des Londoner Abkommens vorgesehen.
In einem ebenfalls unter dem Datum des 16. August 1924 veröffentlichten Brief MacDonalds an die Ministerpräsidenten Frankreichs und Belgiens, der dem deutschen Reichskanzler offiziell in Abschrift zugestellt wurde, erklärte dazu noch die britische Regierung, daß sie „mit allem Nachdruck darauf dringe, daß die beteiligten Regierungen jeden nur möglichen Schritt tun, um die Räumung zu beschleunigen, da nach Ansicht der britischen Regierung die Aufrechterhaltung der Besetzung die Durchführung des Dawes-Planes beeinträchtigen und die Abmachungen gefährden könnte, die auf der Londoner Konferenz vereinbart worden sind“.
Mit besonderem Interesse las ich gerade diese Sätze damals am letzten Tage der Konferenz. Zeigten sie mir doch, welch weiten Weg die deutsche Delegation unter Stresemanns Führung seit der Eröffnung der Konferenz zurückgelegt hatte, als „über das eigentliche Thema überhaupt nicht gesprochen werden durfte“.
Nach den nüchternen, technischen Ausführungen von Sir Maurice Hankey ergriff MacDonald das Wort zur Schlußrede. „Meine Freunde!“ redete er die Konferenzteilnehmer an, „ich möchte Sie und uns zum erfolgreichen Abschluß der gemeinsamen Arbeiten beglückwünschen.“ „Könnte sich wohl“, fuhr er fort, „irgend jemand das Unheil vorstellen, das geschehen wäre, wenn unsere Konferenz keinen Erfolg gehabt hätte? Wir haben am heutigen Tage das erste durch Verhandlungen zustande gekommene Abkommen seit dem Kriege erzielt. Wir haben versucht, einander so weit entgegenzukommen, wie es uns die öffentliche Meinung der verschiedenen Länder gestattete.“
In diesem auf Freundschaft und Frieden abgestellten Ton, der MacDonald offensichtlich von Herzen kam, fuhr er noch eine Weile lang fort. Nach einem Ausblick auf die gleichfalls noch durch internationale Vereinbarungen zu lösenden Probleme der interalliierten Schulden, der Abrüstung und der Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes schloß er mit folgenden Worten: „Das Allerwichtigste jedoch ist heute, daß wir sicher sind, uns auf dem rechten Wege zu befinden. Ich glaube, daß wir ihn in unseren Beratungen gefunden haben, und, wie lange oder wie kurz die Herrschaft jedes einzelnen von uns sein mag – wir sind nichts als Strohhalme im Wirbel der öffentlichen Gunst –, wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein, daß wir das Glück hatten, an dieser historischen Konferenz teilzunehmen, die eben im Begriff ist, so erfolgreich zu enden.“
Wir erwarteten nun, daß zur Paraphierung der Texte geschritten würde, aber zu unserer Überraschung meldete sich noch Herriot zum Wort. Zuerst sah es so aus, als wolle er lediglich im Namen sämtlicher Delegierten MacDonald und der englischen Regierung für deren Gastfreundschaft und für die tatkräftige Mithilfe beim Zustandekommen der Vereinbarungen danken. Dann aber sprach er eine ganze Weile nur Von Frankreich und stellte die schon während der Konferenz vertretenen Thesen wirksam und beredt dar.
„Zwar haben wir nicht alle Fragen lösen können, aber wir sehen schon heute die Morgenröte, die den neuen Tag ankündigt, heraufsteigen und wir können hoffen, daß wir bald das helle Licht des Tages erblicken werden.“
So gut gemeint und zutreffend wohl auch besonders die letzte Äußerung war, so brachte die Tatsache, daß nun doch außer MacDonald einer der Delegationsführer das Wort ergriffen hatte, die deutsche Delegation in einige Verlegenheit. Sollte nun Marx auch seinerseits noch seine vorbereitete Rede halten? Bestand nicht die Gefahr, daß die Erklärung über die Kriegsschuldfrage einen Eklat herbeiführen würde?
Die drei Hauptdelegierten Deutschlands steckten die Köpfe zusammen. Von seinem Platz hinter ihnen beteiligte sich Herr Schubert mit hochrotem Gesicht an der, wie ich aus der Ferne zu bemerken glaubte, offenbar recht erregten Unterhaltung.
Inzwischen hatten sich auch noch die Amerikaner, die Belgier und die Italiener zum Wort gemeldet. Von ihren Ausführungen ist mir heute nichts mehr erinnerlich, was irgendwie bemerkenswert wäre. Nun aber blieb Marx nichts weiter übrig, als seine Rede zu halten. Er meldete sich zum Wort und betonte, welch schweren Entschluß die Annahme des Dawes-Planes für die deutsche Regierung bedeute. Als Jurist begrüßte er die wichtige Rolle, die dem Schiedsgerichtsverfahren in den Abkommen zugewiesen worden sei, und gab zum Schluß seiner Genugtuung über den hohen Geist des Friedens und der Versöhnlichkeit Ausdruck, der auf der Konferenz gewaltet habe. Seine Ausführungen fanden wiederholt lebhaften Beifall, besonders bei den Engländern und Amerikanern. Ich wartete interessiert auf die Aufnahme, die die Distanzierung von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands finden würde, aber ich wartete vergeblich. Marx setzte sich wieder auf seinen Platz. Er hatte die kritischen Sätze weggelassen.
Nach ihm übersetzte Michaelis ins Englische und Französische. Er machte seine Sache hervorragend. Auch den ruhigen Ton von Marx traf er sehr gut. Wieder folgte bei beiden Fassungen starker Beifall, immer ein gutes Zeichen für die Qualität der Übersetzung. Michaelis hatte gut aufgepaßt – auch er ließ den in der vorbereiteten Rede enthaltenen Passus über die Schuldthese weg.
Dann traten die einzelnen Delegierten nacheinander an die Tische auf der einen Seite des großen Sitzungssaales, von dem aus man über den Green Park bis in den Hyde Park hineinsehen konnte. Die Vertragsdokumente wurden paraphiert. Länger als eine halbe Stunde dauerte es, bis der letzte Delegierte seine Initialen daruntergesetzt hatte. Dann schloß MacDonald die Sitzung, und meine erste Großkonferenz war zu Ende.
Noch am selben Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin zurück. Ich selbst glaubte damals die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, im Anschluß an London auch der Hauptstadt Frankreichs einen Besuch abzustatten. „Wer weiß, wann sich eine solche Möglichkeit wieder einmal ergibt“, hatte ich zu dem Leiter des Sprachendienstes gesagt, der mir diese Reise ermöglichte. Darin hatte ich mich gründlich getäuscht. Denn schon im Herbst desselben Jahres begleitete ich die deutsche Wirtschaftsdelegation nach Paris, die dort mit Unterbrechungen drei volle Jahre über einen Handelsvertrag mit den Franzosen verhandelte, so daß ich reichlich Gelegenheit hatte, die Hauptstadt Frankreichs und ihre Bewohner kennenzulernen.
4
MORGENRÖTE IN LOCARNO (1925)
In seinem Schlußwort auf der Londoner Konferenz hatte Herriot zwar schon die Morgenröte erblickt, die den neuen Tag ankündigte, aber die Wirklichkeit sah in den Wochen, die unmittelbar auf die Konferenz folgten, erheblich anders aus. Die Überschwenglichkeit der Stimmung unter den Delegierten, als die mühevolle Arbeit der Londoner Tage und Nächte nun endlich ihren Abschluß gefunden hatte, war den harten Realitäten des politischen Lebens in Frankreich und Deutschland gewichen.
Ich selbst wurde einige Zeit nach meiner Rückkehr aus Paris Mitglied einer Delegation, die in Koblenz mit den Alliierten über die Anwendung der Londoner Beschlüsse auf die Liquidation des Ruhrabenteuers zu beraten hatte. Der Unterschied zwischen der freundlichen Atmosphäre in London und der herablassend feindlichen Haltung, die die Vertreter der alliierten Besatzungsbehörden in Koblenz den deutschen Delegierten gegenüber einnahmen, wirkte auf mich wie ein kalter Wasserstrahl. Ich erfuhr hier zum ersten Male, wie weit der Weg von den obersten Spitzen eines Landes bis zu den unteren Organen ist. Hier in Koblenz herrschte noch der Geist Poincarés in reinster Form. Mit der Zigarette zwischen den Lippen blickten uns unsere französischen und belgischen Gesprächspartner mit eisiger Ablehnung an, und auch die Engländer verhielten sich nicht viel freundlicher.
Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, im eigenen Lande von Ausländern als unerwünschter, höchstens geduldeter Gast behandelt zu werden, wenn ich mit den übrigen Delegierten das von den Besatzungsbehörden in Koblenz zum Verhandlungsort bestimmte Gebäude des Oberpräsidiums betrat. Nicht wie in London am runden Tisch saßen hier die Deutschen als Gleichberechtigte den anderen gegenüber. Hier war wieder alles streng nach Siegern auf der einen Seite des Tisches und Besiegten auf der anderen eingeteilt. Dem entsprach auch der Geist, in dem die Verhandlungen geführt wurden. Es war eine eigenartige „Morgenröte“. Mit unendlicher Mühe und Geduld mußte hier von deutscher Seite den Besatzungsvertretern Schritt für Schritt erneut das abgerungen werden, was in London unter den Großen beschlossen worden war.
Nach drei Wochen Koblenz wurde ich eines Tages überraschend nach Paris zur deutschen Handelsvertragsdelegation versetzt und verschwand damit für lange Zeit aus Berlin. Diese deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen waren ebenfalls ein Kind der Londoner Konferenz. Ganz unbemerkt neben den großen Ereignissen war hier eines Nachmittags im Hyde Park Hotel, dem Sitz der französischen Delegation, in einer Besprechung zwischen Stresemann und Staatssekretär Trendelenburg aus dem Reichswirtschaftsministerium auf deutscher Seite und Herriot, Clémentel und dem Ministerialdirektor Seydoux von der Außenhandelsabteilung des französischen Außenministeriums der erste Schritt zur Ausgestaltung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen getan worden. Er führte 1927 nach dreijährigen Verhandlungen zu dem großen deutschfranzösischen Handelsvertrag, der nicht nur für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Nachbarländern, sondern auch für die gesamte Wirtschaftsentwicklung Europas von ausschlaggebender Bedeutung wurde. In diesen jahrelangen Verhandlungen, über die später noch mehr zu sagen sein wird, wurde auch der Grundstein für die Industrievereinbarungen gelegt, die in den 20er und 30er Jahren die privatwirtschaftliche Struktur einer ganzen Reihe wichtiger Industriezweige Europas bestimmten.
Zunächst aber gab mir Paris Gelegenheit, die Schwierigkeiten zu beobachten, die Herriot in Frankreich zu überwinden hatte, um die Londoner Beschlüsse, und besonders die so schwer erkämpfte Ruhrlösung, durchzuführen.
In der Kammer fand Herriot oft recht scharfe Worte gegen Deutschland; er schien plötzlich ein anderer Herriot zu sein als der Mann, den ich von der Londoner Konferenz her in Erinnerung hatte. „Er kämpft um die Existenz seiner Regierung“, erklärten mir die Franzosen von der Handelsdelegation. Ich verstand beim Lesen der wilden Vorwürfe, die wegen seiner Zugeständnisse in der Ruhrfrage in großen Teilen der Pariser Presse gegen ihn erhoben wurden, jetzt die Bedenken besonders gut, die er in London Stresemann gegenüber wegen der innerpolitischen Opposition in Frankreich geäußert hatte. Hier in Paris konnte ich mir auf einmal die in London etwas eigenartig wirkende Unruhe und sein gelegentliches temperamentvolles Aufbrausen erklären. Er hatte damals schon gewußt, was für ein Sturm sich bei seiner Rückkehr nach Frankreich erheben würde.
Genau derselbe Sturm entstand auch in Deutschland gegen Marx und Stresemann wegen der Londoner Vereinbarungen. Nur mit Mühe wurde das Dawes-Abkommen im Reichstag durchgebracht. Eine etwas eigenartige Rolle spielten dabei die Deutschnationalen, die sich auf Veranlassung der Parteileitung bei der Abstimmung in Neinsager und Jasager teilten, um ihren grundsätzlich ablehnenden Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, trotzdem aber die Regierung nicht zu gefährden, wodurch den Sozialdemokraten der Weg ins Kabinett frei geworden wäre. Diese Farce war natürlich ein gefundenes Fressen für die Pariser Kabarettisten, wie überhaupt von Paris aus die Vorgänge in Deutschland in einer ganz neuen Perspektive erschienen und manches klarer zu erkennen war als von Berlin aus.
Anfang Februar 1925 wurde ich eines Abends überraschend auf die deutsche Botschaft bestellt. Auf Weisung des Staatssekretärs von Schubert, der mich persönlich zu allerstrengstem Stillschweigen verpflichtete, mußte ich noch am selben Abend in der Botschaft eine Note übersetzen. Sie sollte trotz der Abwesenheit des Botschafters unverzüglich Herriot übergeben werden. Das Schriftstück umfaßte nur wenige Seiten. Es war aber eines der für die politische Entwicklung der nächsten Zeit wichtigsten Dokumente. Es handelte sich um den deutschen Vorschlag, welcher der im Oktober des Jahres stattfindenden Konferenz von Locarno zugrunde lag und dort zu dem sogenannten Rheinpakt und den Schiedsverträgen führte, durch die das Reich endgültig als moralisch gleichberechtigter Partner wieder in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen wurde.
„Deutschland könnte sich auch mit einem Pakt einverstanden erklären, der den gegenwärtigen Besitzstand am Rhein garantiert, indem die am Rhein interessierten Staaten sich gegenseitig verpflichten, ihren Besitzstand in diesem Gebiet zu achten und gemeinsam die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren“, so lautete u. a. dieser Vorschlag. Weiterhin war darin die Rede von einer Garantie der Entmilitarisierung des Rheinlandes und von Schiedsvereinbarungen zwischen Deutschland und den an einem solchen Pakt teilnehmenden Staaten.
Während ich diesen gewichtigen Text übersetzte und mir dabei allmählich klar wurde, warum ich so eindringlich auf seine Geheimhaltung verpflichtet worden war, kam der deutsche Geschäftsträger, Botschaftsrat Forster, von Zeit zu Zeit ins Zimmer, um nachzusehen, ob ich denn immer noch nicht fertig sei. Er war etwas aufgeregt, denn auch er war sich der Wichtigkeit des Augenblicks voll bewußt, wenn wir natürlich auch noch nicht ahnen konnten, welche Folgen sich aus diesem äußerlich so unscheinbaren Dokument ergeben sollten. Kaum hatte ich die letzte Seite beendet, als er die Note schon in seine Mappe steckte und sich in feierlichem Anzug mit Zylinder und schwarzem Mantel auf den Weg zu Herriot machte.
Ich blieb noch eine Weile in dem kleinen Zimmer der Botschaft nachdenklich sitzen. Wieder einmal war mir, wie so oft noch in späteren Jahren, eine Schweigepflicht auferlegt worden, und ich scheute mich etwas vor den neugierigen Fragen meiner Kollegen in der Botschaft und in der Wirtschaftsdelegation. Mir war in jenem Augenblick schon klar, daß es sich bei dieser Note um einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Lösung der sogenannten Sicherheitsfrage handelte, die neben den wirtschaftlichen Problemen (Reparationen) damals wie heute eines der Hauptthemen der internationalen Politik war.
Unwillkürlich gingen meine Gedanken zurück zu der Zeit um 1919, als Frankreich unter dem noch frischen Eindruck des ungleichen Stärkeverhältnisses gegenüber Deutschland begreiflicherweise nach Möglichkeiten Ausschau hielt, seine Sicherheit zu gewährleisten. So hatte es das linke Rheinufer als Zukunftssicherung verlangt. Auf der Pariser Friedenskonferenz hatten sich aber England und Amerika dieser Forderung, welche die Schaffung eines neuen Elsaß-Lothringens auf deutscher Seite bedeutete, widersetzt und nach langem Hin und Her Frankreich als Ersatz einen Garantievertrag angeboten. Im englischen Parlament war dieser Vertrag von dem Beitritt der Vereinigten Staaten abhängig gemacht worden. Als sich dann der amerikanische Kongreß ablehnend verhielt, fiel die Garantie völlig ins Wasser, und Frankreich hatte weder das linke Rheinufer noch den Schutz Englands und Amerikas erhalten.
Poincaré hatte mit seiner Ruhrbesetzung und der Förderung des Separatismus erneut den Versuch gemacht, Frankreichs Sicherheit durch Vorverlegung seiner Einflußgrenze nach Osten sogar noch über das linke Rheinufer hinaus zu festigen. Dieser Plan war aber am Widerstand der Deutschen und an der Ablehnung Englands gescheitert. Durch die Londoner Abmachungen von 1924 war Frankreichs Bemühungen in dieser Richtung praktisch ein unüberwindlicher Riegel vorgeschoben worden. Das hatte naturgemäß zu jenen Stürmen der Entrüstung gegen Herriot geführt, deren Niederschlag ich selbst in Paris in der Presse und in der Kammer miterlebt hatte. Zweifellos aber waren Herriot in London von den Engländern, genau so wie seinerzeit auf der Pariser Konferenz, Ersatzlösungen angeboten worden. Das hatte sich im Herbst 1924 auf der jährlichen Vollversammlung des Völkerbundes bestätigt, als von MacDonald das sogenannte Genfer Protokoll „zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten“ in einer aufsehenerregenden Rede vorgeschlagen wurde, der Herriot natürlich wärmstens sekundierte. In diesem Protokoll wurde die Sicherheitsfrage auf eine breite internationale Basis gestellt und nicht mehr allein durch das Versprechen Englands, Frankreich bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen, gelöst.
Wieder aber hatte es im englischen Parlament Schwierigkeiten gegeben. Auch die englischen Dominions hatten sich gegen jede automatische Hineinziehung in europäische Streitigkeiten gewehrt, so daß dieser Versuch, Frankreichs Sicherheitswünsche zu befriedigen, ebenso fehlschlug. Das war die Lage im Februar 1924.
Auch auf deutscher Seite hatte man schon frühzeitig erkannt, daß viele der politischen Schwierigkeiten mit Frankreich behoben und dessen immer wieder hervortretende Bemühungen, seine Grenzen auf Kosten Deutschlands nach Osten vorzuschieben, abgewendet werden könnten, wenn man seiner begreiflichen Sorge um die Sicherheit auf andere Weise entgegenkäme.