Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

- -
- 100%
- +
So hatte die Regierung Cuno Ende 1922 zu diesem Zweck bereits vorgeschlagen, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam mit anderen am Rhein interessierten Mächten sich gegenseitig verpflichten sollten, eine Generation lang ohne eine vorherige Volksbefragung keinen Krieg gegeneinander zu führen. Diese Verpflichtung sollte unter die Garantie der Vereinigten Staaten gestellt werden. Der Vorschlag wurde jedoch mit Hohn von Poincaré zurückgewiesen und war in seiner Begrenzung auf eine Generation und der etwas verdächtig wirkenden Verbindung des Krieges mit einer Volksbefragung auch nicht gerade glücklich formuliert gewesen.
Das alles kannte ich nur vom Hörensagen, d. h. ich hatte es in der Presse oder in Büchern gelesen. Eine persönliche Erinnerung war mir jedoch bei der Übersetzung der deutschen Note ebenfalls in den Sinn gekommen. Im September 1923 hatte Stresemann als Reichskanzler in Stuttgart eine viel beachtete außenpolitische Rede gehalten, die auch im Sprachendienst für die Auslandspresse übersetzt worden war, und zur Sicherheitsfrage folgendermaßen Stellung genommen:
„Da der Alpdruck Frankreichs vor einem etwaigen deutschen Angriff, so völlig töricht er uns erscheinen mag, noch heute weite Kreise der französischen öffentlichen Meinung beherrscht, haben unsere Botschafter und Gesandten in Paris, London, Rom und Brüssel mitgeteilt, daß Deutschland bereit sei, dem Sicherheitspakt der am Rhein interessierten Mächte beizutreten, sei es, daß er sich auf Abmachungen über die Vermeidung eines Krieges bezöge, sei es, daß er die Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes am Rhein zum Gegenstand hätte. Außerdem sei Deutschland, zur Bekundung seines Friedenswillens, bereit, mit allen Staaten Schiedsgerichtsverträge zu schließen, wie wir dies mit der Schweiz und Schweden bereits getan haben.“
Als ich mich an diese Sätze erinnerte, war mir an dem Februarabend auf der Botschaft in Paris, auch ohne daß ich im einzelnen über die Entstehungsgeschichte der deutschen Note unterrichtet war, sofort klar, daß der geistige Urheber Stresemann sein müsse, der mit jener Hartnäckigkeit, die ich in London so deutlich erlebt hatte, immer wieder von neuem versuchte, auf dem Wege der Befriedung Frankreichs vorwärtszukommen. Mir war damals unbekannt, daß Stresemann bei seinen Bemühungen von dem englischen Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, starke Anregungen empfangen hatte und daß dieser auch die ursprünglich recht ablehnende Haltung des damaligen Außenministers, Austen Chamberlain, ins Gegenteil zu verwandeln gewußt hatte.
Voller Spannung wartete ich in den nächsten Tagen auf ein Echo von Herriot. Der einzige, mit dem ich darüber sprechen konnte, war Botschaftsrat Forster; der aber konnte mir auch nichts sagen, denn Herriot hatte sich darauf beschränkt, die Note mehr oder weniger kommentarlos entgegenzunehmen und ihre Prüfung zuzusagen.
So kam mir dieser Vorgang allmählich wieder aus dem Sinn. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Wirtschaftsverhandlungen gefangengenommen. Sie brachten mir sehr viel Arbeit. Nacheinander zogen sämtliche Sparten der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen auf industriellem und landwirtschaftlichem Gebiet an mir vorüber. Ich assistierte deutschen und französischen Wirtschaftsführern mit berühmten Namen wie Thyssen, Vögler, Citroën, Duchemin und Prominenten des Comité des Forges, die als Sachverständige zur Beratung über den sie besonders angehenden Verhandlungsabschnitt herangezogen wurden. Der weitaus wichtigere Teil der damaligen Pariser Gespräche waren jedoch die ebenfalls unter meiner Mitwirkung geführten privaten Unterhaltungen zwischen den deutschen und französischen Industriellen, die den Grundstein für die Zusammenarbeit in vielen Industrien legten und den Kristallisationspunkt für spätere mehrseitige Industrieverständigungen in Europa bildeten. Wenig berührt von den politischen Schwankungen, waren diese Abmachungen zwischen den einzelnen Industrien bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Faktor des europäischen Wirtschaftslebens und seiner Stabilisierung.
Ich mußte mich fast wie in der Schule auf jede dieser Verhandlungen genauestens vorbereiten, lernte den deutschen und den französischen Zolltarif beinahe auswendig und gewann einen recht guten Überblick über die Praxis des Warenaustausches zwischen den europäischen Ländern. Von der Schwerindustrie bis zur weichen Faßseife, von den aus Südfrankreich in Eiltransporten nach Hamburg und Berlin verfrachteten frischen Blumen bis zu den Kämpfen um die Weinzölle, von Lederwaren bis zu feuerfesten Steinen war alles in meinem Repertoire enthalten. Von Politik und Sicherheit hörte ich kein Sterbenswörtchen mehr.
Erst als ich im Sommer während einer mehrmonatigen Verhandlungspause nach Berlin zurückkam, konnte ich feststellen, daß das in der Februarnote gemachte deutsche Paktangebot inzwischen Gegenstand eines eingehenderen Meinungsaustausches auf schriftlichem Wege zwischen Deutschland, Frankreich und England gewesen war. Bei meiner Rückkehr waren die Dinge so weit gediehen, daß sich in London ein Juristenausschuß mit der Ausarbeitung eines genauen Vertragsentwurfes beschäftigte. Das später bei vielen Konferenzen als stabiles Element in Erscheinung tretende Dreigestirn der Kronjuristen Deutschlands, Frankreichs und Englands, Gaus, Fromageot und Hurst, hatte hier die letzte Hand an die Vorbereitungen für die Konferenz gelegt, die Oktober 1924 in einem damals noch völlig unbekannten kleinen Kurort der Südschweiz am Lago Maggiore, in Locarno, stattfand und diesen Namen innerhalb von wenigen Tagen weltbekannt und zu einem Symbol für die Friedenshoffnungen Europas machte. Die Morgenröte, von der Herriot ein Jahr vorher gesprochen natte, brach mit den herrlichen Herbsttagen in Locarno an.
Am 2. Oktober fuhr ich zum zweiten Male in einem Sonderzug als Mitglied einer großen Delegation von Berlin ab. Das äußere Bild dieser Abreise ähnelte mit den starken polizeilichen Absperrungen des Bahnhofs wegen der Attentatsfurcht, den zahlreichen offiziellen Persönlichkeiten und ausländischen Diplomaten, die sich zur Verabschiedung eingefunden hatten, dem unserer Abfahrt nach London im August des vergangenen Jahres. Nur bestand diesmal der Zug aus Schlafwagen, denn die Reise würde erst am nächsten Nachmittag südlich der Alpen enden.
Die beiden Hauptdelegierten Deutschlands waren Stresemann und Luther, der inzwischen Reichskanzler geworden war. Unter den Dolmetschern fehlte Michaelis, dem man seine Entgleisung in London doch nicht verziehen hatte. Außer mir war für die Übersetzungen nur noch Dr. Norden mitgekommen, der mir unterwegs interessante Einzelheiten über die Entstehungsgeschichte dieser Konferenz zu berichten wußte. Er hatte überall im Auswärtigen Amt Freunde und Bekannte, betrieb das Dolmetschen mehr oder weniger zwangsweise nur als Nebentätigkeit und gehörte im übrigen zu einem Referat der Rechtsabteilung. Er war immer ausgezeichnet im Bilde.
So erfuhr ich von ihm, daß zunächst auf die Februarnote überhaupt keine Reaktion erfolgt war. Norden erzählte mir, daß D’Abernon schon Ende Dezember in einem Gespräch mit dem Staatssekretär von Schubert von dem Plan einer deutschen Initiative erfahren und ihn sofort aufgegriffen habe und daß die erste Anregung zunächst Chamberlain unterbreitet worden sei. Dieser habe sie jedoch ziemlich brüsk abgelehnt, weil sie zu seinen eigenen Plänen im Widerspruch stand. Erst daraufhin habe man sich von deutscher Seite in aller Eile entschlossen, direkt an Frankreich heranzutreten, und habe am 9. Februar die Note übergeben, die damals durch meine Hände gegangen war. Herriot hatte die ganze Angelegenheit ruhen lassen, war inzwischen gestürzt worden, und erst sein Nachfolger Briand hatte die Frage wieder aufgenommen. Allerdings hatte sich Frankreich erst im Juni zu einer ausführlichen Gegenäußerung mit allerhand Abänderungsvorschlägen herbeigelassen. Erst so, erzählte mir Norden, sei es auf dem Wege über die Juristenbesprechung in London zur Konferenz von Locarno gekommen.
In Deutschland herbstelte es im Oktober schon ziemlich stark, in den höheren Lagen der Alpen standen die Bäume völlig kahl da und die Landschaft sah so aus, als bereite sie sich auf den nahen Winter vor. Das änderte sich mit einem Schlage, als wir auf der anderen Seite des Gotthard-Tunnels in den Schweizer Tessin hineinfuhren. Hier hatte man den Eindruck, mitten im Hochsommer zu sein, und je weiter wir nach Süden kamen, desto stärker wurde das Gefühl, daß sich die Jahreszeit nach rückwärts bewegte.
Über Bellinzona fuhr unser Zug auf einer kleinen Nebenstrecke bis nach Locarno. Die Hauptdelegierten waren von der letzten Station aus schon im Wagen vorausgefahren. So stießen wir auf dem kleinen Bahnhof von Locarno bei den Journalisten und den internationalen Schlachtenbummlern der großen Konferenzen, die sich in Massen auf dem Bahnsteig drängten, auf arg enttäuschte Gesichter.
In dem etwas außerhalb von Locarno, in Minusio, gelegenen Hotel Esplanade war die ganze Delegation geschlossen untergebracht. Am nächsten Tage trat ich dann zum ersten Male in Gegenwart von Luther und Stresemann als Dolmetscher auf einem Empfang der ausländischen Presse im Esplanade Hotel in Aktion. Luther machte einige Ausführungen über Deutschlands Friedensbestrebungen, von denen mir heute wohl deshalb keine Einzelheiten mehr in Erinnerung sind, weil ich als Dolmetscher dabei nicht in Aktion zu treten brauchte. Das gleiche gilt für Luthers erste Unterhaltung mit Briand in Ascona, die von den Journalisten viel beachtet wurde. Um so deutlicher erinnere ich mich aber an das, was Stresemann der Presse sagte, und zwar weil es Sowjetrußland betraf, dessen Haltung gegenüber den Bemühungen der damaligen Westmächte, mit Deutschland in Locarno zu einer Einigung zu gelangen, sowie ganz allgemein gegenüber dem Völkerbund schon damals genau so argwöhnisch war wie heute gegenüber den Westmächten und den Vereinten Nationen.
Wenige Tage vor der Abreise der deutschen Delegation nach Locarno hatte sich der sowjetische Volkskommissar für Auswärtiges, Tschitscherin, in Berlin eingefunden und eine damals viel beachtete Unterredung mit Stresemann gehabt, aus der sich allerlei sensationelle Kombinationen in der Presse ergaben. Seitdem die Welt durch den Abschluß des Vertrages von Rapallo zwischen Deutschland und Sowjetrußland am 17. April 1922 auf der Konferenz von Genua verblüfft worden war, wurde alles, was sich zwischen den Sowjets und der deutschen Republik abspielte, mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen von den Westmächten verfolgt.
Stresemann wies in dieser ersten Pressekonferenz von Locarno die sehr aufmerksam mitschreibenden Journalisten darauf hin, daß er sich mit Tschitscherin im wesentlichen über den Handelsvertrag zwischen Deutschland und Rußland unterhalten habe, und daß daran keinerlei Sensation zu suchen sei. Mit einer gewissen Betonung fügte er hinzu, daß man wohl in Rußland eine Zeitlang gefürchtet habe, Deutschland werde in Locarno eine vollkommene Umstellung seiner Politik vornehmen und sich ausschließlich nach Westen orientieren, „Für uns gibt es keine Option zwischen Ost- und Westpolitik. Wir wollen nach beiden Seiten gute Beziehungen unterhalten“, erklärte Stresemann in diesem Zusammenhang. Die Journalisten stürzten hinaus an die Telefone, und die erste große Meldung aus Locarno ging in die Welt, noch ehe die Konferenz eigentlich begonnen hatte.
Am nächsten Vormittag, am 5. Oktober 1925, wurde dann die Konferenz bei herrlichem Sommerwetter in dem schmucklosen Sitzungssaal des kleinen Rathauses eröffnet. In diesem Raum stand in der Mitte ein großer viereckiger Tisch, um den herum sich die Hauptdelegierten zwanglos auf recht unbequemen Holzstühlen gruppierten. An jeder Seite des Tisches hatten 4 bis 5 Personen Platz, so daß nur die Hauptdelegierten am Tisch selbst sitzen konnten, alles andere aber sehen mußte, wo es auf einem Stühlchen im Hintergrund unterkam. Zu beiden Seiten dieses Tisches, der fast den ganzen Raum füllte, stand noch je ein schmaler, kleiner Tisch, an dem eigentlich nur zwei Personen Platz hatten, der aber immer von Sekretären und Sachverständigen, die ihre Akten ausbreiten wollten oder etwas zu schreiben hatten, belagert war. An dem kleinen Tisch hinter den deutschen Delegierten hatte auch ich mir einen Platz „erobert“. Es war, wie sich später zu meinem Leidwesen herausstellte, ein akustisch sehr ungünstiger Standort, da Stresemann und Luther, die ich zu übersetzen hatte, immer von mir weg sprachen und ich alle Mühe hatte, ihnen zu folgen, wenn etwa an dem gleichen Tisch noch jemand mit Papieren raschelte oder gar eine geflüsterte Unterhaltung stattfand. Links neben der deutschen Delegation saßen die Italiener; die Engländer nahmen unter Führung von Austen Chamberlain die noch an der linken Breitseite freien Plätze ein. Den Deutschen gegenüber saßen die Franzosen Briand, Berthelot und Fromageot. An der rechten Seite des Tisches hatten die Belgier Platz genommen, die von Außenminister Vandervelde geführt wurden. Auch Gaus und Staatssekretär Kempner von der Reichskanzlei hatten sich auf dieser Seite noch an den Tisch gezwängt, wodurch der Kreis zur deutschen Delegation wieder geschlossen wurde.
In den Endphasen der Konferenz, als auch die Tschechoslowakei und Polen hinzugezogen wurden, war die Enge noch größer, denn der kleine, stets lächelnde Dr. Benesch und der immer mißmutig dreinblickende polnische Außenminister, Graf Skrzynski, wollten natürlich auch am Tisch der Großen sitzen. Es war also, technisch gesehen, eine sehr improvisierte Konferenz, die da im Rathaus von Locarno zusammentrat. Sie hielt keinen Vergleich mit der wohl vorbereiteten Veranstaltung vom Vorjahre in London aus, wo neben dem geräumigen Hauptsitzungssaal noch viele andere Räume zur Verfügung standen, wo die Dolmetscher ihre Plätze am großen Tisch unmittelbar neben ihren Delegierten hatten, wo die Sekretäre und Sachverständigen in Ruhe arbeiten konnten und sich der ganze technische Apparat einer solchen Zusammenkunft schon nach den ersten Stunden völlig eingespielt hatte.
Hier in Locarno, das merkte man auf Schritt und Tritt, war man auf dem Lande. Es war fast rührend zu sehen, wie sich die Stadt, vom Bürgermeister bis zum geringsten Einwohner, bemühte, den Konferenzteilnehmern das Leben angenehm zu machen, und wie weit entfernt von diesem Ziele sie in den technischen Einrichtungen blieben.
Rührend in seiner Einfachheit, aber gerade vielleicht deshalb um so überzeugender, wirkte inmitten dieser Versammlung der Großen Europas auch der Bürgermeister des kleinen Städtchens, der in wohlgesetzten Worten auf französisch die Teilnehmer begrüßte und sich dann unter vielem Lächeln und Händedrücken sichtlich voll Stolz über seine Teilnahme an dem historischen Augenblick zurückzog.
Nun waren die Staatsmänner unter sich, denn die Besprechungen fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Einen Vorsitzenden gab es nicht. Chamberlain hatte nur im Namen der Konferenz dem Bürgermeister gedankt. Von da ab fanden die Beratungen trotz des viereckigen Tisches im Stile einer englischen „Round Table“-Konferenz als ein Gespräch völlig gleichberechtigter Teilnehmer statt. Ohne Umschweife würde die sachliche Aussprache über die einzelnen Artikel des von den Juristen in London vorbereiteten Vertragsentwurfes begonnen. Luther und Stresemann benutzten sofort die Gelegenheit, deutsche Abänderungsvorschläge vorzubringen und kurze Begründungen dafür abzugeben. Es verlief alles sehr nüchtern und geschäftsmäßig. Selbst bei den Punkten, über die in den nächsten Tagen noch recht erregte Aussprachen stattfinden sollten, kam es zu keinen Zwischenfallen.
Dabei handelte es sich einmal um die Frage, in welcher Weise der Osten, d. h. Polen und die Tschechoslowakei, in das Sicherheitssystem eingeschaltet werden sollten. Vor allem in Polen waren gegen den Rheinpakt erhebliche Bedenken laut geworden. Deutschland wollte unter keinen Umständen die viel umstrittene Ostgrenze mit dem polnischen Korridor und die Gebietsabtretungen in Oberschlesien formell anerkennen, wie es dies in seinem Angebot vom 9. Februar mit der Westgrenze getan hatte. Das hatten die Polen natürlich herausbekommen. Die polnische Presse tobte, das polnische Parlament protestierte, und das polnische Auswärtige Amt hatte sich um Hilfe an seinen Verbündeten Frankreich gewandt. Es lag also reichlicher Zündstoff in diesem Problem. Aber am ersten Tage kam es noch zu keiner Explosion. Briand bemerkte nur mit sarkastischem Lächeln, daß dieses Ostproblem der erste rheumatische Anfall sei, den die Konferenz erleide.
Eine weitere große Schwierigkeit war der von den Alliierten geforderte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Damit in Zusammenhang stand die Kriegsschuldfrage, die die deutsche Delegation schon auf der Londoner Konferenz hatte vorbringen wollen. Sie war schließlich vor Annahme der Dawes-Gesetze unter recht aufregenden Umständen in einer Erklärung der Reichsregierung vorgebracht worden, in der es hieß, daß „die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Druck übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, den Tatsachen der Geschichte widerspricht. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese Festlegung nicht anerkennt.“
Kurz vor Abreise der deutschen Delegation nach Locarno wurde die Auffassung der Reichsregierung in dieser Frage den anderen Ländern noch offiziell zur Kenntnis gebracht, wodurch die Konferenz selbst fast in Gefahr geraten wäre. „Es kann kein Zweifel sein“, erklärte die deutsche Regierung, „daß überall da„ wo bei den politischen Auseinandersetzungen so grundlegende Fragen wie der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zur Erörterung gelangen, der Standpunkt zu wahren ist, daß Deutschland niemals einen politischen Akt vollziehen kann, der als Anerkennung irgendwelcher eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schließender Feststellungen anzusehen wäre. Das wird … bei einem etwaigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, aber auch dann, wenn es nicht dazu kommen sollte, den Signatarmächten des Versailler Vertrages, denen gegenüber die jetzige mit den bevorstehenden Verhandlungen zusammenhängende Erklärung nicht abgegeben ist, unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden. Das ist nichts anderes als ein selbstverständlicher Ausdruck der Überzeugung, daß sich die Mitglieder der Völkerbundsgemeinschaft nicht nur äußerlich, sondern auch moralisch als gleichberechtigt anerkennen müssen, wenn sie das Friedensziel des Völkerbundes verwirklichen wollen.“
Das war der reichlich explosive Hintergrund der ‚Erwähnung dieser Frage hier auf der ersten Sitzung. Als sich Stresemann zu diesem Punkt äußerte und gerade das Wort „Kriegsschuldfrage“ aussprach, hustete jemand in meiner Nähe, so daß mir die folgenden Worte des deutschen Außenministers unverständlich blieben. Auf sie aber kam es in diesem Augenblick ganz besonders an. Es handelte sich darum, ob er diese Frage jetzt zur Diskussion stellen wollte, oder ob sie etwa, wie in London, wieder vertagt werden würde. Ich befand mich in einer scheußlichen Lage. Irgend jemanden fragen konnte ich natürlich in der Eile nicht. Hätte ich meine französische Übersetzung unterbrochen und Stresemann, der ein ganzes Stück vor mir saß, schnell noch einmal gefragt, wäre die Aufmerksamkeit der ganzen Konferenz gerade auf diesen delikaten Punkt gelenkt worden, der möglicherweise – und hier stand mir sekundenlang die Szene mit den aufgeregt diskutierenden drei deutschen Delegierten in der Schlußsitzung in London vor Augen – jetzt, im Anfangsstadium der Besprechungen, nur sehr vorsichtig und andeutungsweise vorgebracht werden sollte. Ich nahm also mein Herz in beide Hände und sagte auf französisch die Worte so, wie ich nach meiner Kenntnis der Sachlage glaubte, daß sie Stresemann gebraucht hätte, d. h. ich gab eine Ankündigung der deutschen Stellungnahme zu dem Problem. Scharf beobachtete ich dabei Stresemann und Luther von hinten. Jeden Augenblick darauf gefaßt, daß sie sich wütend nach mir umdrehen würden, und daß es einen Eklat mit mir geben würde, ähnlich dem, dem der arme Michaelis in London zum Opfer gefallen war.
Aber es geschah nichts. Stresemann qualmte ruhig dicke Wolken aus seiner Zigarre, und Briand rief lediglich spöttisch, aber nicht weiter erregt über den Tisch: „Hoffentlich bekommen wir davon keinen Schlaganfall.“
Diese Zwischenrufe Briands charakterisierten die ungezwungene Atmosphäre, die damals unter den Großen Europas am Konferenztisch von Locarno herrschte und die viel dazu beitrug, auch den umstrittensten Fragen ihre Schärfe zu nehmen. Der heitere Spott, mit dem viele Klippen in Locarno umschifft wurden, ging fast immer von Briand aus, der sich nicht etwa nur gegen die Deutschen wandte, sondern auch den steifen Austen Chamberlain genau so aufs Korn nahm wie Stresemann und Luther. „Wenn Sie noch weiterreden, werden wir alle anfangen zu weinen!“, hatte er einmal in einer Vollsitzung zu Luther gesagt, als dieser in seiner etwas formellen Beamtenart über die schwierigen Verhältnisse in Deutschland berichtete. Luther hatte sich dabei ärgerlich zu Briand umgedreht, und dieser machte ein so komisch erschrockenes Gesicht, daß Stresemann darüber in laut schallendes Gelächter ausbrach und sich nun seinerseits von Luther einen mißbilligenden Blick zuzog. Briand bestimmte den Ton und die Atmosphäre dieser Tage und trug meinen Beobachtungen nach gerade dadurch viel zum Gelingen des Werkes bei.
Leicht „angeschlagen“ sank ich nach diesem gefahrlichen Intermezzo in der Übersetzung der Kriegsschuldfrage wieder auf meinen Platz und war heilfroh, daß sämtliche Punkte, die in dieser Sitzung von den deutschen Delegierten vorgebracht worden waren, nicht weiter diskutiert, sondern den juristischen Sachverständigen überwiesen wurden.
In seinem ausgezeichneten, aber mit stark englischem Akzent vorgetragenen Französisch erklärte Chamberlain: „Irgend jemand muß ja auf dieser Konferenz arbeiten, also lassen wir die Juristen arbeiten, laissons travailler les juristes.”
Dieser Ausspruch, der für viele Konferenzen als Motto gelten könnte, wurde in den nächsten Tagen noch oft von mehreren Seiten wiederholt. Trotzdem aber ruhten auch die Außenminister nicht. Schon am nächsten Tage, nachdem wegen einer Erkältung Stresemanns die Vormittagssitzung auf den Nachmittag verschoben werden mußte, begann eine große Diskussion zwischen Briand und Stresemann über die polnische und tschechoslowakische Frage.
Geschickt schob Stresemann gleich zu Beginn die Initiative Briand zu mit der Begründung, daß Deutschland zu diesem Punkt keinerlei Vorschläge eingebracht habe. So nahm denn Briand zu längeren Ausführungen das Wort, die in dem Gedanken gipfelten, daß Frankreich mit Polen und der Tschechoslowakei Bündnisverträge abgeschlossen habe, die es nicht außer acht lassen könne. „Es wäre unehrenhaft, wenn wir uns diesen Verpflichtungen entziehen würden.“
Nun ging Stresemann zum Angriff vor. Er erinnerte daran, daß Deutschland in der Sicherheitsfrage schon mehrfach Initiativen ergriffen habe. „Jedesmal aber ist uns Frankreich mit einem Nein entgegengetreten.“ Man habe deutscherseits vermutet, daß diese negative Einstellung mit den Bündnissen Frankreichs im Osten zusammenhänge und habe sich daher jetzt bereit erklärt, mit Polen und der Tschechoslowakei Schiedsverträge abzuschließen, durch welche ein gewaltsames Vorgehen Deutschlands gegen die beiden Länder zu einer eventuellen Grenzkorrektur ausgeschlossen würde. Das sei doch bereits eine völlig genügende Sicherheit. Dazu käme noch eine weitere Garantie. Die Alliierten hätten den Wunsch geäußert, Deutschland als Mitglied im Völkerbund zu sehen. Für das Reich sei ein Eintritt in diese mit Versailles eng zusammenhängende Institution ein schwerer Entschluß. Darüber würde noch zu sprechen sein. Trotzdem aber habe sich auch hier Deutschland nicht ablehnend verhalten. Somit bestünden für den Frieden im Osten zwei wesentliche Sicherheiten. Warum verlange Frankreich nun noch mehr? Weshalb wünsche es außerdem noch ein besonderes Durchmarschrecht durch Deutschland für den Fall, daß der Völkerbund beschließe, den Oststaaten bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen, und wie stelle sich Herr Briand dieses Durchmarschrecht eigen dich im einzelnen vor?
Bei diesen Fragen Stresemanns wurde ich wieder durch meinen akustisch sehr ungünstigen Platz behindert. Ich konnte nicht genau verstehen, was er an einzelnen Stellen ausführte, aber ich hatte diesmal nicht den Vorteil wie am Vortage, die komplizierte Sachlage genau zu kennen. Es war damals noch nicht üblich, bei den großen politischen Delegationen die Dolmetscher zur sachlichen Vorbereitung an den internen Beratungen teilnehmen zu lassen. Sie wurden noch als eine Art Sprachautomat angesehen, in den man auf der einen Seite etwas hineinredete, das auf der anderen Seite mechanisch in der gewünschten Sprache wieder herauskam. Die Schwierigkeit des Verdolmetschens komplizierter juristisch-politischer Ausführungen war den politischen Delegationen noch nicht bewußt geworden. Deshalb geriet ich an diesem Morgen bei einigen Punkten, besonders bei den Fragen wegen des Durchmarschrechtes, erheblich ins „Schwimmen“.









