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Was in diesem Augenblick keinen der Eroberer interessierte: Zum ersten Mal in der Geschichte betraten Bewohner der alten Welt Florida, das seine Entdeckung somit dem Traum von der Jugend verdankt – eine Sehnsucht, die sich die Amerikaner bis heute in besonderer Weise bewahrt haben. Nirgendwo gibt es heute mehr Anti-Aging-Kliniken als in diesem sonnigen Teil Amerikas. Und es ist schon eine etwas seltsame Ironie: Viele Suchende finden dort das, was Ponce de Leon vor fast 500 Jahren an dieser Stelle vergeblich suchte: einen – zumindest bis zu einem gewissen Grad – wirksamen Jungbrunnen.
Vom Traum zur Realität
Heute, im 21. Jahrhundert, hat sich das Bild vom Jungbrunnen gewandelt. Wir wissen, wir brauchen nicht in fernen Ländern suchen und nicht an sagenhaften Orten. Wir wissen aber auch, dass Menschen nicht einfach in eine Quelle werden tauchen können, um verjüngt wieder aufzutauchen. Hinter jeder Tür, die die Alternswissenschaft aufstößt, befinden sich zwei neue. Altern ist so vielfältig wie das Leben und der Kampf gegen das Altern muss an vielen Fronten erfolgen. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute lautet:
Anders als Ponce de Leon sowie unzählige Generationen vor und nach ihm haben wir erstmals wirksame Waffen gegen das Altern. Die beste von allen ist Wissen. Wissen, wie das Altern funktioniert und wie es zu durchbrechen oder zumindest zu beeinflussen ist. Im nächsten Abschnitt wollen wir deshalb einen Blick hinter die Kulissen des Phänomens Altern werfen.
Moderne Jungbrunnen sind manchmal kompliziert, immer aber vielfältig. Nur eines hat sich seit den Zeiten der Entdecker nicht geändert: Wir müssen uns auf den Weg machen!
„Alle Menschen träumen, aber nicht gleich. Jene, die in der Nacht träumen, in den verschleierten Winkeln ihres Geistes, erwachen am Tag, um festzustellen, es war Einbildung. Die Träumer des Tages aber sind gefährliche Menschen; denn sie können mit offenen Augen nach ihren Träumen handeln, um sie wahr zu machen.”
T. E. LAWRENCE [amerikanischer Freiheitskämpfer und Schriftsteller, 1888–1935, in: The Seven Pillars of Wisdom]
I. 2
Phänomen Altern
Warum altern Menschen?
„Wir dürfen nicht annehmen, dass alle Dinge unseretwegen geschaffen worden sind.”
RENE DESCARTES [französischer Philosoph und Naturwissenschaftler, 1596–1650]
Warum wir altern? Diese Frage mag Sie vielleicht überraschen. Alterung und Tod sind schließlich nicht nur für die Kirche untrennbar und wie selbstverständlich mit dem Leben verbunden. Ist Altern nicht ein unumstößliches Naturgesetz?
Im Alltag stellt sich Alter als eine Funktion der Zeit dar: Ein Auto ist alt, weil es vielleicht schon zehn oder mehr Jahre „auf dem Buckel“ hat. Wer schon einmal eine Stubenfliege unter dem Mikroskop betrachtet hat, weiß, wie ramponiert alte Fliegen aussehen. Mit zunehmender Zeit werden Panzer und Flügel immer mehr abgenutzt. Schäden scheinen sich zwangsläufig anzuhäufen. Und so sehen wir das für uns selbst auch. Alterserscheinungen betrachten wir als normal. Bei einem Menschen, der 70 oder 80 Jahre gelebt hat, halten wir Alterserscheinungen für geradezu zwangsläufig. Das sei der Zahn der Zeit …, sagt man.
Vielleicht muss man also die Zeit anhalten, um das Altern zu stoppen? Spätestens seit Einstein wissen wir, dass das sogar möglich ist. Und in einer langsam ablaufenden Zeit verzögert sich tatsächlich auch die Alterung. Aber das sind letztlich theoretische Überlegungen, solange wir uns nicht mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. (Davon sind die meisten Menschen heute weit entfernt – sie bewegen sich eher gar nicht …) Viel wichtiger ist: Gilt auch die umgekehrte Beziehung? Können wir das Altern nur aufhalten, wenn wir die Zeit anhalten? Sind Altern und Zeit unauflöslich verbunden? Nun, wenn die Zeit Schuld hätte am Altern, wären unsere Chancen gering, den Fortgang aufzuhalten – zumindest hier auf der Erde.
Der Zahn der Zeit ist nicht immer scharf
Wären wir Menschen allein auf der Erde, würden wir ohne Zweifel glauben, Altern und Zeit seien eng verbunden. Doch bei der Vielfalt des Lebens ist sichtbar, dass unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten unterschiedlich alt werden, also auch verschieden altern. Der Ablauf des Alterungsprozesses bei Lebewesen ist offensichtlich doch keine einfache Funktion der chronologischen Zeit. Denn manche Lebewesen altern sehr schnell, andere langsam.
Eine Maus ist mit 2 Jahren schon im Greisenalter, ein zehnjähriger Hund zeigt bereits deutliche Alterserscheinungen. Von manchen Papageienarten ist bekannt, dass sie mehr als 100 Jahre alt werden, und für Schildkröten müssen Menschen gar als kurzlebige Spezies erscheinen: Die behäbigen Tiere können 150 und mehr Jahre leben.
Ewiges Leben – (k)eine Utopie?
Der Alterungsprozess verläuft offensichtlich unterschiedlich schnell. Ist er auch unausweichlich? Oder anders gefragt: Muss jedes Lebewesen früher oder später alt werden und sterben?
Im Vergleich zum Menschen können Bäume ein hohes Alter erreichen. Wird ein Baum 100 oder 200 Jahre alt, passt das noch in unsere Vorstellung einer zwar langsamen, aber immerhin doch fortschreitenden Alterung. Hoch oben in den White Mountains in Kalifornien aber gibt es Kiefern, die dieses Bild verwirren. Manche Exemplare existieren dort seit etwa 5000 Jahren. Das heißt, diese Bäume sind älter als unsere Zeitrechnung und älter als die Pyramiden in Ägypten. Und sie leben immer noch. Die Kiefern scheinen keine Alterung zu kennen. Die ältesten Lebewesen der Welt? Keineswegs. Unter der heißen Sonne Kaliforniens wächst Coviella Mexicana, ein Busch, der seine Jugend vor geschätzten 11 000 Jahren an dieser Stelle verbracht hat. Coviella scheint wirklich ewig zu leben.
Jung bleiben durch Erneuerung
Wie ist es möglich, so lange Zeit unbeschadet zu überstehen? Selbst Berge werden nach Tausenden von Jahren allein schon durch die Witterung zerstört. Bestehen die extrem alten Pflanzen aus Materialien, die noch widerstandsfähiger sind als Stein?
Nein, das Leben geht einen anderen Weg: Als man die Zellen eines 3000 Jahre alten Baumes der Gattung Sequoia im Labor genauer untersuchte, stellte man fest, dass keine lebende Zelle dieser sehr alten Bäume älter als 30 Jahre war. Unbrauchbare Zellen werden also immer wieder durch neue ersetzt. Uralte Pflanzen erneuern ihre Zellen unentwegt.
Der Biologe Professor Robert Zwilling vom Zoologischen Institut der Universität Heidelberg weist in diesem Zusammenhang auf ein generelles Problem hin: Wie ist „Alter” bei Lebewesen überhaupt zu verstehen? Ist der Sequoia-Baum nun 3000 oder nur 30 Jahre alt? Eine wirklich interessante Frage.
Spinnt man den Gedanken weiter, finden wir auch im Alltag vergleichbare Beispiele. Vielleicht kennen auch Sie jemanden, der stolz darauf hinweist, wie tadellos sein 12 Jahre altes Auto noch funktioniere. Dabei wird in der Regel unterschlagen, dass der Auspuff schon zwei Mal erneuert wurde und Kupplung, Radlager oder andere Teile ebenfalls neu sind. Wie alt ist nun das Auto?
Eines steht jedenfalls fest: Bei stetiger Erneuerung ist ein sehr langes Leben möglich – bis hin zu ewigem Leben; wenigstens scheint das für Dinge wie Autos und vor allem für Bäume zu gelten. Wie aber steht es mit dem Menschen? Können wir uns ebenfalls verjüngen?
Die Antwort ist: ja. Und wir tun das sogar unentwegt. Bis ins hohe Alter bilden sich auch beim Menschen Körperzellen neu. Leider funktioniert dieser Mechanismus ganz offensichtlich weniger effektiv als bei langlebigen Pflanzen. Müsste man also als Baum auf die Welt kommen, um sich ewig verjüngen zu können? Durchaus nicht. Komplette Zellregeneration gibt es nicht nur bei Pflanzen.
Ersatzteile fürs Gehirn?
Sich in der Absicht, jung zu bleiben, allzu sehr auf den Fortschritt in der plastischen Chirurgie oder der Transplantationsmedizin zu verlassen, das ist nicht nur eine sehr vage Hoffnung. Es ist auch in höchstem Maße trügerisch und nur so weit sinnvoll (wenn überhaupt), wie es einem gelingt, den Alterungsprozess seines Gehirns zu verzögern. Es ist heute kaum mehr ein Problem, mit neuen Organen oder künstlichen Gliedmaßen zu leben. Selbst das Herz, noch vor 30 Jahren wegen des vermeintlichen Sitzes der Seele Gegenstand erbitterter Diskussionen, wird heute routinemäßig transplantiert. Doch selbst wenn die Transplantation von Gehirnen einmal möglich sein sollte, könnten Sie sich zwar das alte Gehirn, das vielleicht von Alzheimer befallen wäre, austauschen lassen – nur: Sie wären dann nicht mehr Sie selbst, sondern die Person, von der das Gehirn stammte, mit deren Bewusstsein. Wer also 100 oder 150 Jahre leben und gesund bleiben möchte, tut gut daran, darauf zu achten, dass gerade die Zellstrukturen des Gehirns mindestens ebenso lange leistungsfähig bleiben.
Ewig junge Lebewesen
Bei einem kleinen Süßwasserpolyp namens Hydra entsteht für jede Zelle, die an seinem basalen Ende altert und zugrunde geht, am anderen Körperende eine neue Zelle. Eine feine Sache. Durch diese Frischzellenkur bleibt der Polyp ewig jung.
Was Hydra uns Menschen voraus hat, ist ein spezieller Körperabschnitt, in dem unbegrenzt neue Zellen produziert werden. Wissenschaftler haben längst herausgefunden, wie dem kleinen Tier seine ewige Jugend zu nehmen ist. Durch einen perfiden Eingriff in die Erneuerungszone kann man die natürliche Verjüngung experimentell unterbinden. Der kleine Polyp ist dann genauso der Vergänglichkeit ausgesetzt wie wir. Er altert ganz „normal” und stirbt.
Der Preis ewigen Lebens
Bevor wir nun allzu neidisch werden: Das Prinzip des ewigen Lebens durch eine einfache Form der Zellerneuerung hat auch Nachteile. Nehmen wir an, der kleine Süßwasserpolyp Hydra könnte über sich und sein Dasein nachdenken. Er wäre dennoch nicht imstande, sich an zurückliegende Monate zu erinnern. Denn zu dieser Zeit hat noch keine seiner gegenwärtig lebenden Zellen im Körper existiert! Auch alle Lernerfahrungen, sofern er solche machen könnte, gingen mit den sich immer wieder erneuernden Zellen größtenteils verloren.
Die „Erfindung“ eines Zentralnervensystems und vor allem des Gehirns im Zuge der Evolution beruht deshalb auf dem wichtigen Phänomen, dass Nervenzellen sich nicht teilen beziehungsweise nicht immer wieder durch neue ersetzt werden – bis auf stark begrenzte Ausnahmen.
Auch beim Menschen verursacht jede Lernerfahrung im Gehirn eine spezifische Spur. Unsere Erinnerungen sind nicht in einer bestimmten Nervenzelle, sondern in unendlich komplexen Vernetzungssystemen im Gehirn gespeichert und dynamischen Anpassungen unterworfen. Um Lern- und Gedächtniserfahrungen möglichst lange zu bewahren, ist das System der vollständigen Zellneubildung deshalb ungeeignet. Wichtiger ist es, die vorhandenen Zellen, ihre Querverbindungen und die chemischen Übertragungswege durch optimalen Schutz möglichst lange zu erhalten.
Man könnte vielleicht sagen, der Preis für unsere Fähigkeit zu lernen, zu erinnern und uns in Zeit und Raum als Individuen zu definieren, ist der Verlust der Unsterblichkeit.
Warum Fliegen nie an Krebs leiden
Die exakte Nachbildung von Körperzellen ist speziell für hoch entwickelte Lebewesen ein äußerst komplizierter Prozess. Jeder noch so winzige Fehler kann fatale Folgen haben. Ein klassisches Beispiel sind Fehler in der Zellsteuerung. Die Folge: Krebs.
Unsere soeben angesprochenen ramponierten Stubenfliegen können Schäden an ihrer Außenhülle nicht mehr reparieren, weil sich ihre Zellen nicht teilen und somit nicht erneuern können. Das führt unweigerlich und sehr schnell zu immer größerer Anhäufung von Schäden. Aber weil sich eben keine Zellen teilen, bekommen Insekten niemals Krebs. Wir Menschen können wie andere Säuger viele Zellen erneuern. Dafür teilen wir mit ihnen das Schicksal, mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit an Krebs zu sterben, sobald der Vorgang der Zellteilung durch Umwelteinflüsse und vor allem Alterungsprozesse anfällig geworden ist.
Alt werden, ohne zu altern
Wenn wir schon nicht unsterblich sein und ewig leben können – und vielleicht wäre das auch aus mancherlei Gründen gar nicht wünschenswert –, ließe sich dann nicht zumindest unser Alterungsprozess verzögern und die Jugendlichkeit länger erhalten?
„Es gibt Millionen von Menschen, die sich nach Unsterblichkeit sehnen, die aber nicht wissen, was sie an einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen sollen.”
MAURICE CHEVALIER [französischer Entertainer, 1888–1972]
Tatsächlich ist in der Natur das Phänomen der Seneszenz, also das, was man gemeinhin unter gebrechlichem und defizitärem Altern versteht, nicht überall vorzufinden. Das heißt, auch wenn sich bei einer Art aufgrund verschiedenster Faktoren ab einem bestimmten Alter die Sterbewahrscheinlichkeit erhöht, müssen sich damit nicht unbedingt in gleichem Maße Alterserscheinungen einstellen.
Vögel sind im Vergleich zu anderen Tieren mit ähnlicher Körpermasse und ähnlichem Stoffwechselumsatz nicht nur auffallend langlebig, sondern auch ganz ungewöhnlich lange leistungsfähig. Auch Fledermäuse altern viel langsamer als die am Boden lebenden Mäuse, obwohl sie im Hinblick auf ihre Größe und ihren Stoffwechsel absolut vergleichbar sind. Weibchen des Eissturmvogels ziehen auch im Alter von 40 Jahren noch Junge auf und zeigen keinerlei Altersdefizite. Überträgt man die vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten der Alterung von Säugetieren oder aber von uns Menschen auf diese Tiere, müssten Eissturmvögel im Alter von 40 Jahren ihre Fortpflanzungsfähigkeit längst verloren haben und eine ganze Reihe von Degenerationserscheinungen aufweisen.
Wenn die Alterung zu stoppen scheint
Andere Tierarten zeigen sogar ab einem gewissen Alter einen so starken Rückgang ihrer Sterbewahrscheinlichkeit, dass die Mortalität nicht mehr messbar ist. Mit anderen Worten, je älter diese Tiere werden, desto weniger sterblich scheinen sie zu sein. Hummer zum Beispiel wachsen mit zunehmendem Alter stetig weiter, ohne dass man je ein Absinken ihrer Fortpflanzungsfähigkeit, geschweige denn ihres Wachstums finden konnte. Caleb Finch, Professor für Gerontologie und Biowissenschaft an der Universität Kalifornien erforscht dieses Mysterium. Er fand heraus, dass es in der Natur viel verbreiteter ist, als bisher angenommen. Er bezeichnet das Phänomen als „vernachlässigbare Seneszenz“.
Solche Erscheinungen, die unsere Vorstellungen über die Alterung gehörig durcheinanderbringen, sind nicht neu. Schon vor mehr als 100 Jahren hat der in Frankfurt am Main geborene Zoologe August Weismann festgestellt: „Es ist überhaupt nicht zu vergessen, dass dem Tode durchaus nicht immer eine Involutions-, eine Altersperiode vorangeht.“ Er war schon damals überzeugt, dass der Alterungsprozess keine Notwendigkeit des Lebens sei.
„Altern ist eine späte Zugabe der Evolution.”
AUGUST WEISMANN [deutscher Zoologe, 1834–1914]
Bringt Altern Vorteile?
Wir gehören offensichtlich nicht zu einer der von der Natur so beneidenswert ausgestatteten Arten ohne Alterung. Beim Menschen und den meisten mit uns näher verwandten Säugetieren treten Alterserscheinungen unübersehbar auf. Unterschiedlich stark zwar, aber sie sind eher die Regel als die Ausnahme.
Warum hat die Natur für uns Alterung vorgesehen, wenn es offensichtlich auch ohne sie geht? Bringt uns Seneszenz vielleicht irgendwelche Vorteile? Leider nicht. Die Ursache für unser gebrechliches Altern ist nach allem, was wir heute wissen, geradezu erschreckend banal. Es gibt unter den Evolutionsbiologen zum Phänomen der Seneszenz zwar leicht unterschiedliche Begründungsansätze, doch letztendlich lassen sie sich alle auf einen Kernsatz bringen:
Die Evolution erfand die Alterung weniger, weil sie für die betroffenen Arten von Lebewesen notwendig oder gar nützlich wäre, sondern vor allem, weil sie ihnen nicht schadet. Eine ebenso überraschende wie ernüchternde Erkenntnis. Wie ist sie zu verstehen?
Seneszenz – Alt werden beim Altwerden
Altern scheint für uns Menschen vor allem mit Verlust und Degeneration verbunden zu sein. Die Mehrzahl der heutigen Gerontologen würde bei einer solchen Sichtweise allerdings protestieren. Schon seit einiger Zeit bemühen sie sich, die alte verwurzelte Sichtweise vom Abbau als einzigem Aspekt des Alters zu korrigieren. Mit großer Vehemenz wird heute der „Defizithypothese der Alterung” widersprochen.
Und die Kritiker haben nicht unrecht. Ohne Zweifel werden Aufbauprozesse, Chancen und andere positive Aspekte des Alters häufig vergessen oder missachtet. (Wer das Thema vertiefen möchte, dem sei das Buch Successful Aging von Rowe und Kahn empfohlen; siehe Literaturverzeichnis.) Innerhalb des Lebens auf der Erde ist Altersabbau beziehungsweise Seneszenz keine unausweichliche Begleiterscheinung des Alters. Wir haben das bereits angeschnitten. Andererseits aber ist nicht zu bestreiten, dass Abbau eine sehr typische Erscheinung dessen ist, was wir Menschen gemeinhin unter Alterung verstehen und erleben – zumindest aus biologischer Sicht.
Das Geheimnis der Hundertjährigen
Als ein Argument gegen die Defizithypothese wird heute die erfreulicherweise zunehmende Zahl an gesunden, aktiven Hundertjährigen angeführt. Und tatsächlich können uns gerade die erfolgreich und relativ gesund gealterten Hundertjährigen etwas über den Alterungsprozess aufzeigen. Allerdings anders, als vielleicht erwartet.
Beim Menschen reduzieren sich im Verlauf des chronologischen Alterns praktisch alle Körperfunktionen. Personen, die sehr alt werden, 100 Jahre oder noch älter, bilden in dieser Hinsicht eigentlich keine Ausnahme. Die meisten biologischen Marker verändern sich bei ihnen vergleichbar, bis auf eine Besonderheit: Es fehlen extreme Entwicklungen in einzelnen Funktionsbereichen. Bei ihnen sind einzelne „schwache Glieder“ im biologischen System, die frühzeitigen Diabetes, Parkinson und andere typische Altersleiden begünstigen können, seltener. Hundertjährige sind in erster Linie sehr gleichmäßig gealtert.
Warum die Natur sich Altern leisten kann
Antagonistische Pleiotropie oder: Dr. Jekyll und Mr. Hyde in unseren Genen
Wer hinter das Wesen der Alterung blicken will, kommt um diesen etwas kompliziert klingenden Begriff nicht herum. Doch keine Sorge, so schwierig ist die Sache gar nicht. Als „pleiotrop“ werden Gene bezeichnet, die gleich mehrere Eigenschaften eines Organismus bestimmen. Im Hinblick auf die Evolution, also die Entwicklung einer Art, können diese Eigenschaften sogar entgegengesetzt sein. Das heißt, die eine Eigenschaft des Gens wirkt sich günstig aus, die andere ungünstig. Deshalb „antagonistische Pleiotropie“.
Die zwei Gesichter von Fett
Häufig hat sogar ein und dieselbe Eigenschaft, die ein Gen steuert, gegensätzliche Konsequenzen. Ein Beispiel ist die Fettspeicherung beim Menschen. Die Veranlagung, viel Fett zu speichern, wirkt sich vor allem bei unregelmäßigem Nahrungsangebot günstig auf die Fortpflanzungsfähigkeit und damit auf die Überlebenschancen aus. Das gilt besonders für Frauen, da bei ihnen eine erfolgreiche Fortpflanzung unmittelbar von ausreichenden Energiespeichern abhängt. Je mehr Fettreserven, desto besser also die Überlebenschance der Nachkommen und damit der Art.
Auf der anderen Seite führen verschiedene Stoffwechselprozesse rund um die Fettspeicherung zu einem erhöhten Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten – was die Überlebenstauglichkeit im späteren Alter beeinträchtigt.
Pleiotrope Gene sollten sich über Generationen hin also grundsätzlich nur dann durchsetzen, wenn für die betreffende Art unterm Strich der Gewinn höher ist als der Verlust. Der Vorteil muss größer sein als die Nachteile. Dieser Grundsatz gilt für alle Entwicklungen der Evolution und ist leicht nachvollziehbar. Doch es kommt noch etwas Entscheidendes hinzu: der Zeitfaktor.
Der Zeitpunkt entscheidet
Negative Auswirkungen, die von einem ansonsten positiven Gen verursacht werden, verlieren für das Überleben und den Fortbestand einer Art erheblich an Gewicht, wenn sie erst spät im Leben zum Tragen kommen.
Um bei unserem etwas vereinfachten Beispiel zu bleiben: Die Fähigkeit, besonders viel Fett zu produzieren und zu speichern, wirkt sich positiv auf die Zahl beziehungsweise die Überlebenschance der Nachkommen aus und sollte sich deshalb im Laufe der Evolution als genetischer Vorteil durchsetzen. Der dadurch entstehende Nachteil, im späteren Erwachsenenalter einem höheren Krankheits- und Sterberisiko ausgesetzt zu sein, mag für das betroffene Individuum bedauerlich sein. Für den Fortbestand der Art aber wirkt sich dieser Nachteil kaum aus, da die Nachkommen bereits gezeugt und aufgezogen sind.
Die Fürsorge der Natur ist begrenzt
Unterstellen wir für einen Moment der Natur eine bestimmte Absicht (was natürlich nicht korrekt ist, da die Natur keine Intentionen verfolgt), so könnte man sagen: Die Natur kümmert sich um uns, solange es um den Fortbestand der Art geht – und das ist in erster Linie die Zeit von unserer Geburt bis zum mittleren Erwachsenenalter. Was danach mit dem einzelnen Individuum geschieht – Krankheit oder Tod –, ist für den Fortbestand der Art und damit auch für die Natur von höchst untergeordnetem Interesse.
Ein ernüchternder Gedanke, dass wir in diesem Sinne auf die Fortpflanzungsfähigkeit reduziert und ab dem Erwachsenenalter gewissermaßen „vernachlässigt“ werden. Und überhaupt, wir könnten uns mit einiger Berechtigung fragen, warum die Natur all ihr Interesse auf die Jugend konzentriert. Ebenso gut könnte ja die Fortpflanzungsfähigkeit länger erhalten bleiben und damit könnten die Anstrengungen um die Gesunderhaltung des Individuums auch im späteren Alter einen höheren Stellenwert bekommen.
Biologisch wäre das tatsächlich möglich, das wissen wir heute. Und bei vielen Tierarten ist das auch so. Aber die Natur hat noch einen anderen Grund, nicht allzu viel in höhere Lebensalter von uns Menschen zu investieren. Und das hat etwas mit Mathematik, mit kleinen Glasröhrchen und einer Schublade zu tun. Wir kommen gleich auf diesen etwas merkwürdig klingenden Zusammenhang zu sprechen.
Lebensbedrohliche Mutationen
Mutationen sind zufällig entstehende Genveränderungen und ein typisches Phänomen des Lebens. Wahrscheinlich sind sie sogar ein wichtiger Motor für die Evolution. Allerdings: Die meisten dieser spontanen genetischen Veränderungen wirken für das Individuum überaus schädlich. Krebs ist ein Beispiel dafür.
Eine Mutation kann auch in einem jungen Organismus auftreten beziehungsweise sich in einem frühen Alter auswirken. Weil aber das Überleben dadurch normalerweise behindert, wenn nicht unmöglich gemacht wird, sterben ihre Träger sehr bald – meist, bevor sie die Möglichkeit haben, sich fortzupflanzen und die Veranlagung zu frühen Mutationen weiterzugeben.
Weit weniger stark wirkt die evolutionäre Auslese, wenn sich eine vererbte Mutation erst im späteren Alter bemerkbar macht. Wahrscheinlich ist die Alzheimer-Erkrankung die häufigste genetisch (mit-) bedingte Erkrankung, die im Erwachsenenalter auftritt. Eine besondere, vererbbare Genvariante vergrößert deutlich das Risiko zu erkranken. Da aber meist nur Menschen in höherem Alter betroffen sind, hat die Natur sozusagen wenig Handhabe, diese Vererbungslinie zu unterbrechen.
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