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Mutagene Prozesse und andere gefährliche Angriffe auf den Organismus finden ununterbrochen statt. Ohne eine pausenlos arbeitende Abwehr und Schnellreparatur wäre nicht einmal ein kurzes Leben möglich. Aber Körperzellen sind schädlichen Einflüssen nicht schutzlos ausgeliefert. Abwehrkämpfe und Ausbesserung von Schäden sind ein wesentlicher Überlebensfaktor. Dramatisch deutlich wird das, wenn diese Mechanismen nicht funktionieren, wie das bei der Immunschwächekrankheit Aids der Fall ist. An Aids erkrankte Kinder erleiden nicht nur vielfältige Infektionskrankheiten, auch die Krebsrate steigt schnell an.
Perfekte Abwehr und aufwendige Reparatur sind aber nicht kostenfrei zu haben. Sie zwingen den Organismus, mit seinem Energie- und Ressourcenhaushalt entsprechende Schwerpunkte zu setzen; diese Ressourcen fehlen an anderer Stelle (s. u.). Für das Überleben einer Art ist es deshalb auch dabei wichtig, dass die Natur ihre Kräfte konzentriert und sich besonders auf Reparaturleistungen im jungen Organismus spezialisiert. „Nachlässigkeiten“, die sich im Alter einschleichen, wirken sich für die Arterhaltung weit weniger dramatisch aus.
Amputierte Bakterien
Bakterien können, ebenso wie der Mensch, bestimmte lebensnotwendige Substanzen aus Nahrungsbausteinen herstellen. Andere Nährstoffe müssen sie in direkter Form aufnehmen, genau wie wir. Im Labor kann man nun einen Bakterienstamm derart verändern, dass die Fähigkeit, – sagen wir – eine Substanz A selbst herzustellen, verloren geht. Diese Substanz wird damit zu einem klassischen Vitamin, das diese Bakterien ab sofort über die Nahrung aufnehmen müssen, um zu überleben.
Werden die veränderten Bakterien zusammen mit nichtmanipulierten Artgenossen in eine Nährlösung gesetzt, in der die Substanz A nur in sehr geringen Mengen vorkommt, vermehren sich vor allem die unveränderten Bakterien, die die Substanz A nach wie vor selbst herstellen können. Sie sind ja nicht von der Nahrungszufuhr abhängig. Der manipulierte Bakterienstamm dagegen erleidet Mangelerscheinungen und geht unter.
Der Fall scheint ja auch auf der Hand zu liegen: Wenn Nährstoffe, die vorher im Organismus „einfach” selbst hergestellt wurden, nicht mehr produziert werden können und der Körper jetzt in Abhängigkeit von der Umwelt gerät, so muss das zwangsläufig zu Existenznachteilen führen. Oder nicht?
Ein zweites Experiment: Setzt man beide Bakterienstämme in eine Nährlösung, die ausreichend große Mengen der Substanz A enthält, passiert etwas Überraschendes: Jetzt überleben beide Stämme nicht etwa gleich gut. Es vermehren sich vielmehr die Bakterien besser, die Substanz A nicht mehr selbst herstellen können und deshalb auf die externe Zufuhr angewiesen sind.
Grund für diese überraschende Entwicklung: Jeder noch so einfach erscheinende Stoffwechselvorgang verlangt vom Organismus Energie und Ressourcen. Eine Energie, die unter Umständen von anderen Körpervorgängen abgezogen werden muss. Kann es sich eine Population leisten, an einem bestimmten Stoffwechselablauf zu sparen, so können die frei werdenden Ressourcen gewinnbringend in andere Bereiche investiert werden. Und das kann einen entscheidenden Überlebensvorteil bedeuten. Das Leben muss sich also „genau überlegen”, wann und worauf es seine Bemühungen konzentriert.
Bitte beachten Sie: Deshalb sind auch bestimmte, immer wieder zu hörende Aussagen zur Nährstoffsubstitution unsinnig, Aussagen wie: Nährstoffe und vitaminähnliche Stoffe, die der Körper selbst herstellen kann, bräuchte man nicht von außen zuzuführen beziehungsweise sie hätten überhaupt keine Wirkung. Denn der Organismus würde ja immer genau die optimale Menge produzieren, die er benötigt. Falsch! Richtig ist: Vitalstoffe werden vom Körper nicht am Optimum orientiert produziert, sondern unter einer strengen Nutzen-Aufwand-Relation. Zusätzliche Substitution kann deshalb in vielen Fällen positiv und sinnvoll sein.
Die letzten Zähne des Elefanten
Wie wichtig ein ökonomischer Umgang mit Lebensenergie ist und wie genau die Natur ihre Ressourcen verteilt, zeigt das Beispiel der Elefantenzähne. Elefanten sind fast den ganzen Tag damit beschäftigt, sprödes Gras zu zermalmen. Entsprechend schnell nutzen sich ihre Backenzähne ab. Nicht auszudenken, würden Elefanten nur einmal im Leben neue Zähne erhalten, wie wir. Sie wären schon in ihrer Jugend zahnlos. Auf einem Satz Zähne kann ein Elefant nämlich nur etwa 10 Jahre lang kauen, dann ist er abgenutzt und muss durch neue Zähne ersetzt werden. Das geschieht auch. Die Natur versorgt die Tiere immer wieder mit neuen Zähnen. Eine verschwenderische Ausstattung?
Keineswegs. Etwa im Alter von 60 Jahren erhält der Elefant seinen sechsten und diesmal unwiderruflich letzten Zahnsatz. Elefanten werden 60 bis 70 Jahre alt und normalerweise genügt somit diese letzte Ausstattung bis zum Lebensende. Bleibt ein Elefant länger am Leben, gibt es keinen „Zahnbonus“ für das Tier. Eine Veranlagung, vielleicht in den späten Sechzigern zum siebten Mal Zähne zu entwickeln – sozusagen als Versicherung für einzelne, besonders langlebige Vertreter der Art –, ist vom Evolutionsstandpunkt aus „unrentabel“ und hat sich nicht durchgesetzt. Sehr alte Elefanten bezahlen diese strenge Ökonomie nicht selten mit einem grausamen Schicksal: Sie müssen verhungern.
Alterung als Nebeneffekt
Alternsforscher interessierten sich schon immer für die Frage, in welcher Beziehung unser mächtiges Hormonsystem zum Altern steht. Denn die meisten Hormone und Botenstoffe verlieren im Alter ihre fein abgestimmte Regulation. Verhindert man diese Störungen, lassen sich viele Alterserscheinungen vermeiden. Hormonstörungen sind also sowohl Folge als auch Ursache von Altern.
Doch nicht alles, was das Überleben im jungen, fortpflanzungsfähigen Alter sichert, ist auch im Hinblick auf die Langlebigkeit förderlich. Verschiedene Bereiche unseres Hormonsystems sind ebenfalls einer antagonistischen Pleiotropie unterworfen. Stressreaktionen sind solch ein Beispiel. Die Natur sichert unter allen Umständen eine möglichst optimale Reproduktion, um das Überleben der Art zu gewährleisten. Dabei sind ihr alle Mittel recht – auch solche, für die der Einzelne im späteren Leben eine bittere Rechnung bezahlen muss. Charles Mobbs, Endokrinologe am New Yorker Fishberg Center of Neurobiology, drückt das so aus: „Fehlfunktionen im späteren Leben sind im Wesentlichen Nebeneffekte eines optimalen Fortpflanzungserfolges im frühen Leben.“
Überbevölkerung – kein Thema für die Natur
Altern als Nebeneffekt, Altern als Folge zufälliger genetischer Doppelwirkungen und Altern aufgrund einer strengen „Sparpolitik“ der Natur – wir haben jetzt eine ganze Reihe von Gründen kennengelernt, warum sich im Laufe der menschlichen Evolution das entwickeln konnte, was wir heute unter Alterung verstehen (und zu unserem Missfallen selbst erleben).
Wir müssen auch – vielleicht ein wenig irritiert – zur Kenntnis nehmen, dass Menschen nicht deshalb altern, weil es ein geplantes oder notwendiges Schicksal ist. Nicht weil es vorbestimmt ist oder „Sinn macht“, sondern viel eher aus Zufall, durch eine Reihe von Nachlässigkeiten und vor allem Ökonomiemechanismen der Natur hat sich das Altern gewissermaßen über die Hintertür eingeschlichen.
Man könnte jetzt einwenden, es gebe ja mindestens einen guten Grund, warum Altern und Alterstod existieren: Denn wie sollten neue Generationen überleben, wenn es keine oder nur geringe Alterung sowie keine Alterskrankheiten gäbe und die Menschen Jahrhunderte alt werden könnten? Nahrung oder Platz würden früher oder später knapp. Liegt also doch so etwas wie ein Sinn im Altern?
Auch da ist die Antwort überraschend. Sie lautet: nein. Wegen drohender Überbevölkerung hätte Altern nicht entstehen müssen. Seit der Entwicklung der ersten Menschen bis in unsere Zeit, also seit vielen Hunderttausenden von Jahren, war der Tod aus „Altersschwäche“ eine Seltenheit. Um das Leben der Menschen zu beenden, hätte das Altern nicht „erfunden“ werden müssen.
Unfälle, Hungersnöte, Infektionen und viele andere Faktoren sorgten über Jahrtausende dafür, dass die allermeisten Menschen ums Leben kamen, bevor sie überhaupt in die „glückliche Verlegenheit“ kommen konnten, an den Folgen ihrer Alterung zu sterben. Ganz im Gegenteil: Die Tatsache, dass das Leben schon ohne das Altern gefährlich genug ist, ist sogar ein weiterer Grund, warum sich die Natur über schädliche Begleiterscheinungen des menschlichen Alterungsprozesses „keine Gedanken zu machen“ brauchte. Zumindest galt das bis in die jüngste Geschichte der Menschheit. Und damit kommen wir zu den bereits erwähnten Glasröhrchen und der Schublade – erinnern Sie sich? – und dazu, was es damit auf sich hat.
Die Schubladenparabel oder: Warum die Mathematik gegen zu viel Altersvorsorge spricht
Seneszenz (also die zunehmenden Funktionsverluste und Defizite im Alter) beeinträchtigt nicht die Fortpflanzung und damit das Überleben der Gattung Mensch. Das haben wir gesehen. Dennoch mag man angesichts der vielen Alterserscheinungen den Preis, den der Einzelne zu zahlen hat, als sehr hoch beklagen. Ist die Natur nicht doch zu nachlässig?
Kommen wir noch einmal auf eine Überlegung von weiter oben zurück: Theoretisch könnte es für das Überleben der Gattung Mensch doch auch gewisse Vorteile haben, wenn Fortpflanzungsfähigkeit und Leistungsfähigkeit im Leben länger erhalten blieben: Bei längerer Fortpflanzungsfähigkeit würde sich die Natur dann auch länger um unser Jungbleiben kümmern. Nun ja, wie gesagt, theoretisch denkbar. Praktisch wäre der Vorteil aber äußerst gering. Der englische Zoologe und Nobelpreisträger Peter Bryan Medawar präsentierte 1957 dazu folgende interessante Parabel:
In einer Schublade eines Labors liegen neben anderen Dingen kleine Glasröhrchen. Die Schublade wird von den Mitarbeitern häufig geöffnet, und weil man in einer großen Schublade nie das findet, was man gerade sucht, gehen bei der Wühlerei immer wieder Glasröhrchen in die Brüche. In regelmäßigen Abständen müssen deshalb Röhrchen ersetzt werden.
Erhöht man nun mit einem kleinen Kunstgriff die Brüchigkeit der Glasröhrchen, gehen beim täglichen Umgang natürlich mehr Exemplare entzwei. Entsprechend wird ein größerer Nachschub gebraucht, will man das „Aussterben” der Röhrchen verhindern. So weit ist alles, wie es jeder erwarten würde.
Manipuliert man die Brüchigkeit der Glasröhrchen aber so, dass sie langsam und zunehmend mit dem Alter der Röhrchen ansteigt (am Ende sogar viel stärker als beim vorherigen Versuch), kann man Erstaunliches feststellen. Es müssen jetzt in einem bestimmten Zeitraum kaum mehr Röhrchen ersetzt werden als im ursprünglichen Alltagsgebrauch ohne die zugefügte Brüchigkeit.
Obwohl sich ja „junge” Glasröhrchen in keiner Weise von „alten” Glasröhrchen unterscheiden (es gibt keine Alterung bei Röhrchen), wirken sich Anfälligkeiten, die die „jungen” betreffen, sehr nachhaltig aus. Die Brüchigkeit von „alten” Exemplaren dagegen beeinflusst die „Röhrchenpopulation” nicht oder zumindest nur wenig. Grund: Durch die täglichen Schubladengefahren überleben die Glasröhrchen durchschnittlich ohnehin nur eine gewisse Zeit, auch ohne zu altern oder im eigentlichen Sinn sterblich zu sein. Nur sehr wenige erreichen deshalb ein chronologisch hohes Alter. Anfälligkeiten, die erst im hohen Alter auftreten, wirken sich entsprechend gering auf den Gesamtbestand aus.
Die Natur erlaubt uns, jung zu bleiben
Ebenso verhält es sich in der Menschheitsentwicklung. Auch wenn man die genannten wichtigen Faktoren wie Fortpflanzungsfähigkeit oder Energiesparmaßnahmen beiseite lässt, ist es für die Natur sinnvoll, sich auf die Jungen und damit die Mehrheit zu konzentrieren. Wegen der alltäglichen Lebensgefahren gab es bis in die allerjüngste Vergangenheit nämlich nur wenige, die alt an Jahren wurden. Ob diese wenigen nun alt wurden im Sinne von Alterung und Krankheit, spielte für die Entwicklung der Gattung Mensch kaum eine Rolle.
Es spricht also nichts dagegen, dass der Mensch bis in ein hohes Alter jugendlich bleiben könnte. Biologisch wäre das absolut möglich und die Natur jedenfalls verbietet es ihm nicht. Sie hat nur keine Veranlassung, von sich aus allzu viel Mühe darauf zu verwenden.
Für das Alter ist jeder selbst verantwortlich
Inwieweit genau die verschiedenen Evolutionsmechanismen beim Menschen direkt oder indirekt am Funktionsabfall im Alter beteiligt sind, lässt sich nicht exakt abgrenzen. Wir brauchen auch nicht näher darauf einzugehen. Halten wir fest, dass es für die Entstehung von Seneszenz beim Menschen eine Reihe von Gründen geben kann. Rein biologisch ist körperlicher und geistiger Abbau jedenfalls auch in hohem Alter keinesfalls zwingend. Und viele Mechanismen, die diesen Abbau verhindern oder stark verzögern können, sind bereits entschlüsselt.
Die Evolution interessiert sich immer nur für die Art, nicht für das Individuum. In unserem Fall heißt das: Um Alterserscheinungen, die spät im Leben auftreten, muss sich die Natur nur wenig kümmern. Für Alterserscheinungen, die sich zwar früher einstellen, aber nicht lebensbedrohlich sind, wie Falten, Haarausfall und Ähnliches mehr, interessiert sich die Natur überhaupt nicht.
Die Natur hilft uns, solange wir jung sind. Wenn wir als Einzelperson Wert darauf legen, unsere Kraft, unser Aussehen oder unser geistiges Potenzial möglichst lange zu erhalten, müssen wir uns schon selbst darum kümmern.
„Wer nicht handelt, dem wird der Himmel nie helfen.”
SOPHOKLES [griechischer Tragiker und Philosoph, 496–406/5 v. Chr.]
Wann Altern beginnt
„50! Was jetzt schon?
Splittert jetzt hier und da der Lack,
bin ich jetzt auch so‘n alter Sack,
zu dem ich und meine Gefährten
jeden, der über zwanzig war,
gnadenlos stempelten und gar
zum Zausel und scheintot erklärten?”
REINHARD MEY [deutscher Liedermacher, *1942]
Wir alle haben eine mehr oder weniger genaue Vorstellung, was alt bedeutet. Auch unter blühender Jugend können wir uns etwas vorstellen. Wann aber beginnt dieses Verhängnis, das wir Altern nennen? Mit der ersten Falte, dem ersten grauen Haar?
Der große amerikanische Schauspieler und Komiker George Burns machte sich darüber ebenfalls so seine Gedanken. Er kam zu dem Schluss, auch nicht genau zu wissen, wann Altern beginnt. Dafür schilderte er, wie man wenigstens eindeutig erkennt, dass man bereits alt ist. Wir möchten Ihnen diese Checkliste nicht vorenthalten.
Ab wann Sie alt sind
Der amerikanische Schauspieler und Komiker George Burns in seinem Buch Dear George: Advice and Answers from America's Leading Expert on Everything from A to B über das Altsein:
Dass Sie alt sind, werden Sie dann wissen,
… wenn alles wehtut und das, was nicht wehtut, nicht funktioniert.
… wenn Sie sich fühlen wie nach einer durchzechten Nacht, aber nirgendwo gewesen sind.
… wenn Sie ganz schön außer Atem kommen, während Sie Schach spielen.
… wenn in der Zeitung Ihr Lieblingsteil heißt: „Vor 25 Jahren …”.
… wenn Sie immer noch Frauen hinterherjagen, sich aber nicht mehr genau erinnern können, warum.
… wenn Sie sich bücken, um Ihre Schnürsenkel zu binden, und sich dann fragen: „Was könnte ich eigentlich noch machen, wenn ich schon mal hier unten bin?”
… wenn alle Ihre Geburtstagsgäste um die Torte mit den Kerzen herumstehen – nur, um sich zu wärmen.
„Diese Dinge”, so fügte der damals schon über 90-jährige Burns hinzu, „passieren tatsächlich, wenn du alt wirst. Ich weiß es, weil es das ist, was mir mein Vater andauernd erzählt.”
Die Lebenstreppe
Schon in früheren Kulturen wurde das menschliche Dasein als eine Art Lebenstreppe gesehen. In der ersten Phase entwickelt sich der Mensch in einer stetig aufwärts führenden Entwicklung vom Kind zum erwachsenen Menschen. Der Höhepunkt wird im fünften Lebensjahrzehnt erreicht. Danach beginnt der Abstieg in die Alterung und den Tod. Einige Psychologen sehen Alterung heute als einen ausschließlich aufwärts strebenden Entwicklungsprozess, weil man immer mehr Wissen, Reife und Erfahrung sammeln kann. Andere haben mit einer solchen Sichtweise Probleme, da zumindest im körperlichen Bereich in der Jugend aufbauende, im Alter hingegen vielfach abbauende Prozesse ablaufen. Ist Alterung also doch ausschließlich ein Phänomen der zweiten Lebenshälfte?
Untrügliche Zeichen
Wäre Altern eine Erscheinung, die erst sehr spät im Leben einsetzt, wie wäre dann aber beispielsweise das spätestens zwischen dem 30. und 35. Lebensjahr einsetzende Nachlassen der körperlichen Leistungsfähigkeit zu erklären? Wenn nicht Alterung, welche Ursachen stecken dahinter, wenn wir mit 30 das erste graue Haar oder schon Mitte 20 erschrocken die ersten Falten im Spiegel entdecken?
Als man im Vietnamkrieg die gefallenen US-Soldaten untersuchte, waren die Pathologen überrascht, wie viele arteriosklerotische Ablagerungen die jungen durchtrainierten Männer bereits aufwiesen. Ihr Zustand war offensichtlich nicht nur eine Folge der Kriegsbelastung, sondern Vorbote klassischer „Alterskrankheiten“, deren Beginn man viel später vermutet hatte.
Genauer Zeitpunkt
Manche Wissenschaftler vertreten die Auffassung, unsere Alterung beginne nach dem Ende der Pubertät. Sicher eine plausible Überlegung. Wer es jedoch ganz genau nimmt, kann tatsächlich schon in noch jüngeren Jahren erste Fingerzeige der Alterung entdecken. Wenn wir 20 sind, ist beispielsweise unser Bewegungsapparat bereits nicht mehr so beweglich und elastisch wie im Kindesalter. Im Spitzensport, beim Turnen oder der rhythmischen Sportgymnastik gehören Sportlerinnen deshalb schon vor ihrem 20. Geburtstag zum „alten Eisen“. Aus experimentellen Studien über Eingriffe in den Alterungsprozess kann man sogar ableiten, dass Alterungsprozesse mit der Geburt einsetzen – ja, wahrscheinlich sogar noch früher.
„Geboren werden heißt, zu sterben anfangen.”
LAO-TSE [chinesischer Denker, 6. Jahrhundert v. Chr.]
Altern, bevor man geboren ist?
Wie so oft in der Wissenschaft führte der Zufall zu einem Hinweis darauf, dass im Organismus bereits vor der Geburt Alterungsprozesse ablaufen müssen.
Es war ein Routinetest: Zu Beginn der 70er-Jahre sollte geklärt werden, ob Antioxidantien (= wichtige, auch in der Nahrung enthaltene Schutzstoffe wie Karotine, Vitamin C und andere) auch für das ungeborene Leben als unbedenklich eingestuft werden können. Natürliche Antioxidantien, aber auch synthetische Antioxidationsmittel setzt man unseren Lebensmitteln und auch dem Tierfutter zu, um das Verderben zu verzögern.
In einer Studie wurden deshalb schwangeren Mäusen mit dem Futter Tocopherole (Vitamin E), Etoxyquin und weitere Antioxidantien verabreicht. Ihre Jungen kamen gesund und ohne negative Anzeichen zur Welt. Um auch Spätschäden auszuschließen, beobachtete man alle Neugeborenen weiter, bis sie alt waren.
Jetzt geschah etwas Unerwartetes: Die Tiere, deren Mütter während der Schwangerschaft Antioxidantien erhalten hatten, blieben im Laufe ihres Lebens nicht nur äußerst gesund, sie wurden sogar älter als die Mäuse, deren Mütter während der Tragzeit mit normalem Futter gefüttert worden waren.
Schutzwirkung schon im Mutterleib: Antioxidantien bewahren das Futter beziehungsweise Nahrungsmittel vor dem Verderben. Dass sie gleichzeitig sogar diejenigen schützen, die dieses Futter essen, war ebenfalls bereits bekannt – Antioxidantien verhindern das Ausbreiten von sogenannten Radikalen, die als ein wichtiger Alterungsfaktor gelten (vgl. II.2). In diesem Fall aber betraf die antioxidative Wirkung Embryonen, bei denen bisher keine Alterungsprozesse vermutet worden waren. Obwohl die Jungtiere bereits nach der Geburt normal – ohne weitere Schutzstoffe – ernährt wurden, war bei ihnen der normale Alterungsprozess verlangsamt.
Eine faszinierende Vorstellung, dass etwa freie Radikale möglicherweise schon vor der Geburt einen Einfluss auf den Verlauf der späteren Alterung ausüben.
Wachsen und Altern
Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, alle Prozesse im Körper würden parallel und in abgestimmter Harmonie ablaufen. Aufbauende und von uns als positiv angesehene Entwicklungsprozesse sind gleichzeitig von Alterung und Abbau begleitet, selbst in der Jugend.
Etwa in der Lebensmitte fällt der Rückgang positiver Entwicklungen mit den ersten deutlichen Alterungserscheinungen zusammen. Es entsteht der Eindruck, als würde erst dann die eigentliche Alterung beginnen. Eine genauere Betrachtung zeigt aber die Differenziertheit der Mechanismen. So baut sich beispielsweise unser im Gehirn gespeichertes Wissen praktisch bis zum Tod immer weiter auf, obwohl gleichzeitig gerade im Gehirn schon früh Alterungs- und Abbauprozesse stattfinden. Andere Leistungsbereiche haben bei uns ihren Höhepunkt schon in einem Alter überschritten, das wir eigentlich noch der Jugend zurechnen.
„Im Alter ist noch Jugend, in der Jugend schon Alter.”
GOLO MANN [deutscher Historiker und Schriftsteller, 1909–1994]
Alternsintervention sollte früh beginnen
Dass wir uns hier so intensiv mit der Frage nach dem Beginn von Alternsprozessen beschäftigen, geschieht nicht nur, um dem Phänomen Altern genauer auf die Spur zu kommen. Es hat auch ganz handfeste, konkrete Gründe. Denn aufgrund dieser Zusammenhänge müssen wir uns von einem verbreiteten Irrglauben verabschieden: von der Vorstellung, in der Praxis sei Alternsintervention vor allem etwas für ältere Menschen. Das Gegenteil ist richtig: Je früher wir den Kampf gegen das Altern aufnehmen, desto besser sind unsere Erfolgsaussichten.
Das bedeutet keineswegs, dass es im hohen Alter aussichtslos wäre. Wie wir noch sehen werden, ist die Beeinflussung von Alternsprozessen sogar bis ins höchste Alter möglich. Aber nie mehr werden Ihre Chancen auf jugendliches Aussehen und vor allem auf jugendliche Leistungsfähigkeit so gut stehen, wie wenn Sie zum bestmöglichen Zeitpunkt beginnen: jetzt!
„Du bist jung und das Leben ist lang und es gibt genug Zeit totzuschlagen. Und dann, eines Tages, stellst du fest, dass zehn Jahre an dir vorbeigezogen sind. Niemand hat dir gesagt, wann du loslaufen sollst; du hast den Startschuss verpasst. Und du rennst und du rennst, um die Sonne wieder einzuholen, aber sie sinkt.”
PINK FLOYD [aus einem Musikstück mit dem Titel Time]
Die Lebensspanne des Menschen
Die Erfolgsgeschichte täuscht
An optimistischen Vorhersagen über die Entwicklung der menschlichen Lebensspanne mangelt es heutzutage nicht. Vor allem im 20. Jahrhundert stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den Industrienationen geradezu dramatisch an. Und diese Entwicklung geht weiter. Ein Grund zu sorgloser Freude? Altern wir immer weniger, immer langsamer? Keineswegs. Um zu verstehen, was diese scheinbar glänzenden statistischen Zahlen mit unserer individuellen Alterung zu tun haben, lassen Sie uns zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Altern in früherer Zeit
Um in der Menschheitsgeschichte auf eine sehr kurze durchschnittliche Lebensspanne zu stoßen, muss man keineswegs in die Urzeit zurückgehen. Noch zu Zeiten der Griechen und Römer wurden die Menschen im Durchschnitt nur 20 bis 30 Jahre alt. Angesichts dieser und ähnlicher Zahlen könnte man vermuten, das hohe Alter sei eine „Erfindung“ der Neuzeit; und genau das wird uns allenthalben vermittelt.