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So – und nun noch ein paar Zeilen darüber, wie du dieses Buch lesen solltest.
Jedes der folgenden Kapitel ist einem LebensMuster gewidmet.
Und jedes Kapitel ist gleich aufgebaut:
Zum Beginn findest du immer ein LebensBild. Ich habe dafür einen Menschen interviewt und zeichne nun ein Leben nach, in dem ich das LebensMuster verwirklicht sehe, das ich im Folgenden beschreiben will. Diese Menschen sind alle ganz normale11 Menschen wie du und ich. Ich kenne sie alle persönlich. Sie gehören (oder gehörten) zum Umfeld der CityChurch.
Dann schauen wir zusammen in unsere LebensWelt. In diesem Abschnitt versuche ich, die Welt, wie ich sie sehe, zu beschreiben, und zu begründen, warum ich glaube, dass das LebensMuster für das Leben in dieser Welt Bedeutung hat.
Der dritte Abschnitt jedes Kapitels trägt unterschiedliche Titel, je nach dem, um was es gerade geht. In ihm schaue ich jedes Mal in das Leben von Jesus Christus und zeichne nach, wo ich dieses LebensMuster in seinem Leben entdecke.
Der vierte Abschnitt dreht sich dann um das LebensMuster selbst. Was ich bei Jesus sehe, übertrage ich auf unser Leben und gieße es in eine leicht zu behaltende Form. Wer die Life-Shapes von Breen kennt, wird sie hier wiederentdecken.
Zum Schluss jedes Kapitels wird es dann praktisch. Die MusterVorschläge beschreiben verschiedene Möglichkeiten, wie du das Gelesene in deinem Alltag anwenden kannst, so dass es die Seiten dieses Buches und damit die Theorie verlässt und wirklich im echten Leben ankommt.
Die LebensMuster sind zum Nachmachen da. Zum Ausprobieren. Manchmal werden diese Muster genau zu dir passen, aber hier und da werden sie dich hoffentlich auch inspirieren, eigene Ideen zu entwickeln – passendere. Dann wird aus dem Nachmachen das Selberglauben, deine eigene Art und Weise, dem Leben seine Form zu geben. Die neun LebensMuster sind dabei eine Hilfe – aber sie sind eben nur das: Muster. Und Muster passen niemals hundertprozentig!
Ach, wichtig ist noch dies: Dieses Buch ist eigentlich kein Buch, dass du in einem Rutsch von vorne bis hinten durchlesen solltest. Damit es sich lohnt, musst du dir eigentlich nach jedem Kapitel genug Zeit nehmen, das jeweilige LebensMuster auf dein Leben zu übertragen und den einen oder anderen MusterVorschlag wirklich auszuprobieren.
In echt, meine ich jetzt.
Man sagt, dass man im Schnitt drei Tage Zeit hat, um einen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Eine Erkenntnis also, die nach drei Tagen noch nicht zu einem praktischen Ansatz im eigenen Leben geführt hat, gerät wieder in Vergessenheit und wird nichts hinterlassen als die dunkle Erinnerung, dass da doch mal was war. Deshalb wird dieses Buch erst dann für dich wertvoll, wenn du es umsetzt. Nicht alles auf einmal! Dafür ist es viel zu viel. Aber etwas!
An meiner Mauer habe ich Monate gebaut. Für dieses Buch brauchst du auch etwas Zeit.
Ein letzter Tipp: Du kannst die Inhalte dieses Buches auch sehr gut mit einer Gruppe durcharbeiten. Ihr könntet euch neun Mal treffen und jedes Mal über ein Kapitel sprechen, dabei voneinander lernen und euch gegenseitig motivieren, dran zu bleiben.
Dabei helfen euch die QR-Codes am Anfang jedes Kapitels. Smartphone-Besitzer wissen, wie sie mit Hilfe derselben auf eine Internetseite weitergeleitet werden. Hier findest du jeweils einen kleinen Film, der das LebensMuster beschreibt, sowie einen Entwurf für das Gruppenmeeting.
Es geht natürlich auch ohne diese technische Spielerei. Indem du einfach diese Seite aufrufst: http://neunmalweise.de
Okay, wollen wir?
Frage: Magst du Triangeln? Ich nicht besonders.
1 Dieser Satz wird verschiedenen Menschen zugeschrieben. Neben Goethe auch Konfuzius und Lao Tse.
2 Was ich zu sagen versuche, ist: Eine Corvette ist eine sogenannte „Zuhälterkarre“.
3 Der US-amerikanische Arzt Duncan MacDougall will das 1906 nachgewiesen haben. Ist natürlich Blödsinn, bleibt aber eine irgendwie faszinierende Vorstellung. Der Film 21 Gramm aus dem Jahr 2003 spielt mit dieser Idee.
4 Ja, 300! Habe ich etwas anderes gesagt?
5 Darüber denkst du möglicherweise schon seit dem Beginn dieses Kapitels nach. Es fing ja gleich mit einem Zitat über diesen Jesus an.
6 Nicholas Thomas Wright war anglikanischer Bischof von Durham (England) und ist heute Professor für Neues Testament an der University of St. Andrews (Schottland).
7 N. T. Wright, Glaube – und dann? Von der Transformation des Charakters, Verlag der Francke-Buchhandlung 2011, S. 35.
8 Wenn du mit der christlichen Terminologie vertraut bist, wirst du diesen Vorgang „Nachfolge“ oder „Jüngerschaft“ nennen.
9 Die CityChurch (http://citychurch.de) wurde 2003 gegründet und gehört zum Bund Freier evangelischer Gemeinden.
10 Mike Breen und Walt Kallestad beschreiben die Life-Shapes in ihrem Buch Leidenschaftlich glauben – Jüngerschaft vertiefen, Verlag der Francke-Buchhandlung, 2007. Es sind acht geometrische Formen, die für acht Impulse geistlichen Wachstums stehen. Wir haben diese Impulse übernommen, teilweise weiterentwickelt und einen neunten hinzugefügt.
11 Jedenfalls mehr oder weniger …
1. Die Triangel

Schnipselfilm sowie Gruppenmaterial zu diesem Kapitel findest du unter: http://neunmalweise.de/triangel/
Hier geht‘s direkt zum Schnipselfilm „Die Triangel“: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=CsCGsGT738A
Zum Download der Full-HD-Version: http://neunmalweise.s3.amazonaws.com/Schnipselfilm_ Triangel_1080.mp4
Zum Download der HD-Version: http://neunmalweise.s3.amazonaws.com/Schnipselfilm_ Triangel_720.mp4
Die LebensDimensionen
Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte. Novalis
Auch wenn alles einmal aufhört – Glaube, Hoffnung und Liebe nicht. Diese drei werden immer bleiben; doch am höchsten steht die Liebe. Paulus
Das erste LebensMuster ist die Triangel. Das simpelste aller Musikinstrumente muss herhalten für das bedeutendste unserer Lebensthemen: Beziehungen.
Um schon etwas zu verraten: Es ist unter anderem die Anzahl der Ecken, die die Triangel zum Muster für die Beziehungen macht, in denen sich dein Leben abspielt.
LebensBild
Es ist Samstagvormittag, 11 Uhr. In der WG, zu der Mark12 gehört, wird gerade gefrühstückt. Die Party endete spät letzte Nacht. Man bietet mir Rühreier an. Nach mehrmaligen Danke-Neins nehme ich einen Kaffee.
Seit Marks Studienbeginn hat er in Wohngemeinschaften gelebt und schätzt diese Lebensform immer noch. In den letzten zehn Jahren waren vier verschiedene Wohnungen sein Zuhause und er hat sein Leben mit etwa einem Dutzend unterschiedlicher Menschen geteilt. Heute ist er 31 und berufstätig, und darum haben die Räume auch nichts von einer verlotterten Studentenbude, sondern gefallen mit Parkettboden, stilvollem Inventar und dem MacBook auf dem Schreibtisch. Doch auch wenn es aus finanziellen Gründen nicht mehr sein müsste: das WG-Leben bleibt.
„Bist du ein Beziehungsmensch?“, frage ich ihn und bin erleichtert, als er das bejaht. Immerhin ist dies der Grund, warum ich jetzt auf seinem Balkon sitze. „Absolut! Das Beste, was ich in meinem Leben bisher erlebt habe, entstand dadurch, dass wir mit ein paar Leuten gemeinsam eine Sache angepackt haben.“
Schon wenn Mark von seiner Kindheit in dem kleinen unterfränkischen Ort am Main erzählt, denkt er an das offene Haus seiner Eltern. Sie hatten häufig Gäste, oft auch über Nacht. Für andere Menschen da zu sein, liegt ihm wohl in den Genen, denn beide Elternteile haben ihre Berufsausbildung im sozialen Bereich absolviert: der Vater als Sozial-, die Mutter als Sonderpädagogin.
Die berufliche Laufbahn des Vaters erzählt sich abenteuerlich. Nach dem Studium und einem Praktikum in einer Jugendeinrichtung wechselt er in die professionelle Werbefotografie, übernimmt einige Jahre später das Schuhgeschäft des Großvaters und führt es zum Erfolg, nur um heute seine Brötchen wieder mit (außergewöhnlich guter!) Hochzeitsfotografie zu verdienen. Da vereint sich also eine soziale Ader mit Liebe zur Kunst und unternehmerischem Geschick – eine seltene Kombination.
„Ich glaube“, sagt Mark, „die berufliche Flexibilität meines Vaters hat viel damit zu tun, dass es mir heute leicht fällt, mit Leuten Beziehungen zu knüpfen. Ich interessiere mich für Menschen genauso wie für Technik; um ein Haar hätte ich Informatik anstelle von Sozialpädagogik studiert. Ich merke, dass es mir leicht fällt, mit den verschiedensten Menschen Kontakte aufzubauen, weil es eigentlich nichts gibt, was mich nicht interessiert.“
Und weil ich ihn kenne, weiß ich, dass das wahr ist. Es gibt wohl kaum einen Menschen, mit dem es leichter ist, über irgendwas zu quatschen.
Im Jahr 1993 geschieht etwas Entscheidendes in seinem jungen Leben. Die Familie findet zu Gott. Die Mutter ist ihren katholischen Wurzeln immer treu gewesen, doch der Vater hat mit Religion bisher nichts am Hut. In einer evangelistischen Veranstaltung mit Billy Graham steht Papa gegen Ende des Vortrags plötzlich auf und verkündet der erschrockenen Familie „Wir gehen! … Wir gehen nach vorne!“, und er bekennt sich öffentlich zum Glauben an Jesus Christus.
Von da an verändert sich das Leben der Familie sehr. Man schließt sich einer kleinen Gemeinde an, lernt andere Christen kennen und die Kinder sind beeindruckt von der positiven Kraft, mit der der Vater nun seinen Glauben lebt. Beziehungen zu Menschen waren schon immer wichtig; nun kommt die Beziehung zu Gott mit ins Spiel.
Schon bald beginnen Mark und sein jüngerer Bruder sich ehrenamtlich in der Kirche zu engagieren. Als er 14 ist, gründen sie eine Jungschargruppe für Kinder. Später leiten sie den Teenkreis. Über Jahre nehmen sie an einem Sommercamp teil und am Ende gehören sie zum Leitungsteam.
Das Telefon klingelt und unterbricht das Interview. „Hallo? … ja, sorry, ich hatte noch keine Zeit, zurückzurufen … ja, ich hab Zeit … wo? … bei dem Bäcker an der Ecke … okay, 14.30 Uhr, cool, bis dann.“ Ein Beziehungsmensch eben, denke ich lächelnd …
In der Jugendzeit spielen Freunde eine große Rolle in Marks Leben. Er lernt Leute aus Würzburg und eine neue Gemeinde kennen. Es bildet sich eine Clique und ein junger Mitarbeiter sieht das Potenzial dieser Jugendlichen und investiert sich in sie. Begleitet sie. Hat Zeit. Einige dieser damaligen Freundschaften bestehen bis heute. Sie haben Mark sehr geprägt.
„Braucht man Freunde, um sich selber kennenzulernen?“, frage ich und weiß, dass ich diese Frage einem Sozialpädagogen stelle. Er nickt: „In meinem Job führe ich mit Jugendlichen ein soziales Kompetenztraining durch. Und der Hauptpunkt dabei ist, dass sie lernen, Freundschaften zu leben. Denn Freunde sind wie ein Spiegel. In Beziehungen erlebst du dich selbst, bekommst eine direkte Rückmeldung auf dein Verhalten. Zu erleben, dass du für andere wichtig bist und dass andere für dich wichtig sind, ist absolut zentral im Leben.“
Mark selbst empfindet es als sehr wichtig, dass er damals in Würzburg Kontakte ohne seinen Bruder knüpfen konnte.
„Irgendwie ist mein Bruder immer der Angesagtere von uns beiden gewesen. Die Freunde, die ich hatte, hatte ich über meinen Bruder. Jetzt war das anders und ich merkte: Hey, ich allein bin ja auch cool.“ Und er lächelt über diese umwerfende Erkenntnis.
Die Dynamik, die sich dann entwickelt, hält Mark eigentlich bis heute in Atem. Aus der Clique entsteht eine Jugendgruppe, aus der Jugendgruppe ein großes Gottesdienstprojekt, das vielen Jugendlichen hilft, wieder in Kontakt mit Gott und der Kirche zu kommen. Mark ist im Leitungsteam und erlebt den Flow, der entsteht, wenn ein paar Leute ein gemeinsames Ziel verfolgen.
Er ist 22, als ein Freund ihm von einer noch verrückteren Idee erzählt. Der Pastor seiner Gemeinde hat den Traum, eine neue Kirche zu gründen. Eine Kirche für junge Leute. Eine Kirche im Kino. Mark ist sofort begeistert.
„Mir war, als hätte ich mein Leben lang auf diese Möglichkeit gewartet. Als Jugendleiter hatten wir einen Ort geschaffen, an dem Jugendliche ihre Freunde mitbringen konnten. Aber ich selbst war kein Jugendlicher mehr. Diese Kirche nun würde ein Ort werden, an dem meine eigenen Freunde einen Zugang zum Glauben finden könnten.“
Im Jahr 2003 wird die CityChurch gegründet, die Kirche, in der ich heute arbeite. Mark gehört zu den tragenden Leuten des Gründungsteams und ist bis heute ein Mann, der sehr viele Leute in unserer Kirche kennt und miteinander verbindet.
„Das finde ich das Geniale an Kirche. Da kommen Leute zusammen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber weil sie ein gemeinsames Ziel haben, stellen sie etwas Tolles miteinander auf die Beine. Das macht für mich die Faszination von Gemeinschaft aus.“
Mark ist ein Beziehungsmensch. Er investiert viel Zeit in seinen Freundeskreis und immer wieder auch in Menschen, die Hilfe brauchen. Seine WG hat schon einige Male Menschen aufgenommen, die übergangsweise ein Zuhause brauchten. Vor einigen Jahren boten sie einem jungen Mann ein Zimmer an, von dem vorher niemand geahnt hatte, dass er Job und Wohnung nur erfunden hatte und stattdessen unter der Brücke schlief. Diese Scheinexistenz hatte funktioniert, bis er im Knast landete. Mark und seine Mitbewohner nahmen ihn auf, bis er sein Leben auf der Reihe hatte. Heute hat er Frau und Kind und Mark sagt: „Ich glaube, dass Gemeinschaft Leben verändern kann.“
Ich bin froh, Mark interviewt zu haben, denn sein Leben zeigt, welche Bedeutung den Beziehungen in unserem Leben zukommt: der Beziehung zu anderen Menschen, der Beziehung zu Gott und der Beziehung zu uns selbst.
„Würdest du auch einen kritischen Gedanken in das Kapitel rein nehmen?“, fragt er. Ich nicke. „Was ich in letzter Zeit leider auch merke, ist dies: Ich habe zu oft das Leben anderer geteilt und zu wenig an mein eigenes gedacht. Ich habe oft den Schmerz anderer gespürt, doch den eigenen darüber ganz vergessen. Wenn du das Gleichgewicht nicht hältst zwischen den Beziehungen zu anderen und der Beziehung zu dir selbst, ist die Gefahr groß, dass du dich selbst verlierst. Ich werde da in Zukunft an einer besseren Balance arbeiten müssen!
Und damit liefert er mir die Steilvorlage für das, was das LebensMuster der Triangel sagen will.
LebensWelt
Dieses Buch soll dem Leser helfen, sein Leben in Form zu bringen. Das ist eine ziemliche Anmaßung. Trotzdem werde ich auf den folgenden Seiten selbstbewusst mit so bedeutungsschweren Begriffen wie Charakter, Reife oder Persönlichkeit um mich werfen.
Und immer wieder das große Wort Leben.
LebensMuster.
LebensBild.
LebensWelt.
Ich ahne es jetzt schon: Ich werde mich während dem Schreiben mehr als einmal fragen, ob diese Thematik nicht eine Nummer zu groß für mich ist, und vielleicht wirst du während des Lesens ab und zu denken, dass ich damit recht haben könnte. Immerhin: wir denken hier über nichts weniger als das Geheimnis des Lebens nach! Doch ich finde: diesem kommt man zweifellos schon sehr nahe, wenn man über Beziehungen nachdenkt.
Beziehungen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die meisten von uns mutmaßen, dass der Sinn des Lebens irgendwie mit dem zu tun hat, was zwischen uns passiert. Anders gesagt: der Sinn des Lebens hat mit Liebe zu tun.
Nach nichts sehnen wir uns mehr.
Nichts macht glücklicher. Nichts hinterlässt eine grausamere Lücke, wenn es fehlt.
Liebe. Beziehungen. Seufz.
Der christliche Glaube – wir werden im nächsten Abschnitt auf ihn zu sprechen kommen – scheint das zu bestätigen. Als Jesus einmal nach dem Geheimnis des Lebens gefragt wird, sagt er (nach einer kurzen Kunstpause, wie ich vermute):
Es ist die Liebe. Liebe Gott, liebe deine Mitmenschen, so wie du dich selbst liebst! Damit tust du alles, worauf es im Leben ankommt. 1
Dieses erste Kapitel und damit das erste LebensMuster ist also ein sehr grundlegendes. Es steht eigentlich nicht mit den noch folgenden acht Kapiteln in einer Reihe, sondern es ist so etwas wie das Fundament des Buches. Jedes der LebensMuster, so unterschiedlich sie scheinen mögen, hat letztlich dieses zum Ziel: gesundes Menschsein. Und ein gesunder Mensch ist einer, der liebt und sich geliebt weiß, oder nicht?
Jedenfalls – wenn ich in meine LebensWelt schaue, dann ist unverkennbar, dass Liebe das große Thema ist. Ich merke das schon daran, dass mein Schreibfluss mit jeder Zeile zähfließender wird.
Was du
in zehn Sekunden liest
kostet mich hier
eine halbe Stunde!
Warum? Weil das Thema Beziehungen so bedeutsam ist, dass mir jeder meiner Gedanken billig und oberflächlich vorkommt. Was soll man sagen über ein Thema, über das derart viel geschrieben und philosophiert, komponiert und gesungen, gegrübelt und gestümpert wurde? Na ja, zumindest dieses eine:
Nichts ist wichtiger auf diesem Planeten als die Liebe.
Aber sie gestaltet sich schwieriger als gedacht.
Was die menschliche Spezies wirklich bewegt, kommt in ihren Geschichten zum Ausdruck. Und siehe da – Überraschung! –, fast jede Geschichte, ob am Lagerfeuer erzählt, in Liedern getextet oder als Drehbuch verfilmt, handelt von menschlichen Beziehungen bzw. dem Scheitern derselben. Streich das Thema Liebe aus der Kunst, und du hast nicht mehr viel zu lesen, die Kinos werden geschlossen und deine CDSammlung schrumpft auf Helge Schneider und ein paar Metal-Scheiben zusammen.
Es ist offensichtlich: In der Liebe scheint die Menschheit die Antwort auf alle Fragen des Daseins zu vermuten. Und das, obwohl wir feststellen, dass es bei der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnis einige Schwierigkeiten gibt.
In Sachen Beziehung liegen Höhenflug und Fall verstörend dicht beieinander. Bei einer Trauung ergreift uns die Romantik der Tatsache, dass hier zwei Menschen das Glück ihres Lebens gefunden haben. Doch schon beim Abendprogramm lachen wir über die beißenden Witze, die über das Joch der Ehe kursieren, und nicken wissend, wenn Woody Allen anmerkt, dass die Ehe der Versuch ist, gemeinsam Probleme zu lösen, die man alleine nicht gehabt hätte.
Nichts ist so hartnäckig mit Hoffnung und Sehnsucht aufgeladen wie die Liebe.
Und nichts scheitert mit so bedauerlicher Regelmäßigkeit wie menschliche Beziehungen.
Paulus sagt, die Liebe sei ewig. Ich hoffe, er hat einen Moment nachgedacht, bevor er diesen Satz schrieb. Denn … wer glaubt das heute noch?
Vor einiger Zeit lag die Zeitschrift Brigitte auf unserem Esstisch. Warum auch immer. Wir haben kein Abo! Jedenfalls – ich las darin einen Artikel mit dem Titel „Hauptsache nicht allein?“ Die Autorin ließ sich über die vielen unglücklichen Ehen aus, die aufrechterhalten werden, weil Menschen zu feige sind, der Wahrheit ins Auge zu schauen und sich zu trennen, wenn die Liebe erloschen ist. In der Regel nach fünf Jahren sei es nötig, das Glück in einer neuen Beziehung zu suchen. Es sei die Utopie von lebenslanger Liebe, die verhindere, dass wir glücklich werden.
Der Artikel war brillant geschrieben, schnippisch, witzig … und so furchtbar desillusioniert. „Ich halte viel davon, an die ewige Liebe zu glauben“, schrieb sie. „Wenn’s sein muss, immer wieder.“
Sollte sie Recht haben, ist die menschliche Sehnsucht nach Liebe dann die Sehnsucht nach etwas, was es nicht gibt?
Sie gestaltet sich wohl schwieriger als gedacht, die Liebe.
Und doch ist nichts wichtiger auf diesem Planeten.
Das ist nicht nur bei der sogenannten „romantischen“ Liebe so. Das betrifft unsere Beziehungen grundsätzlich.
Beziehungen bilden die Dimensionen, in denen sich unser gesamtes Leben abspielt, in denen sich unsere Identität formt oder verloren geht, in denen wir Sinn finden oder ihn schmerzlich vermissen, in denen wir Heilung erleben oder tiefe Verwundungen davontragen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen.
Ich bin zum Beispiel immer wieder verblüfft, wie viele Erwachsene, obwohl schon 40 Jahre alt, noch von Selbstzweifeln geplagt sind, nur weil sie sich mit vier oder vierzehn nicht geliebt fühlten. Manchmal bilde ich mir ein: Es geht allen so!
Immer wieder bin ich erstaunt, welche Lebenskraft anerkennende Worte in ein trauriges Menschenherz hauchen können. Mach einem Menschen ein Kompliment und du hast ihm den Tag und manchmal das Leben gerettet. Erstaunlich ist aber auch, welch selbstzerstörerische Unternehmungen Leute auf der anderen Seite in Kauf nehmen, um von der Welt geliebt zu werden und Applaus zu bekommen.
Und immer wieder kapiere ich neu: Wir Menschen wissen erst im Zusammenleben mit anderen, wer wir selber sind. Allein sein bringt uns auf Dauer um. Sollte ich – durch eine unselige Verkettung von Ereignissen – jemals in Einzelhaft kommen, werde ich wohl verstehen, warum diese Art der Unterbringung eine Strafverschärfung und keine Bevorzugung ist.
Der Mensch ist ein soziales Wesen.
Beinahe alles, was das Leben ausmacht, lässt sich in den Dimensionen von Beziehungen beschreiben. Partnerschaft und Familie sowieso. Aber auch Karriere und Arbeit haben ohne Beziehungen keinen tragenden Wert an sich. Wäre ich allein auf der Welt, hätte ich wenig Lust, ein Buch zu schreiben, ein Elektrokabel zu verlegen oder mein Haus zu streichen. Es gäbe niemanden, für den ich das tun könnte, und damit wäre es nahezu sinnlos. Und meine Freizeit? Welchen Spaß bringt ein Tennisschläger, wenn man allein ist, oder eine Briefmarkensammlung, wenn man sie niemandem zeigen kann?
Sogar die großen drei, die laut Volksmund die Welt regieren – Sex, Macht und Geld; die großen drei, die die zentralen Triebfedern des Lebens zu sein scheinen – sie würden in Vergessenheit geraten. Denn alle drei beziehen sich auf andere Menschen. Ja, auch das Geld.
Beziehungen, alles dreht sich um Beziehungen.
Nichts ist wichtiger.
Doch die Sache ist schwierig.
Wir sind zum Glück nicht allein auf diesem Planeten, doch wir Menschen kommen unterm Strich nicht gut miteinander klar. Besser gesagt, es läuft miserabel! Und wir alle wissen das.
Würde das mit der Liebe nur halbwegs zufriedenstellend laufen, wir würden diese Welt nicht wiedererkennen. Neun von zehn Psychotherapeuten müssten ihre Praxis schließen, Scheidungsanwälte würden umschulen, die Polizei würde nur noch den Verkehr regeln und im Geschichtsunterricht würden die Schüler verständnislos den Kopf schütteln, wenn man ihnen erzählte, dass es Zeiten gab, in denen Kriege die Welt zerrütteten.
Leider ist es nicht so – im Gegenteil.
Und selbst dann, wenn wir auf eine der Ausnahmen stoßen, oder gar selbst eine sind; selbst dann, wenn du auf 50 glückliche Ehejahre zurückschauen kannst; selbst dann, wenn du weißt, was das Wort Freundschaft wirklich bedeutet, weil du Freunde hast, die für dich durchs Feuer gehen würden und du für sie; selbst dann, wenn deine Kinder mit 40 sehr genau wissen, dass sie mit vier und mit vierzehn geliebt wurden – selbst dann haben Beziehungen und Liebe einen letzten Feind.
Der Tod ist das Ende aller Beziehungen.