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Dem Kollegen von der Schutzpolizei war deutlich seine Frustration anzumerken, bei diesem Wetter auf Posten stehen zu müssen. Wahrscheinlich musste er alle paar Minuten Camper zum Umdrehen bewegen, die noch schnell ihren Wagen von der Parzelle retten wollten. Gerhard zeigte ihm den Dienstausweis und der Kollege von der Straßensperre ließ uns passieren.
Die kurvenreiche Strecke war nicht angenehm zu befahren. Als wir in die Nähe des Campingplatzes kamen, ließ der Graupel etwas nach. Dadurch erhöhte sich die Sichtweite auf mindestens 50 Meter.
»Halt an«, sagte ich hastig zu Gerhard. »Schau mal nach links, da bewegt sich etwas.«
Unsere Augen benötigten einen Augenblick, um das Wohnmobil auszumachen, das kurz vor der Mündung zur Kreisstraße diagonal in einem Nebenweg festzustecken schien. Eine Person, eingehüllt in einen fledermausartigen Regenumhang, machte sich an einem der Vorderräder zu schaffen.
Gerhard parkte am Straßenrand, um die Rettungs- und Evakuierungskräfte nicht zu behindern. Bevor wir ausstiegen, schaltete er das Warnblinklicht ein. Unsere Neugier wurde sofort bestraft. Bereits mit dem ersten Schritt auf den nicht befestigten Nebenweg sanken wir knöcheltief ein. Die Situation erinnerte mich an den Schlamm im Rheingönheimer Wildschweingehege, in dem wir im Sommer einen toten Erntehelfer fanden. Die unbekannte Person im Fledermauscape war dabei, Fußmatten unter die Vorderräder zu legen, um ein Durchdrehen der Antriebsachse zu vermeiden. Sie bemerkte uns erst, als wir unmittelbar vor ihr standen. Mit der Taschenlampe, die ich aus Gerhards Dienstwagen mitgenommen hatte, leuchtete ich in das wild zuckende Gesicht von Doktor Metzger. Ausgerechnet hier musste uns dieser Notarzt über den Weg laufen.
»Was soll das?«, maulte er uns an. Seine langen feuerroten Haare fielen seitlich aus dem Regenumhang. »Nehmen Sie die Lampe weg, Sie blenden mich.«
»Guten Abend, Herr Doktor Metzger. Was machen Sie denn hier?«
Metzger schaute mich verwirrt von oben bis unten an. »Ach, Sie sind’s, Herr Palzki. Kommen Sie gerade von einem Kostümfest? Ich habe Sie noch nie in einem Anzug gesehen. Denken Sie, dass dies das richtige Outfit bei dieser Witterung ist?« Er stimmte in sein mir hinlänglich bekanntes Frankensteinlachen ein. »Was ist eigentlich da drüben los?« Er zeigte in Richtung Marx’scher Weiher, der allerdings von unserem Standort aus nicht zu sehen war. »Zuerst diese Explosionen, dann jede Menge Feuerwehr und der THW, jetzt sogar Sie. Ist mal wieder jemand über die Wupper gegangen? Ich meine natürlich über den Rhein!« Wieder dieses unmenschliche Lachen.
»Welche Explosionen?«, riefen Gerhard und ich fast synchron.
»Woher soll ich das wissen? Das ist schon fast zwei Stunden her. Erst dachte ich an ein Feuerwerk. Aber um diese Jahreszeit in dieser Gegend?«
»Was ist genau passiert?«
»Es hat halt gekracht. Mensch, Palzki, irgendetwas hat da fürchterlich geknallt. Zweimal, dreimal, keine Ahnung. Ich konnte nicht nachschauen gehen, ich hatte noch einen Kunden.«
Einen Kunden? Ich erschrak. Mit Kunden meinte Doktor Metzger üblicherweise Patienten. Ich vermutete eher Selbstmordkandidaten.
»Wo waren Sie, als Sie diese Explosionen gehört haben?«
»Na hier, in meiner mobilen Klinik. Bei dem Sauwetter gehe ich doch nicht freiwillig nach draußen.«
Ich starrte das Reisemobil an. »Wie nannten Sie das? Eine mobile Klinik?«
»Ja, ja«, nickte Metzger eifrig. »Wussten Sie nicht, dass ich hier wohne und arbeite?«
»Wie bitte? Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Sie hier Ihren Hauptwohnsitz haben und Ihre sogenannten kleinen Operationen in diesem Gefährt durchführen.«
»Doch, Herr Palzki, Sie haben es schon richtig verstanden. Ist selbstverständlich alles legal. Auch ein Gewerbe habe ich angemeldet. ›Mobile Gesundheitsberatung und Prophylaxe – Doktor Metzger‹. Die Geschäfte laufen gut. Selbst im Winter bin ich so gut wie ausgebucht. Auf dem Campingplatz gibt es immer etwas zu tun. Von kleinen Messerstechereien über Blinddarm bis zum Bypass. Das volle Programm eben.«
Ich musste unbeschreiblich dämlich aus der Wäsche geschaut haben. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie in diesem Wohnmobil als Arzt praktizieren? Dafür gibt’s doch mit Sicherheit keine Genehmigung!«
»Na ja, wie man es nimmt, Herr Palzki. Eine stationäre Arztpraxis würde hier mit Sicherheit nicht genehmigt werden. Meine mobile Gesundheitsberatung ist eine Marktlücke. Und eine Gesetzeslücke zugleich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Sie wohnen doch in Schifferstadt im Neubaugebiet. Versuchen Sie dort einmal, eine Baugenehmigung für eine kleine Holzhütte zu bekommen. Das ist fast aussichtslos. Und wenn Sie es dennoch versuchen wollen, dann müssen Sie mithilfe eines Architekten einen förmlichen Bauantrag stellen, selbstverständlich mit Statik und Pipapo. Wenn Sie auf Ihr Grundstück aber einen Bauwagen stellen und ihn als Gartenhaus nutzen, brauchen Sie nichts dergleichen, solange Sie die Räder dranlassen. Dann ist es keine Immobilie, sondern ein Fahrzeug. Genauso ist es hier. Meine mobile Gesundheitsberatung ist genehmigt. Wenn mein Reisemobil an 360 Tagen im Jahr auf meiner Parzelle des Campingplatzes steht, ist das folglich in Ordnung. Ich kann ja, wenn ich will, jederzeit wegfahren. Somit ist das durchaus gesetzeskonform.«
Das war unglaublich harter Tobak für mich. »Sie haben tatsächlich eine Erlaubnis, in Ihrem Fahrzeug Operationen durchzuführen?«
Ich bemerkte, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Metzger wandte sich und war verlegen. Schließlich antwortete er: »Ich muss zugeben, manches lege ich durchaus individuell aus. Prophylaxe bedeutet für mich auch so etwas wie Vorbeugung gegen den Tod. Daher sehe ich Operationen als legitime Prophylaxe an. Als ehemals zugelassener Arzt darf ich selbstverständlich in Notfällen operieren. Alles andere wäre ja unterlassene Hilfeleistung. Bisher ging es in den meisten Fällen übrigens gut aus.« Und wieder das eklige Lachen.
Ich konnte es nicht fassen. Während mir das eben Gehörte durch den Kopf ging, erkundigte sich mein Kollege Gerhard: »Herr Doktor Metzger, wohin sind Sie eigentlich unterwegs? Die Evakuierung betrifft nur die sich hier aufhaltenden Menschen, Wohnwagen dürfen nicht mitgenommen werden.«
»Welche Evakuierung?«, fragte der Notarzt erstaunt. »Davon ist mir nichts bekannt. Ich habe einen Termin in Speyer bei einem Stammkunden, der von einer Leiter gefallen ist. Soll nichts Dramatisches sein, aber dummerweise bin ich in das Schlammloch reingefahren. Bei jedem Hochwasser die gleiche Scheiße. Das Grundwasser drückt nach oben und alles wird matschig. Ich überlege schon länger, meine Parzelle zurückzugeben und mich woanders niederzulassen. Und da bin ich nicht der Einzige auf diesem Platz, über 700 Stellplätze sind bereits unbesetzt. Sogar ein paar Bauern aus der Umgebung wollen ihr Gelände verkaufen, Angebote haben sie schon vorliegen. Wenn Sie mich fragen, würde ich das genauso machen, jetzt, nachdem der Polder gebaut wird. Irgendwann ist das alles ein riesengroßer See.« Metzger schimpfte noch ein Weilchen weiter, bevor ihm ein anderer Gedanke kam. »Äh, Sie haben von einer Evakuierung gesprochen. Klären Sie mich mal auf. Was ist denn passiert? Hat es mit den Explosionen zu tun?«
»Das könnte gut sein«, antwortete ich. »Der Deich ist an mehreren Stellen gerissen. Im Moment läuft der Marx’sche Weiher voll und wir rechnen damit, dass danach dieser Campingplatz dran ist.«
»Scheiße!«, schrie Metzger. »Mensch, gehen Sie mal zur Seite, ich muss mit meinem Reisemobil auf die Straße.«
Das hätten wir besser sein lassen. Der Arzt setzte sich hinter das Lenkrad und gab vorsichtig Gas. Gerhard und ich betrachteten die Befreiungsversuche von einer Seite des Wohnmobils aus. Es kam, wie es kommen musste. Die Vorderräder ruckelten über die Fußmatten, um danach erneut in den schlammigen Untergrund zu rutschen. Dreckfontänen spritzten uns entgegen und sauten uns, und was noch schlimmer war, unsere Anzüge ein. Auweia, das würde Ärger mit Stefanie geben. Doktor Metzger drückte gefühllos das Gaspedal nieder, was normalerweise ein tieferes Einsinken zur Folge gehabt hätte. Er hatte Glück. Unter dem Schlamm, der zum Großteil auf uns niedergegangen war, befand sich fester Untergrund. Metzgers Wohnmobil machte einen erneuten Satz und befand sich wieder auf dem Weg. Hupend und durch das Seitenfenster winkend fuhr er davon. Zwei Päckchen Taschentücher für unsere Säuberung waren alles, was Gerhard in seinem Dienstwagen fand.
Inzwischen war der Graupel wieder in Regen übergegangen. Im Schritttempo fuhren wir weiter in Richtung Altrip. Wir waren nicht mehr allein. Einige Streifen- und Krankenwagen waren während unseres Gesprächs mit Doktor Metzger auf der Kreisstraße vorbeigefahren und kurvten jetzt wahrscheinlich auf dem weiträumigen Campingplatz herum. Ich konnte mir gut vorstellen, dass bei diesem Morast nicht alle Fahrzeuge problemlos zur Straße zurückfinden würden.
Da der lang gezogene Marx’sche Weiher nur wenige Baumreihen vom rechten Straßenrand aus entfernt lag, konnte ich sein Ende gut erkennen. Etwa 200 Meter weiter knickte rechts die Rheinauenstraße ab. Sie führte um die kurze Seite des Weihers und mündete als Rampe für kleine Boote direkt im Wasser des Altrheins. Eine schmalere Verlängerung der Rheinauenstraße bildete den Deich zwischen Altrhein und Marx’schem Weiher. Die Deichkrone war asphaltiert und ausschließlich für Fahrräder und Fußgänger zugelassen. Kurz bevor die Straße einen Knick in Richtung Altrhein machte und als Rampe endete, stand rechts das Restaurant Rheinblick. Das Gebäude wirkte wie ein zu klein geratenes Wasserschloss. Mit Ausnahme des Zufahrtsweges war es komplett von Wasser umgeben. Der Deich, der den Altrhein und den Marx’schen Weiher trennte, ragte nach meiner Schätzung höchstens 1,50 Meter aus dem Wasser heraus. Gerhard fuhr auf den Rheinblick-Zufahrtsweg und parkte.
»Pass auf, wo du hintrittst«, warnte mich mein Kollege beim Aussteigen. »Hier gibt’s zwar keinen Matsch wie drüben bei Metzger, dafür aber sehr tiefes Wasser.«
In der Tat war neben der Deichstraße nur ein kleiner Teil der Böschung zu sehen, der Rest war Land unter. Wir liefen die Deichkrone entlang. Schemenhaft konnten wir in einiger Entfernung einen mobilen Kran ausmachen, an dessen Ausleger starke Strahler befestigt waren. Den dazu benötigten Dieselgenerator konnten wir deutlich hören. Einen Bagger, dessen Silhouette etwas seltsam auf uns wirkte, konnten wir ebenfalls ausmachen. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass er mehr als zur Hälfte im Weiher versunken war. Untätig standen ein paar Männer an der 15 Meter breiten Deichbruchstelle herum. Ich zeigte meinen Ausweis. Nachdem er unsere Kleidung kritisch gemustert hatte, stellte sich einer der Herren als Franz Mangold vor.
»Haben Sie keine Schutzkleidung? Wir sind hier nicht im Büro!«, ereiferte er sich.
Ohne ihm darauf eine direkte Antwort zu geben, bat ich ihn, mir die Situation zu beschreiben.
Er deutete mit seiner Hand auf die starke Strömung, die in Richtung Marx’scher Weiher verlief. »Als wir hier ankamen, war der Bruch nur halb so breit. Die Strömung ist so stark, dass ständig weiteres Material des Deiches abgeschwemmt wird. Mit dem Bagger wollten wir eine kleine Barriere aufstellen, doch den hat’s sofort in die Fluten gerissen. Der Baggerführer konnte sich gerade noch retten.«
»Und was haben Sie als Nächstes vor?«, fragte ich wissbegierig.
»Solange es regnet und das Pegelniveau zwischen Altrhein und Weiher unterschiedlich ist, können wir nicht viel machen. Bis morgen Abend wird das bestimmt noch andauern. Dann müssen wir mit Lkws neues Deichmaterial anschaffen. Und das auf diesem kleinen asphaltierten Radweg. Können Sie sich vorstellen, wie lange das dauert? Jeder Lkw muss rückwärts über die Deichkrone fahren und dann abladen. Einer nach dem anderen. Überholen geht ja nicht.«
»Wie sieht’s an den anderen Bruchstellen aus? Es sollen insgesamt drei sein.«
»Ähnliches Bild. Den mittleren Bruch hat die Wasserschutzpolizei unter Aufsicht. Die kurvt da draußen mit ihrem Boot herum. Diese Stelle können wir erst reparieren, wenn die beiden äußeren wieder okay sind. Das wird wahrscheinlich Mitte nächster Woche sein.«
»So lange?«, fragte ich erstaunt.
»Sie haben ja keine Ahnung. Es reicht nicht, ein paar Tonnen Sand hinzukippen. Die würden sofort wieder wegschwemmt werden. Das Zeug muss verdichtet werden. Versuchen Sie mal, nassen Sand zu verdichten.«
»Wir haben eine Meldung bekommen, dass es vor zwei Stunden ein paar Explosionen gab. Wissen Sie davon?«
»Nur vom Hörensagen«, antwortete Herr Mangold. »Es muss aber nicht zwangsläufig hier geknallt haben. Der Camper, der uns das mitteilte, war ziemlich betrunken.«
»Können Sie uns etwas zu den Ursachen des Deichbruchs sagen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, so etwas wie hier habe ich noch nie erlebt. An drei Stellen gleichzeitig und das bei der Hochwassermarke 1. Vielleicht liegt ein Konstruktionsfehler vor, wer weiß?«
»Kann der Deich auch gesprengt worden sein?«
»Das würde ich verneinen. Warum sollte das jemand tun? Terroristisch lohnende Ziele gibt’s hier nicht. Ferner bräuchte man da schon eine Menge Sprengstoff und an so etwas ist nicht leicht ranzukommen. Das müsste eigentlich auch jemand gesehen haben. Es reicht schließlich nicht, den Sprengstoff auf den Deich zu legen. Da müssen Bohrungen gemacht werden, um das Zeug möglichst tief zu versenken. Sonst spritzt nur ein bisschen Sand in der Gegend herum. Aber wenn Sie möchten, können wir gerne einen Sprengstoffspürhund anfordern.«
Ich bat ihn, das möglichst bald zu tun. »Was meinen Sie, werden die Campingplätze hinter der Kreisstraße etwas abbekommen?«
Mangold starrte mich an. »Sie wollen von der Kripo sein? Dann sollten Sie wissen, dass die Evakuierung bereits auf vollen Touren läuft. Es ist nur eine Frage der nächsten Stunden, bis die Straße unter dem plötzlichen und ungeheuren Druck bricht. Wenn sich dann drüben noch jemand aufhält, hat er keine Chance mehr. Die Strömung wird alles mitreißen. Und am Deichbruch werden wir es auch spüren. Bevor nicht alles Land unter ist, brauchen wir mit der Reparatur nicht anzufangen. Das überflutete Gebiet wird annähernd die Größe des geplanten Polders haben.«
Ja, der Polder, dachte ich. Nordwestlich, direkt angrenzend an diese Campingplatzanlage und in direkter Nachbarschaft zu Altrip, wird ein 300 Hektar großes Überlaufbecken mit neun Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen als Teil des rheinland-pfälzischen Hochwasserschutzkonzeptes gebaut. Die Bürger der umliegenden Gemeinden gingen seit Jahren auf die Barrikaden, hatten aber schlussendlich vor Gericht den Kürzeren gezogen. Gemeint war wohl: Gemeinwohl geht vor Gemeindewohl.
3. Ein teures Angebot
Wir verabschiedeten uns von Herrn Mangold und gingen, verschmutzt und durchnässt, wie wir waren, zurück zum Auto. Als wir die Kreisstraße erreicht hatten, sahen wir jede Menge Rettungsfahrzeuge, Streifenwagen und sogar einen Wasserwerfer parken. Als ob es hier nicht genügend Wasser gäbe. Entlang der Straße zum Marx’schen Weiher war alle 50 Meter ein Polizeibeamter postiert, der Zustand der Straße wurde anscheinend ständig beobachtet. In angemessenem Tempo fuhren wir zur Dienststelle zurück.
Jutta fand ich in ihrem Büro. Sie wirkte immer noch so frisch, als käme sie gerade aus der Dusche.
»Ich habe mich etwas zurückgezogen«, erklärte sie mir, nachdem sie einen skeptischen Blick auf meine Kleidung geworfen hatte. »Oben im Sozialraum geht es hoch her. Seit die Funkanlagen installiert sind, ist der Geräuschpegel explodiert. Im Moment scheint alles unter Kontrolle. Ein paar Camper machten Ärger und mussten in die Sommerfesthalle zwangsumgesiedelt werden. Die Helden haben Versteckspielen geübt, doch unsere Hunde haben gewonnen.« Sie lächelte. »Wie ist es euch ergangen?«
Bevor ich antworten konnte, kam Gerhard zur Tür herein. Freudestrahlend hielt er eine Kanne Kaffee in der Hand. »Ich habe uns mal schnell einen kleinen Koffeinschocker gebraut. Als Ersatz für die Weihnachtsfeier. Äh, Reiner, sei bitte etwas vorsichtig, er ist mir unter Umständen ein klein wenig stark geraten.«
Ups, diese ungewohnten Worte aus dem Mund meines Kollegen? Da war es vor dem Hintergrund meiner erhofften Lebenserwartung bestimmt sicherer, den Sekundentod dankend abzulehnen. Jutta schenkte sich und Gerhard ein und beide tranken das zähflüssige Schwarz mit Genuss. Ich überlegte, ob ich mir an unserem Kaltgetränkeautomaten eine Cola ziehen sollte. Doch wie ich mein Glück kannte, würde aus dem von Kollegen manipulierten Automaten bestimmt wieder eine dieser eklig schmeckenden Diätlimonaden poltern.
»Die Lage am Deichbruch ist sehr brisant«, erklärte ich Jutta und beschrieb ihr das gerade Erlebte.
Sie nickte eifrig. »Den Sprengstoffspürhund hat dieser Mangold bereits angefordert. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Die Evakuierung wird wahrscheinlich in dieser Nacht abgeschlossen sein. Was dann passiert, sehen wir morgen früh. Eventuell muss das überflutete Gebiet abgeriegelt werden, um Plünderer abzuhalten. Aber das soll nicht unser Problem sein. Dazu reicht die Schutzpolizei. Theoretisch könntet ihr zwei somit ins Wochenende gehen. Praktisch würde ich mir wünschen, dass ihr morgen früh nochmals reinkommt. Man weiß ja nie, was heute Nacht alles passiert.«
»Du willst uns jetzt heimschicken?«
»Ihr könnt auch gerne dableiben und den Funkverkehr mit anhören. Ob euch das etwas bringt? Zu Hause freuen sich eure Partner auf euch. Na los, auf was wartet ihr noch?«
»Was macht eigentlich KPD? Ist der wieder aufgetaucht?«, wollte ich zum Schluss noch wissen.
»Ja, der war kurz hier. Ich habe gesehen, wie er ein paar Gitterboxen voll Esswaren in sein Büro geschleppt hat. Morgen früh will er zusammen mit dem Landrat eine Pressekonferenz abhalten. Dabei weiß er am wenigsten von allen.«
Wir verabschiedeten uns von Jutta, und Gerhard fuhr mich heim.
*
Stefanie öffnete auf mein Klingeln die Tür. Ich hatte ihr vor meinem abendlichen Einsatz meinen Schlüssel gegeben. Entsetzt starrte sie mich an.
»Um Himmels willen! Wie siehst du denn aus? Ist mit dir alles in Ordnung?«
Ich nickte und versuchte krampfhaft zu lächeln.
»Ziehe deine Klamotten am besten gleich hier im Flur aus, dann versaust du nicht die Wohnung. Und hinterher gehst du sofort unter die Dusche. Wo hast du übrigens deine Krawatte?«
Ich zog den langen und zerknäulten Stofflappen aus meiner Jackentasche und gab ihn meiner Frau.
Sie unterließ jeden Kommentar, anscheinend war sie froh, dass ich heil heimgekommen war. Während ich duschte, machte sie mir ein paar Käsebrote. Ja, es war Vollkornbrot und verklebte meinen Gaumen. Ich erzählte ihr von dem Deichbruch und dass Gerhard und ich Doktor Metzger getroffen haben.
Nach dem Essen freute ich mich auf mein Bett. Doch das musste warten. Stefanie winkte mit einer Flasche Massageöl. Ich tat meine Pflicht als Ehemann und werdender Vater und vergaß selbstverständlich nicht, den leichten Bauchansatz zu massieren. Nein, nicht meinen – den von Stefanie. Der Rest des Abends wird unbeschrieben bleiben.
*
Meine Frau hatte Verständnis dafür, dass ich am nächsten Morgen wegen des Deichbruchs zur Inspektion musste. Es war zwar Samstag, aber immerhin war abzusehen, dass die Besprechung nicht sehr lange dauern würde. Danach wollte ich mit meinem ungeborenen Kind und der wunderschönen Frau, die ihm für neun Monate Obdach gewährte, nach Ludwigshafen zum Weihnachtsmarkt fahren.
Aus der Leitzentrale, die bis gestern unser Sozialraum war, drang nach wie vor babylonisches Stimmenwirrwarr durchs Gebäude. Anscheinend gab es noch viel zu tun.
Jutta sah nicht mehr so gut aus wie vor ein paar Stunden, sie musste die Nacht durchgearbeitet haben. Sie gähnte herzhaft mit weit geöffnetem Mund, als ich ihr Büro betrat.
»Entschuldige, Reiner. Guten Morgen erstmal.«
Jetzt sah ich auch Gerhard, der bereits am Besprechungstisch saß. Vor ihm stand eine Magnumtasse Sekundentod. Mein Kollege sah ebenfalls nicht gerade erholt aus.
»Guten Morgen, ihr beiden. Alles klar mit dir, Jutta?«
Sie gähnte erneut und sah mich mit großen Augen an. »Zwei Stunden konnte ich an meinem Schreibtisch ein kleines Schläfchen halten, mehr war nicht drin.«
Ich wunderte mich, wie man nach dem Genuss von Sekundentod überhaupt schlafen konnte.
»Waren die Camper so hartnäckig? Ist die Anlage evakuiert?«
»Zweimal ja. Fast ein Dutzend mussten wir vorläufig festnehmen, weil sie randaliert haben. Man hätte meinen können, es ginge um Leben und Tod. Dabei waren es nur ihre Campingwagen, die sie retten wollten. Na ja, reden wir von etwas Unerfreulicherem. Gerhard weiß es schon.« Ihre Mundwinkel fielen nach unten, mein Lieblingskollege saß regungslos da.
»Lass mich raten. Die Kreisstraße hat’s erwischt.«
Die zwei schauten mich an, als hätte ich einen Scherz gemacht.
»Dies zu erraten ist kein großes Kunststück«, meinte Jutta ironisch. »Kurz vor 4 Uhr ist das erste Wasser übergeschwappt. Die Campingplatzanlage ist gegenwärtig ziemlich feucht und das Wasser steigt und steigt. Altrip ist nur noch von Rheingönheim aus zu erreichen.«
Gerhard schaute trübsinnig in seine fast leere Tasse.
Jutta berichtete weiter. »Der Campingplatz ist aber nicht unser aktuelles Problem. Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass dem Deichbruch nachgeholfen wurde und das fällt eindeutig in unser Resort.«
»Die Explosionen?«, fiel ich ihr ins Wort.
Sie nickte. »Heute Nacht kam ein E-Mail rein. Hier ist eine Kopie. Wir gehen davon aus, dass es authentisch ist.« Sie überreichte mir ein Blatt Papier.
›Das War Erst Der Anfang. Wenn Unser Angebot Nicht Angenommen Wird, Löschen Wir Ludwigshafen Und Mannheim Aus. Das Angebot Befindet Sich Am Ortsschild Von Altrip.‹
Entsetzt las ich den Text. »Ist das wirklich ernst zu nehmen? Kann man die Herkunft feststellen?«
»Das ist freilich sehr ernst zu nehmen. Das Herausfinden des Absenders dürfte nicht einfach werden. Das E-Mail wurde über eine anonymisierte Verbindung und dazu noch über einen koreanischen Server verschickt. Wir haben das selbstredend sofort an das Landeskriminalamt weitergegeben. Doch die sind desgleichen sehr skeptisch, was die Recherche nach dem Urheber angeht.«
Ich ging das E-Mail erneut durch. »Das liest sich wie ein schlechter ›Tatort‹. Wie kommst du darauf, dass der Text echt sein soll?«
»Ganz einfach, mein lieber Reiner. Wir haben das sogenannte Angebot gefunden, so viele Altriper Ortsschilder gibt es nicht. Und der Inhalt lässt keinen Zweifel daran, dass er von den Terroristen stammt, die den Deich gesprengt haben.«
»Terroristen? Hier bei uns in der Vorderpfalz?« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Wir sind nicht in Berlin, Jutta.«
»Du wirst es gleich begreifen. Das Motiv bleibt allerdings im Dunkeln. Diese Terroristen wollen 50 Millionen Euro haben. Ansonsten werden sie noch größeren Schaden in der Region anrichten. Die Sprengung gestern Abend soll nur eine kleine Kostprobe gewesen sein.«
»Eine kleine Kostprobe? Die haben an drei Stellen den Deich weggesprengt und das Leben vieler Menschen aufs Spiel gesetzt!«
»Genau!«, antwortete Jutta. »Die haben den Deich gesprengt und das ohne Probleme und ohne Zeugen. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Gruppe ein mächtiges Gefährdungspotenzial darstellt. Das Geld soll bereits heute Nachmittag übergeben werden, wir haben folglich einen ziemlichen Zeitdruck. Die Details zur Übergabe liegen vor. Das Original des Erpresserschreibens wird zur Stunde im LKA untersucht. Eines steht bereits fest: Die ausgeschnittenen Buchstaben des Briefes stammen aus dem ›Trierischen Volksfreund‹, insbesondere aus einem aktuellen Artikel über die Verschwendungssucht beim Nürburgringprojekt.«
Sekundentod hin, Sekundentod her. Jetzt war ich soweit, mir eine Tasse einzuschenken. Glücklicherweise stand ein Beutel Milch auf dem Besprechungstisch.
»Okay, dann kriegen wir sie halt bei der Geldübergabe. Meines Wissens hat noch nie ein Erpresser eine todsichere Möglichkeit für eine Geldübergabe gefunden.«
»Da wäre ich mir für die Zukunft nicht so sicher«, mischte sich Gerhard ein. »Die wollen, dass die 50 Millionen Euro in eine Metallkiste gesteckt und an einem Hubschrauber befestigt werden. Der Hubschrauber muss auf einer bestimmten Frequenz ständig seine Position durchgeben und der Pilot erhält auf einer anderen Frequenz seine Instruktionen. Auf ein bestimmtes Kommando hin soll die Kiste dann abgeworfen werden.«






