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Und dann geschah ein wahres Wunder: Der Erste, der am nächsten Morgen an unsere Wohnungstür klopfte, war unser Rudi. Er war inzwischen ca. fünf Zentimeter größer geworden und als ein stattlicher Mann von 18 Jahren aus einer englischen Dienstgruppeneinheit in Pinneberg in britischer Uniform zu unseren nach Oberbayern ausgesiedelten Verwandten geflohen. Dort hatte er bei einem Großbauern gearbeitet, unsere neue Adresse erfahren und war dann über die grüne Grenze nach Dömitz gelangt, wo er von einigen Russen sogar in militärischer Weise begrüßt worden war. Sie hatten ihn in seiner Uniform für einen Verbündeten gehalten. Wir waren überglücklich.
Leider fehlte noch unser Vater. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes hatten wir jedoch erfahren, dass er lebte und sich in französischer Kriegsgefangenschaft im Südwesten Frankreichs in Lot-et-Garonne befand. Die Franzosen und die Briten behandelten ihre deutschen Kriegsgefangenen offenbar im Allgemeinen besser als die anderen Alliierten, so war zu hören. Somit hofften wir, dass wir bald wieder alle vereint sein würden. Doch bis dahin vergingen besonders für meine Mutter noch sehr lange achtzehn Monate, während meine Schwester Gerti (sieben Jahre) ihren Vater nicht mehr kannte und ihn daher auch nicht vermisste. Mir fehlte er schon, denn ich hatte ihn und seine interessanten Geschichten, wie den „Schinderhannes“, in allerbester Erinnerung. Als ein echtes Rodisforter Urgestein konnte er sehr gut mit jungen Menschen umgehen und war auch in seinem späteren Leben stets von Kindern umgeben. Einige meiner späteren Mitschüler mochten ihn sehr, schätzten seine Gegenwart und seine unterhaltsamen Gespräche.
Rudi fand eine Arbeit als Zivilangestellter bei den sowjetischen Truppen in Dömitz und sorgte mit seinen neuen Mecklenburger Freunden dafür, dass wir genügend zu essen hatten. Zeitweise schmuggelte er Alkolat, ein stark alkoholhaltiges Getränk, auf den Schwarzmarkt nach Hamburg und brachte uns von dort gelbes Maisbrot mit, welches krümelig war und leicht zerfiel, aber sehr gut schmeckte. 1947 oder 1948 wurde in Dömitz jedoch der Torwart Klatt als erster illegaler Grenzgänger von den Russen auf der Elbe erschossen, sodass der Schmuggel am Grenzfluss zur englischen Zone sehr gefährlich wurde und allmählich unterblieb.
Die Familie 1945-1949
Im April 1945 kam Vater nach einem erneuten Genesungsurlaub nach abgeklungener Furunkulose am Rücken an die Westfront und wurde in Weiden von den Amerikanern gefangen genommen. In der Nähe von Bad Kreuznach wurde er auf den Rheinwiesen interniert, einem damals berüchtigten Kriegsgefangenenlager, erhielt von den US-Truppen fast nichts zu essen und wog schließlich nur noch 42 kg. Sein übliches Gewicht hatte 75 kg betragen. Viele seiner Kameraden waren an Typhus, Ruhr und extremer Unterernährung erkrankt und starben. Zum Glück wurde er bald von den Franzosen übernommen, kam zu einem südfranzösischen Weinbauern und erholte sich prächtig. Offenbar war er dort sehr beliebt, denn im Jahre 1948, kurz nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, bekamen wir Formulare für eine Einreise und Umsiedlung nach Frankreich übersandt. Sein Patron schätzte ihn sehr und wollte unsere ganze Familie nach Frankreich holen, sodass wir dem Hunger in der Sowjetischen Besatzungszone hätten entkommen können. Wir wollten aber nicht in ein fremdes Land, denn die erst kurz zurückliegende Fremdherrschaft in der Nachkriegs-Tschechoslowakei hatten wir nicht in allerbester Erinnerung behalten und uns in Dömitz schon ganz gut eingelebt.
Mutter war im Krieg fast regelmäßig in die Rodisforter Kirche gegangen und hatte ihren auch in Dömitz fortgesetzten Kirchgang erst beendet, als Vater im April 1948 aus Frankreich nach Dömitz entlassen worden war. Dort trat er sofort der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei, der die Mutter bereits seit Ende 1946 angehört hatte, und glaubte an eine sehr gute Zukunft aller arbeitenden Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone, aus der am 7. Oktober 1949 nach vorheriger Gründung der Bundesrepublik der zweite deutsche Nachkriegsstaat, die DDR, entstand, in der es künftig keinerlei Ausbeutung durch Kapitalisten und Großgrundbesitzer mehr geben sollte. Er hoffte, dass dieser neue Staat als sinnvolle deutsche Nachkriegsalternative eine positive Ausstrahlung auch auf die Werktätigen in der Bundesrepublik haben würde und sich die dortigen Arbeiter aufgrund der Vorbildwirkung der neuen Republik eines Tages ebenfalls für einen ähnlichen Weg frei entscheiden würden, sodass in Zukunft ein neues, blühendes und besseres Gesamtdeutschland entstehen könnte.
Es herrschte nach dem verlorenen Krieg auch im Osten eine allgemeine Aufbruchstimmung. Schließlich glaubten wir wie viele andere auch an eine, wenn auch zunächst imaginäre, bessere Zukunft, für die es sich zu lernen und arbeiten lohnte. Vater vermutete, dass er viele seiner Ideale in dem neuen Staat verwirklichen könnte. Er freute sich darüber, dass mein Bruder Rudi an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Rostock, die damals noch „Vorstudienanstalt“ hieß, das Abitur erwarb und sich auf ein Studium an einer Hochschule oder Universität vorbereiten konnte, ein unentgeltliches, nicht rückzahlungspflichtiges monatliches Stipendium erhielt und gute Leistungen erzielte. Auch ich konnte in Dömitz ab 1949 die örtliche Oberschule besuchen und bekam als Arbeiterkind sogar eine finanzielle monatliche Beihilfe in Höhe von 35 bis 45 Mark, die ich durch Einnahmen beim wöchentlich zweimaligen Aufstellen von Kegeln der Kegelbahn des Köhn´schen Gesellschaftshauses regelmäßig aufstockte und selbstverständlich in voller Höhe zu Hause abgab. Meine Schwester Gerti musste sich an Vater, an den sie sich überhaupt nicht erinnern konnte, erst wieder gewöhnen. Auch sie wies in der Grundschule gute Leistungen auf, durfte aber nach Vaters Rückkehr am katholischen Religionsunterricht nicht mehr teilnehmen. Religion war für ihn, wie es vermutlich Karl Marx einst formuliert hatte, nichts anderes als „Opium für das Volk“. An ein Weiterleben nach dem Tode glaubte er nicht. Wenn es einen echten, guten Gott gäbe, wie hätte er dann die Schrecken und unsagbaren Verbrechen des letzten Krieges zulassen können?
Ich las in der Oberschule ein Buch des sowjetischen Wissenschaftlers A. I. Oparin über „Die Entstehung des Lebens auf der Erde“ und hatte zu dieser Zeit ernsthafte Zweifel an der Schöpfungsgeschichte des Menschen aus dem 1. Buch Mose des Alten Testaments. Dennoch konnte ich mich trotz einiger Bedenken niemals entschließen, aus der katholischen Kirche auszutreten. Vater war mir gegenüber tolerant und verlangte auch niemals einen entsprechenden Schritt.
Bald erkannte er, dass es auch in dem neuen Staat Ungerechtigkeiten gab und sich nicht alles so entwickelte, wie er es ursprünglich gerne gewollt hatte. Doch im Vergleich mit der BRD schnitt die DDR nach seiner Ansicht deutlich besser ab, wenn wir auch im Osten durch hohe Reparationsleistungen an die Sowjetunion gegenüber dem Westen Deutschlands ökonomisch arg benachteiligt waren, sodass viele Menschen den neuen Staat bald in Richtung Westen verließen. Er sah ein, dass wir als ein deutscher Teilstaat zu einer Wiedergutmachung besonders gegen Polen und die Sowjetunion verpflichtet waren, hatte er doch die schweren Schäden, welche die Wehrmacht besonders der polnischen und russischen Bevölkerung zugefügt hatte, im Krieg selbst erlebt.
Mir missfiel sehr, dass aus Dömitz und Umgebung zahlreiche völlig unbescholtene Familien im Rahmen der Aktion „Ungeziefer“1 aus dem Sperrgebiet der Zonengrenze nach Zentralmecklenburg ausgewiesen wurden, wie die Familie meines Freundes Peter Nimptsch. Ich meinte, dass man so nicht mit der eigenen Bevölkerung umspringen kann, und entwickelte meine ersten Bedenken, die sich später bis zu einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber den neuen SED-Machthabern steigerten, die jegliche Kritik brutal unterdrückten und stets nach dem Prinzip handelten: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Damit waren auch für mich bestimmte Schwierigkeiten in meinem künftigen Leben vorauszusehen.
1 Die Aktion „Ungeziefer“ war die erste Zwangsaussiedlung von Personen, die im fünf Kilometer breiten Sperrgebiet an der Westgrenze der DDR lebten. Aus Dömitz wurden Anfang Juni 1952 offenbar 37 „unsichere Elemente“ in den Kreis Güstrow deportiert. In der gesamten DDR wurden lt. Bennewitz und Potratz (Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze) 8.369 Personen gegen ihren Willen in das Innere der Republik umgesiedelt.
Schulzeit in Dömitz
1946 wurde ich in die Dömitzer Einheitsschule aufgenommen. Meine Mutter konnte nicht erreichen, dass ich in die siebente Klasse kam, denn die tschechische Schule in Radošov, wie Rodisfort nach dem Kriegsende hieß, hatte den wenigen deutschen Schülern mit antifaschistischer Herkunft keine Zeugnisse ausgestellt. Somit konnte ich keinen gültigen Beleg für den Besuch der sechsten Klasse vorweisen.
Vom Inhalt her war der Unterricht in der Nachkriegstschechei keinesfalls schlechter als in Dömitz. Da die Dömitzer Lehrer den Unterricht in einer fremden Sprache dem Deutschen als nicht gleichwertig erachteten, musste ich die sechste Klasse – jetzt in der Roggenfelder Straße – ein zweites Mal besuchen, nun in meiner Muttersprache, ohne dass ich zuvor sitzengeblieben war.
Die Mitschüler und die Klassenlehrerin, Frau Griem, nahmen mich freundlich auf, ich fühlte mich sofort wie zu Hause. Der überwiegende Teil der Schüler war ebenfalls aus der Heimat vertrieben worden und stammte entweder aus Pommern, Ost- oder Westpreußen oder auch aus dem Wartheland. Aus dem Sudetenland war ich zunächst allein. Wir hatten jetzt neben Englisch auch Russisch, ein Fach, das damals unter den meisten Schülern nicht sonderlich beliebt war. Arbeiterkinder wurden gegenüber Kindern mit bürgerlicher Herkunft weder bevorzugt noch benachteiligt.
Das Schulklima kann als durchaus harmonisch bezeichnet werden. Meine neuen Freunde wurden neben dem Schlesier Peter Nimptsch die Mecklenburger Orchi Schulz, ein Kaufmannssohn, und Fritz Henning, der ebenfalls eine kleinbürgerliche Herkunft aufwies und sehr belesen war. Mit ihnen hatten wir 1947 eines Nachts mit Ölfarbe das Wort „Hunger“ an die Mauer rechts neben einem Milchgeschäft in der Nähe der Apotheke geschrieben, welches nicht übertüncht wurde und noch lange erkennbar war. Beide Freunde waren fast täglich in meinem Elternhaus zu Gast, in dem allerdings oft die tägliche Diskussion von meinem Vater auf die aktuelle Tagespolitik gelenkt wurde. Auch mit den Mitschülerinnen Miken Stolle, Dödi Götting und Lotti Saß verstand ich mich gut. Wir wirkten nach Unterrichtsschluss in einer vom Dömitzer Werner Timm gegründeten Laienspielgruppe mit und wurden mit dem zeitkritischen Stück „Die Dachluke“ sogar als Kreis- und Landesmeister und schließlich 1949 als Ostzonenmeister anlässlich des III. Parlaments der FDJ in Leipzig ausgezeichnet. Werner Timm setzte es durch, dass wir einmal in Zinnowitz an der Ostsee einen kostenlosen prächtigen Ferienaufenthalt verbringen konnten, wodurch unser Zusammengehörigkeitsgefühl erheblich gestärkt wurde. So war die Grundschule in einer von Enthusiasmus und Harmonie geprägten Zeit 1949 für mich in Dömitz zu Ende gegangen. Im Februar 1949 war ich freiwillig der FDJ beigetreten, die damals noch eine überparteiliche Organisation zu sein schien und Ähnlichkeiten mit dem sowjetischen Komsomol nicht erkennen ließ.
Verlobungsanzug zur Jugendweihe
Die Motive meiner Teilnahme an der Jugendweihe waren weder edel noch hehr – Grund war der Wunsch nach einem Anzug für meinen Bruder, der sich verloben wollte. Außer zwei englischen Uniformen aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft besaß er keinerlei dafür brauchbare Oberbekleidung.
Zur Konfirmation erhielt damals jeder Teilnehmer in Dömitz einen Bezugsschein für einen Anzug. Für mich als katholisches Flüchtlingskind kam so eine Unterstützung nicht infrage, da für das gleiche Alter eine analoge katholische Feier nicht anstand und meine Mutter trotz intensiver Bemühungen keinen entsprechenden Bezugsschein für mich erhalten konnte.
Folglich beschloss der Familienrat, dass ich mich an der im März stattfindenden Jugendweihe mit kurzer Hose zu beteiligen hätte, damit die Stadtoberen an meiner frostigen Reaktion erkennen sollten, dass ich ebenfalls dringend einen Anzug benötigte. Die Rechnung ging auf, denn meine Mutter erhielt nach meiner Teilnahme prompt die Berechtigung für den Bezug eines Anzuges. Mein Bruder konnte sich einen neuen Zellwollanzug kaufen und ich hatte meine Schuldigkeit getan. Als Gegenleistung erhielt ich seine beiden warmen britischen Militäruniformen aus reiner englischer Wolle, die mir bis in die neunte Klasse wertvolle Dienste leisteten. Damit hatte sich die Jugendweihe für unsere Familie als wertvolle Bereicherung erwiesen.
Wie verlief die Jugendweihe 1948? Wir waren fünf männliche Teilnehmer unter vermutlich 130 Gleichaltrigen aus Dömitz und der näheren Umgebung. Eine Vorbereitung auf diese Feierstunde gab es nicht. Die anderen Beteiligten aus den nahe gelegenen Dörfern waren mir unbekannt. In der Schule wurde über das Ereignis nicht gesprochen. Es gab einen kleinen Dömitzer Chor und einen Festredner, der eine gute und völlig unpolitische atheistische Rede hielt, in der die künftige und offenbar bald erwartete Einheit Deutschlands viel Raum erhielt, das Wort „Sozialismus“ aber nicht vorkam. Die Organisation lag in den Händen der Ortsgruppe der Dömitzer SED, die vom Genossen Konrad Meier geleitet wurde. Jeder Teilnehmer erhielt ein Buch und einen Spruch, der für das künftige Leben von Bedeutung sein sollte. Mein Buchtitel lautete: „1933-1945. Wie konnte es geschehen?“ Auf dem Titelbild befand sich eine mitteleuropäische Landkarte mit Deutschland im Zentrum. Markierungen zeigten es in den Grenzen von 1937.
Der Autor war Max Fechner (1897-1973), ein bekannter sozialdemokratischer Politiker, der als späterer SED-Funktionär von Oktober 1949 bis Juli 1953 der erste Justizminister der DDR war. Er verteidigte nach dem 17. Juni 1953 im „Neuen Deutschland“ das Streikrecht der Arbeiter und wurde als „Feind des Staates und der Partei“ verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Drei Jahre später wurde er rehabilitiert, bekam aber keine vergleichbare Funktion mehr.
Mein Spruch lautete: „Die Zeit braucht Deine Hände, halte Dich nicht fern.“ Dabei handelte es sich um ein Zitat des Berliner Arbeiterdichters Walter Dehmel (1903-1960). Nach der Feier, die ca. 90 Minuten dauerte, war die Festlichkeit zu Ende.
Wahl zum FDJ-Sekretär
Es war vermutlich im Sommer 1950, als ich von den Mitgliedern der FDJ nach der Funktionsaufgabe meiner Vorgängerin Ellen Schwenke mit vielen Gegenstimmen, aber der Stimmenmehrheit der Anwesenden in freier Wahl zum FDJ-Sekretär der Zentralen Oberschulgruppe gewählt wurde. Ich wurde erst auf der Versammlung – zu meiner eigenen großen Überraschung – als Kandidat nominiert und war mit Sicherheit nicht der Wunschkandidat der SED. Die anderen Kandidaten hatten noch mehr Gegenstimmen als ich, sodass ich – quasi in Form einer Kampfabstimmung – völlig demokratisch in die Funktion des FDJ-Sekretärs gelangt war.
Als solcher gehörte es zu meinen Pflichten, auch am Abitur des Jahrgangs 1951, der nur elf Schüler umfasste, teilzunehmen und eine gesellschaftspolitische Beurteilung für jeden Abiturienten zu erstellen. Mein Deutsch- und Lateinlehrer, Hermann Harras, bot sich an, diese für mich, der die Schüler der zwölften Klasse kaum kannte, zu verfassen. Als damaliger Klassenlehrer des Abiturientenjahrgangs fertigte er die gesamten Einschätzungen persönlich an, ich brauchte sie nur noch zu unterschreiben. So konnte er gewährleisten, dass jeder Abgänger seiner Klasse eine gute gesellschaftspolitische Beurteilung erhielt und aus dieser Sicht keine Schwierigkeiten bei der Aufnahme des Studiums bekommen würde. Gerne war ich auf sein Angebot eingegangen, von dem niemand etwas erfahren durfte und erfuhr.
Von den Mitgliedern der FDJ-Kreisleitung in Ludwigslust wurde ich permanent bedrängt, Oberschüler für den Dienst in der bewaffneten Streitmacht der DDR zu gewinnen, die sich damals noch „Deutsche Volkspolizei“ nannte. Es gelang mir jedoch nicht, auch nur einen einzigen Schulkollegen für den Dienst in der „Volkspolizei“ zu werben. Um selbst aber in den Augen der Schulkameraden nicht unglaubhaft dazustehen, blieb mir der eigene Eintritt in die bewaffneten Kräfte der DDR nicht erspart. Ähnlich erging es damals auch anderen FDJ-Sekretären.
Mitglieder der SED gab es in der Dömitzer Oberschule damals nicht. Rudi Koszorek, der in der SED-Kreisleitung Ludwigslust tätig war, hatte mich mit Fritz Henning zum Anhören einer stundenlangen Radiosendung – der Debatte des Deutschen Bundestages – in seine Wohnung in die Dömitzer Walther-Rathenau-Straße eingeladen. Dr. Konrad Adenauer hielt eine lange eindrucksvolle Rede. Offenbar wollte Rudi Koszorek als „Weichensteller“ meine politischen Ansichten und den Grad meines „Klassenbewusstseins“ erkunden. Ich hörte mir die Sendung an und sagte – nichts.
Sicher war ich für die Genossen der SED eher eine arge Enttäuschung. Das geht auch daraus hervor, dass ich – obwohl frei gewählt – auf Drängen höherer Stellen möglicherweise sogar abgesetzt werden sollte, was mir erst jetzt aus einer Broschüre von Dr. Karl-Heinz Ebel (Schwerin) über die Nachkriegszeit in Dömitz bekannt wurde. Denn er als ein früherer, zu Unrecht abgelöster Vorgänger in meiner Funktion wurde von einem mir nicht bekannten Vertreter des damaligen Landesvorstands in der Zeit meiner Wahlperiode gebeten, die Geschäfte der FDJ-Oberschulgruppe doch wieder zu übernehmen, um deren Moral zu stärken und „die Karre aus dem Dreck zu ziehen“. Mir selbst sind damals allerdings keine Anzeichen irgendwelcher Unzufriedenheit des Kreis- oder Landesvorstands an meiner Leitung aufgefallen oder mitgeteilt worden. Im Gegenteil: Ich erhielt sogar die „Friedensmedaille der FDJ“, eine relativ hohe Auszeichnung, und eine Buchprämie vom Ludwigsluster Kreisvorsitzenden der FDJ. Die Kampagne gegen die „Junge Gemeinde“, deren Mitglieder als „Kugelkreuzler“ bezeichnet wurden, begann erst nach meinem Ausscheiden aus der Funktion des FDJ-Vorsitzenden der Zentralen Oberschulgruppe. Mit ihr hatte ich nichts zu tun.
Nach meinem achtzehnten Geburtstag befand ich mich in der elften Klasse und nur noch ein halbes Jahr in der Dömitzer Oberschule. Man hat mich damals wohl bedrängt, zur „Polizei“ zu gehen. Ich kann mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, dass irgendjemand versuchte, mich für die SED zu werben. Nachdem Vater ebenfalls der Ansicht war, dass es gut wäre, wenn ich als Sohn eines Arbeiters zur „Volkspolizei“ ginge, habe ich mich schließlich dazu – ohne jede Begeisterung – entschlossen. Am Sonnabend, dem 5. Juli 1952, war mein letzter Schultag in der elften Klasse. Ich wurde in die zwölfte Klasse versetzt und ergriff laut Abschlusszeugnis den „Beruf eines Volkspolizisten“.
Die ersten Wochen bei der Volkspolizei
Zwei Tage später trug ich die damals noch dunkelblaue Uniform der Volkspolizei, kam nach Schwerin in die Dienststelle Stern-Buchholz. Schon nach wenigen Tagen sah ich innerhalb dieser Einheit einige DDR-Panzer vom Typ T-34 und schnell wurde mir klar, dass es sich gar nicht um eine Polizeiformation, sondern um eine neue, im Aufbau befindliche Armee handelte, die zudem offensichtlich schon seit einigen Jahren als „Hauptverwaltung für Ausbildung“ bestanden hatte.
Ich verpflichtete mich zunächst für drei Jahre, mein erster Dienstgrad war „VP-Anwärter“. Ich lernte zu schießen, zu marschieren, den Schrank in Ordnung zu halten, und erfüllte auch die sonstigen militärischen Übungen zur vollen Zufriedenheit meiner Vorgesetzten. Im Politunterricht erfuhren wir viel vom „Klassenfeind“, der jenseits der Demarkationslinie die Deutsche Demokratische Republik ständig bedroht. Diese Propaganda wiederholte sich in stets monotoner Weise, war allen hinreichend seit Jahren bekannt und wirkte bald ausgesprochen langweilig. Manche Kameraden schliefen beim Politunterricht regelmäßig ein. Zudem war der Intelligenzgrad mancher Politoffiziere damals erstaunlich niedrig, sodass man es als ehemaliger Oberschüler schwer hatte, diese stundenlange „Belehrung“ im Sinne einer typischen Schwarz-Weiß-Malerei bei voller Konzentration über sich ergehen zu lassen.
Als Verbündete der ruhmreichen Sowjetunion galten auch wir stets als die Sieger der Geschichte, während aus der Sicht der DDR der Westen in Form der Bundesrepublik nur die Politik der verbrecherischen Nazis fortführte und alle positiven Veränderungen im Osten Deutschlands, wie die Bodenreform, die demokratische Schulreform, die Enteignung der Kapitalisten usw., rückgängig machen wollte. Aber wir als die legitimen Vertreter der deutschen Arbeiterklasse würden dem Machtstreben unserer Klassenfeinde schon einen Riegel vorschieben und unsere Republik wirkungsvoll – gemeinsam mit der Sowjetunion – schützen und im Bedarfsfall mit der Waffe in der Hand verteidigen. Denn niemandem sollte es erlaubt werden, das Rad der Geschichte jemals zurückzudrehen. Dafür würden wir schon sorgen.
Ich war damals der Meinung, dass wir in der DDR eine Armee brauchten, und betrachtete die Republik als die einzige nur denkbare positive Nachkriegsalternative für unser geschundenes Land. Natürlich bemühte ich mich um gute militärische Leistungen. In meinem Inneren aber war ich, von unseren verantwortungsvollen, hochintelligenten Dömitzer Lehrern, wie Dr. Schimke und Hermann Harras, dazu erzogen, eher ein Pazifist. Das aber behielt ich geflissentlich für mich. Es war auch sicher besser so.
In Korea tobte ein schrecklicher Krieg und die dortige Volksarmee befand sich auf dem Rückzug, nachdem die USA in dieses Gemetzel eingegriffen und die Nordkoreaner aus dem fast vollständig eroberten Süden der Halbinsel wieder zurückgedrängt hatte. Auch die sogenannten chinesischen „Volksfreiwilligen“ konnten einen Sieg der bereits geschwächten Nordkoreaner nicht herbeiführen, sodass der Krieg am 27.7.1953 mit einem Waffenstillstand am 38. Breitengrad ungefähr dort endete, wo er begonnen hatte. Die Kommunisten hatten eine schwere Niederlage erlitten. Gott sei Dank blieb dem geteilten Nachkriegsdeutschland, vermutlich aufgrund der Erfahrungen aus Korea, ein ähnlich hartes Schicksal erspart.
Des Öfteren dachte ich an meine Mitschüler, die sich sicher mit gemischten Gefühlen nach ihren letzen Sommerferien jetzt auf ihr Abitur und ein Studium vorbereiteten. Gerne wäre ich dabei gewesen. Dass ich auch im Rahmen der Armee meinen einstigen Traumberuf, Arzt, ergreifen könnte, stand damals noch absolut in den Sternen. Allerdings wurde ich später kein Truppenarzt, da mich die NVA noch vor Beginn des Staatsexamens wegen eines „nicht klassenmäßigen Verhaltens“ am 7.3.1958 zwangsexmatrikulierte und aus ihren Reihen ausschloss. So konnte ich mein Studium als Zivilstudent erst nach einjähriger „Bewährung in der Produktion“ fortsetzen und 1959 in Greifswald beenden.
Immerhin wurde ich nach der Rückkehr aus Priemerwald (s. u.) innerhalb der Kasernierten Volkspolizei in Stern-Buchholz zum Sanitäter ausgebildet, worüber ich sehr froh war. Mein Lehrer und Ausbilder war damals der Internist Hauptmann Dr. H.-U. Krüger, den ich fünfzehn Jahre später als Bezirksdiabetologe von Schwerin wieder traf, während ich als Chefarzt einer Diabetesabteilung im Kreiskrankenhaus Prenzlau inzwischen die gleiche Funktion im Bezirk Neubrandenburg ausübte.
Priemerwald
Von der Dienststelle der Kasernierten Volkspolizei in Schwerin Stern-Buchholz wurden wir als VP-Anwärter nach Abschluss unserer militärischen Grundausbildung im Rahmen einer Nacht- und Nebelaktion in getarnten Lkw in die „Taiga“ (gängiger Armeeausdruck für ein dünn besiedeltes Waldgebiet im Norden der DDR) verlegt. Nach der Fahrt von einigen Stunden landeten wir irgendwo – ein Zielort war uns nicht mitgeteilt worden – in einem Kiefernwald, bauten unsere Zelte auf, in denen wir auf Stroh schliefen.
Nach einem schönen Ruhetag im Wald wurden wir in der nächsten Nacht barsch von einem Unteroffizier geweckt, brauchten nur einige hundert Meter zu marschieren und landeten an einer inoffiziellen Bahnstation namens „Priemerwald“. Dort erwartete uns schon ein langer Güterzug mit der Aufschrift an einem Waggon: „Eier für unsere deutschen Freunde.“ Offenbar kam er direkt aus der Sowjetunion. Wir entluden Waggons voller Munition, darunter zahlreiche mit kyrillischer Schrift versehene, 84 kg schwere Holzkisten mit je einer Artilleriegranate. Wir schleppten sie ca. 80 m weit in besenreine unterirdische Bunker, die scheinbar die Nazizeit unbeschädigt überstanden hatten.