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5 Die in den Sammlungen seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aufgezeichneten „Sagen“ sind daher, wie mit GRAF, Sage (wie Anm. 3), Sp. 1254f zu betonen ist, vor allem eines: „Zeugnisse aufklärerisch oder romantisch akzentuierter M[ittel]A[alter]-Rezeption“ in der Neuzeit. Vgl. die neuesten Sammlungen Mainzer Sagen, darunter auch zur Gründung der Stadt, z.B. von Wendelin DUDA, Die Sagen der Stadt Mainz (= Die Sagen vom Rhein 3). Stegen (bei Freiburg) 2009, hier S. 11ff, oder, unter Verbindung von unterhaltender Nacherzählung und historischer Wissensvermittlung, von Peter HAUPT, Sagen aus Rheinhessen – Archäologie und Geschichte. Worms 2013, hier S. 50ff. – Zu der mit dem Zeitalter des Humanismus einsetzenden (auch) gelehrten Tradierung der mittelalterlichen Ursprungserzählungen von Mainz siehe die im Folgenden jeweils an Ort und Stelle gegebenen Hinweise zu deren Überlieferung, darunter insbesondere auch den Fließtext mit Anm. 10ff, Anm. 34ff, Anm. 57f.
6 Vgl. den Beitrag von Joachim SCHNEIDER zur Dagobert-Sage in diesem Band, in dem eine Entstehung des Textes im Zusammenhang mit den Verfassungskrisen und Streitigkeiten zwischen Stadt und Erzbischof 1443/44 – die älteste Überlieferung setzt 1445 ein – erwogen wird (siehe den dortigen Fließtext nach Anm. 29 und 52); in jedem Fall spricht alles „zumindest“ für eine Überarbeitung zu dieser Zeit (ebd. im Fließtext vor Anm. 61). Vgl. auch Uta GOERLITZ, Facetten literarischen Lebens in Mainz zwischen 1250 und 1500. Mittelalterliche Erzählungen über das (ur)alte Mainz im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Lebenswelten Gutenbergs, hg. von Michael Matheus (= Mainzer Vorträge 10). Stuttgart 2005, S. 59–87 [Text], 189–214 [Literaturverz. zum gesamten Bd.], hier S. 63f.
7 wann] nhd. ‚als‘.
8 WINDECKE, hg. ALTMANN (wie Anm. a), S. 456; der eingefügte Text, der nicht auf Windeck zurückgeht, findet sich erst in der nach Windecks Tod bis 1443 fortgeführten, zweiten Redaktion seines „Buches von Kaiser Sigismund“; „in der einzigen erhaltenen autornahen Handschrift der Windeck-Chronik“ fehlt er dagegen (Joachim SCHNEIDER im Beitrag über die Dagobert-Sage in diesem Band, Anm. 27). Zur Verbreitung von Windecks „Buch von Kaiser Sigismund“ und Texteingriffe durch die Lauber-Werkstatt vgl. Joachim SCHNEIDER, Vom persönlichen Memorandum zum kommerziellen Produkt: Das Buch von Kaiser Sigmund des Eberhard Windeck und die Werkstatt des Diebold Lauber. In: Geschichte schreiben. Ein Quellenhandbuch zur Historiographie (1350–1750), hg. von Susanne Rau und Birgit Studt. Berlin 2010, S. 234–244. Vgl. zu Windeck insgesamt kurz Norbert H. OTT und Joachim SCHNEIDER, Art. Windeck, Eberhard. In: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums, Bd. 12, begr. von Walther Killy, Neuaufl. in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Kühlmann. Berlin, New York 2011, S. 450f, online in der Verfasserdatenbank, Berlin, Boston 2011, unter URL
9 Der Titel geht auf den Vorschlag von Klaus Graf zurück: Klaus GRAF, Art. Ursprung der Stadt Mainz. In: VL Bd. 10, 1999, Sp. 130f. Er ist allerdings inhaltlich verkürzt, da die Erzählung bis ins 13. Jahrhundert hineinreicht, vgl. GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 63f mit Anm. 17.
10 Ausgaben liegen außer in WINDECKE, hg. ALTMANN (wie Anm. a) vor in: Scriptores rerum Germanicarum, praecipue Saxonicarum […], 3 Bde, hg. von Johann Burkard MENCKEN. Leipzig 1728– 1730, hier Bd. 1, Sp. 1073–1288, und in Übersetzung: Das Leben König Sigmunds von Eberhard Windecke. Nach Handschriften übers. von [Theodor] VON HAGEN, mit Nachträgen von O[swald] HOLDER-EGGER (= Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. Zweite Gesammtausgabe. Fünfzehntes Jahrhundert 1). Leipzig 1899 (fehlerhaft). Zu den Windeck-Handschriften vgl. den Handschriftencensus unter URL
11 Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Hs. 820, fol. 69r–78v; vgl. GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 63f und öfter. Abbreviaturen in Handschriften und alten Drucken sind im Folgenden gegebenenfalls ohne Kennzeichnung aufgelöst.
12 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung jetzt den Handschriftencensus unter URL
13 Hermannus PISCATOR, Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis. Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 28200, darin Piscators (für die Chronik leicht überarbeitete) Korrespondenz über den Ursprung von Mainz mit Petrus Sorbillo aus dem Jahr (wahrscheinlich) 1517 ebd., fol. 7r–11r (SORBILLO an Piscator) und fol. 11r–35r (PISCATOR an Sorbillo). Vgl. im vorliegenden Zusammenhang GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 67ff und 86f, und im Genaueren Uta GOERLITZ, Humanismus und Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Das ‚Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis‘ des Hermannus Piscator OSB (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur europäischen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 47). Tübingen 1999, S. 64–68, 185–192, 258–269 (bei der dort genannten „Historia Teutonica“ handelt es sich um die Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“), u. ö.; vgl. Uta GOERLITZ, Mainzer Antiquitas und deutsche Nation im Briefwechsel der Benediktinerhumanisten Hermannus Piscator und Petrus Sorbillo aus dem Jahr 1517. In: Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Peter Johanek (= Städteforschung A 47). Köln, Weimar, Wien 2000, S. 157–180. Vgl. zuletzt Uta GOERLITZ, Art. Piscator, Hermannus. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon 2, Lieferung 2, hg. von Franz Josef Worstbrock. Berlin, New York 2011, Sp. 487–494, sowie DIES., Art. Sorbillo, Petrus, ebd., 2, Lieferung 3. Berlin, New York 2012, Sp. 927f.
14 Nicolaus SERARIUS, Moguntiacarum rerum […] libri quinque. Mainz 1604, erneut hg. von Georg Christian JOANNIS in: Rerum Moguntiacarum, vol. II. Frankfurt am Main 1722, S. 1–906. Vgl. zur Nachwirkung des Briefwechsels zwischen Piscator und Sorbillo über den Ursprung von Mainz (wie Anm. 13) bei Serarius GOERLITZ, Humanismus (wie Anm. 13), S. 154–157, S. 383ff und 401f.
15 Lückenlose Vollständigkeit ist dabei in diesem Rahmen angesichts der Vielfalt handschriftlicher und gedruckter Überlieferungsträger des Mittelalters und der Neuzeit und den oft fehlenden Quellennachweisen in den jüngeren Sagensammlungen nicht angestrebt, manche Sagenvariante ist im Folgenden von vornherein zugunsten der Konzentration auf die Prinzipien von Konstruktion und Funktion der überlieferten Ursprungserzählungen von Mainz bewusst ausgelassen. Hinweise auf die Forschungsliteratur werden jeweils an Ort und Stelle gegeben.
16 Vgl. zu diesem Aspekt prinzipiell Lukas CLEMENS, Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 50). Stuttgart 2003, in Bezug auf den Mainzer Eichelstein S. 337ff.
17 Vgl. grundsätzlich František GRAUS, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln, Wien 1975, S. 1–28. Graus spricht dabei von „Traditionen“ („Überlieferungen“) und definiert diese grundsätzlich als Erzählungen, die „in die Vergangenheit projiziert werden als irgendwie (die Arten sind unterschiedlich) für die Gegenwart relevant“, die gleichzeitig „die Ereignisse räumlich und zeitlich fixieren“, außerdem „eine gewisse Zeit […] auf mündlichem oder auf schriftlichem Wege“ weitergegeben werden und deren „Einfluß die Grenzen rein gelehrter Forschung überschreitet“; dabei hält Graus fest, dass „der Ausgangspunkt der Traditionsbildung nicht notwendigerweise mit den Ereignissen, an die sie anknüpft,“ zusammenfallen muss, Traditionen vielmehr erst später entstehen können, „etwa indem ein bis dahin isoliertes, rein gelehrt überliefertes Faktum, allgemeinere Bedeutung erlangt“ (ebd., S. 6f).
18 Für den folgenden Fließtext greife ich auf meinen zum Thema grundlegenden Beitrag GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 63–78, zurück, vgl. Franz J. FELTEN, Mainz und das frühmittelalterliche Königtum. Spuren – Erinnerungen – Fiktionen – und ihre Nutzanwendung. In: Robert Folz (1910–1996) – Mittler zwischen Frankreich und Deutschland. Actes du colloque ‚Idée d’empire et royauté au Moyen Age: Un regard Franco-Allemand sur loeuvre de Robert Folz,’ Dijon 2001, hg. von Franz J. Felten, Pierre Monnet und Alain Saint-Denis (= Geschichtliche Landeskunde 60). Stuttgart 2007, S. 51–96, hier S. 80–90, und jetzt auch Britta HEDTKE und Christoph WINTERER, Mainz. In: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien – Werke – Mäzene, hg. von Martin Schubert. Berlin, Boston 2013, S. 347–371, bes. S. 364–366; vgl. Uta GOERLITZ, Art. Ursprung der Stadt Mainz. In: Killy-Literaturlexikon (wie Anm. 8), Bd. 11, S. 709f (auch online, vgl. Anm. 8). Wörtliche Übernahmen aus dem Beitrag (GOERLITZ, Facetten, wie Anm. 6) über größere Strecken erfolgen dabei ohne gesonderte Kennzeichnung (so auch schon bei den obigen Ausführungen zu dem in den unterschiedlichen Sagenversionen variierenden Erzählinteresse, vgl. ebd., S. 62); der Anmerkungsapparat ist demgegenüber im Folgenden auf die notwendigen Nachweise und Hinweise zu Überlieferung bzw. Nachwirkung der mittelalterlichen Ursprungssagen in der Neuzeit beschränkt und dabei gegebenenfalls aktualisiert.
19 Die bei WINDECKE, hg. ALTMANN (wie Anm. a) erfassten Windeck-Handschriften verwenden die Lesart Treverus, während in der Gheverdis-Fassung auch die verbreitete Namensvariante Trebeta benutzt wird, vgl., auch zum Folgenden, unten mit Anm. 23f.
20 Windeck-Fassung (wie Anm. 12), S. 456. Vgl. zur Lesart „Belus“ GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 69 mit Anm. 35f. – Soweit nicht anders angegeben, ist im Folgenden ohne erneuten Stellennachweis die zu Beginn dieses Beitrags abgedruckte Windeck-Fassung zitiert.
21 Gheverdis-Fassung (wie Anm. 11), fol. 69v.
22 Ebd.
23 Gesta Treverorum, ed. Georg WAITZ. In: MGH Scriptores, Bd. 8. Hannover 1848, S. 111–174.
24 Heinz THOMAS, Studien zur Trierer Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts, insbesondere zu den Gesta Treverorum (= Rheinisches Archiv 68). Bonn 1968, S. 195; vgl. im Folgenden ebd., S. 190–205, und auch Ilse HAARI-OBERG, Die Wirkungsgeschichte der Trierer Gründungssage vom 10. bis 15. Jahrhundert (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, 607). Bern u.a. 1994. Zur Frage der frühesten Überlieferung der Trebeta-Sage vgl. jetzt in Modifikation der Studien von Heinz Thomas CLEMENS, Tempore Romanorum constructa (wie Anm. 16), S. 322–334.
25 THOMAS, Studien (wie Anm. 24), S. 201, mit nachfolgenden Beispielen aus Trier.
26 vnder Jme] nhd. ‚unter sich‘; Gheverdis-Fassung (wie Anm. 11), fol. 69v.
27 Ebd., fol. 69r. Vgl. die Windeck-Fassung (wie Anm. a), in der es lediglich heißt: und wer von in lernen wolt, der solt darfarn zü schülen.
28 Guido JÜTTNER, Art. Magia naturalis. In: LMA Bd. 6, 1993, Sp. 82.
29 PISCATOR, Brief an Petrus Sorbillo (wie Anm. 13), fol. 13r. Piscators Herleitung basiert auf der Überlieferung des 13. Jahrhunderts, vgl. unten mit Anm. 36.
30 Paul Joachim HEINIG, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389–1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 108 / Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 3). Wiesbaden 1983, S. 53 (bezogen auf die Begriffe „Freie Stadt“ und „Reichsstadt“ im Ganzen).
31 Vgl. insbesondere Dieter DEMANDT, Stadtherrschaft und Stadtfreiheit im Spannungsfeld von Geistlichkeit und Bürgerschaft in Mainz (11.–15. Jahrhundert) (= Geschichtliche Landeskunde 15). Wiesbaden 1977; vgl. zum Datum 1332 hier GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 63 mit Anm. 17.
32 Ludwig FALCK, Das spätmittelalterliche Mainz – Erzbischofsmetropole und freie Bürgerstadt. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 112 (1976) S. 106–122, hier S. 107.
33 Das Verfahren galt durchaus als seriös, auch wenn das eine gezielte Indienstnahme etymologischen „Fabulierens“ nicht ausschließt, vgl. Uwe RUBERG, Art. Etymologisieren. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 1997, S. 526–528.
34 BHL Nr. 826, vgl. den Beitrag zum Legendenkomplex um die Heiligen Aureus und Justina in diesem Band. Vgl. im obigen Zusammenhang, auch im Folgenden, GOERLITZ, Humanismus (wie Anm. 13), S. 278–285 mit Anm. 417 und 421; zu der hier zugrunde gelegten Abschrift in der Handschrift der Universitätsbibliothek Würzburg M. ch. f. 67, fol. 5r–15v - hier lectio 5–8, fol. 6vf – vgl. ebd., S. 118–120, 132f mit Anm. 85 und S. 144ff; lediglich Auszüge hagiographisch relevanter Passagen aus einer verschollenen Handschrift der Kölner Kartause sind herausgegeben von Papebroch in: AA SS Juni Bd. 4. Paris, Rom 31887, Nr. 7, 11, 12, 15, 16, S. 38–40 sowie Nr. 1–15, S. 62–65, und danach in JOANNIS, Rerum Moguntiacarum, vol. II (wie Anm. 14), S. 7–11 und 15–22. Vgl. Uta GOERLITZ, Art. Sog. Sigehard von St. Alban (Mainzer Hagiograph, um 1297). In: VL Bd. 11, 2004, Sp. 1433–1435.
35 Christoph DAXELMÜLLER und Michael E. von MATUSCHKA, Art. Magie. In: LMA Bd. 6, 1993, Sp. 82–88.
36 Hier und im Folgenden: sog. Sigehard von St. Alban, Passio sanctorum Aurei et Justinae (wie Anm. 34), lectio 5–8, fol. 6vf, hier lectio 6, fol. 7r.
37 Ebd.: situs loci nobilissimus et amoenus valde.
38 Ebd.: quod […] ab antiquissimis traditum, hodieque narratur ab incolis.
39 Ebd., lectio 6, fol. 6v.
40 PISCATOR, Briefan Petrus Sorbillo (wie Anm. 13), fol. 15vf. Zur polemischen Verwendung des Spruches während des Spätmittelalters und der Reformation vgl. Wilhelm MÜLLER, Rheinhessisches Heimatbuch, 2 Bde. (= Hessische Volksbücher). Friedberg 1921–1924, hier Bd. 1, S. 17.
41 Vgl. die entsprechende Formulierung Petrus Sorbillos, der in diesem Zusammenhang ausdrücklich von quibusdam malefactoribus spricht: Sorbillo, Brief an Hermannus Piscator (wie Anm. 13), fol. 8v.
42 Gesta Treverorum (wie Anm. 23), 2, S. 131, und 5, S. 133; zur Datierung des fiktiven Epitaphs „im 11. Jahrhundert“ und dabei möglicherweise erst nach Entstehung der Trebeta-Sage vgl. jetzt CLEMENS, Tempore Romanorum constructa (wie Anm. 16), S. 322–334 (Zitat: S. 334).
43 id, quod ab antiquissimis traditum hodieque narratur ab incolis […] ab antiquis traditum et ad nos vsque successiua relatione deriuatum (sog. Sigehard von St. Alban, Passio sanctorum Aurei et Justinae, wie Anm. 34, lectio 7, fol. 7r).
44 Ebd.
45 Gozwinus, Ex passione S. Albani martyris, ed. HOLDER-EGGER. In: MGH Scriptores, Bd. 15/2. Hannover 1888, ND 1963, S. 985–990; vgl. THOMAS, Studien (wie Anm. 24), S. 39–63, und Franz Josef WORSTBROCK, Art. Gozwin von Mainz. In: VL Bd. 3, 1981, Sp. 205–207, und VL Bd. 11, 2004, Sp. 553.
46 Sog. Sigehard von St. Alban, Passio sanctorum Aurei et Justinae (wie Anm. 34), lectio 8, fol. 7r: haec regiae nobilitatis ciuitas.
47 Ebd.: omnium vrbium imperatrix.
48 Vgl. zur Terminologie GRAUS, Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 17), S. 6f.
49 Hartmann SCHEDEL, Weltchronik 1493. Kolorierte Gesamtausgabe, ND, hg. und kommentiert von Stephan Füssel. Köln 2013, fol. XXXIXv. Im Folgenden liegen vor allem SORBILLO, Brief an Hermannus Piscator (wie Anm. 13), fol. 8v–9v, sowie auch PISCATOR, Brief an Petrus Sorbillo (wie Anm. 13), fol. 13v–14v, zugrunde. Vgl. generell auch František GRAUS, Troja und trojanische Herkunftssagen im Mittelalter. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, hg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 25–43, und Beate KELLNER, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004, S. 131–296.
50 Gozwinus, Ex passione S. Albani (wie Anm. 45), cap. 24, S. 988; sog. Sigehard von St. Alban, Passio sanctorum Aurei et Justinae (wie Anm. 34), lectio 9f, fol. 7rf. Vgl. zu den mittelalterlichen Caesar-Traditionen kurzgefasst GRAUS, Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 17), S. 218–224, sowie CLEMENS, Tempore Romanorum constructa (wie Anm. 16), S. 337ff, 342–356 u.ö.
51 Drusus (d.Ä.), der Stiefsohn des Augustus, starb 9 v. Chr. bei einem Feldzug zwischen Saale und Rhein an den Folgen eines Sturzes vom Pferd; ein Drususmonument apud Mogontiacum wird erstmals in der Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. von Eutrop erwähnt. Vgl. im obigen Zusammenhang GOERLITZ, Humanismus (wie Anm. 13), S. 319–322 mit Anm. 600 und 603, und auch CLEMENS, Tempore Romanorum constructa (wie Anm. 16), S. 337ff sowie im Weiteren S. 356ff u.ö..
52 Drusum, Augusti privignum, aliosque Romanorum principes habuit [sc. Mainz] conditores et possessores (Gozwinus, Ex passione S. Albani, wie Anm. 45, cap. 24, S. 988).
53 So auch bei Gozwin (vgl. die vorhergehende Anmerkung); vgl. Sigehard von St. Alban, Passio sanctorum Aurei et Justinae (wie Anm. 34), lectio 10, fol. 7v.
54 Windeck-Fassung (wie Anm. a), S. 457f. Die Passage schließt unmittelbar an die Erzählung von der Gründung von Mainz an, vgl. den Schluss des diesem Beitrag vorangestellten Textabschnittes. Vgl. GOERLITZ, Facetten (wie Anm. 6), S. 81ff. Vgl. die Rekonstruktion des Drusus-Monumentes mit der Unterschrift „In Drusenloch olim“ bei Nicolaus SERARIUS oben in Abb. 2; sie geht auf den Mainzer Humanisten Hermannus PISCATOR OSB (wie Anm. 13) zurück und wird von diesem unter anderem aufgrund der Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ entstehungsgeschichtlich wie auch von Serarius vom erhaltenen „Eichelstein“ (bei Serarius: „Aichelstein“), in dem die Forschung das Kenotaph Drusus’ d. Ä. sieht, unterschieden (GOERLITZ, Humanismus, wie Anm. 13, S. 154f, 189f).
55 SCHEDEL, Weltchronik (wie Anm. 49), fol. XXXIXv.
56 Sorbillo, Brief an Hermannus Piscator (wie Anm. 13) fol. 9v: vrbemque Maguntinam licet antiquissimam adeo decorauit, vt quasi de nouo a Druso putaretur condita.
57 Hier und im Folgenden PISCATOR, Brief an Petrus Sorbillo (wie Anm. 13), fol. 13v–14v.
58 Vgl. oben mit Anm. 5.
59 Die Zitate sind dem grundlegenden Beitrag von SEIDENSPINNER, Sage und Geschichte (wie Anm. 2), S. 19 und 34 entnommen.
60 SEIDENSPINNER, Sage und Geschichte (wie Anm. 2), S. 34.
PONTIUS PILATUS – EIN UNEHELICHER KÖNIGSSOHN AUS MAINZ
Andreas Scheidgen
Für Uwe Ruberg
„Wie Pilatus geboren wurde
Ein König war am Rheine ansässig, der Atus hieß und den das einfache Volk noch heute König Artus nennt. Der baute am Rhein eine zerfallene Stadt, die zu weit vom Fluß entfernt gelegen hatte, wieder auf und nannte sie Maguncia. Wir nennen sie heute Mainz. Und er gab ihr den Namen nach zwei Gewässern, die dort in den Rhein fließen: dem Main oberhalb der Stadt und der Cya neben ihr. Einmal übernachtete er am Rhein, um nicht mehr über den Fluß setzen zu müssen, und fand Herberge in einer Mühle.
Nun hatte der Müller eine gar schöne Tochter, die Pila hieß. Bei der schlief der König des Nachts, und sie empfing von ihm einen Sohn. Als sie ihn aufgezogen hatte und er drei Jahre alt war, sandte sie ihn seinem Vater, dem König. Dieser fügte den Namen der Mutter und seinen Namen zusammen und bildete dem Sohn daraus einen Namen, der Pilatus lautete. Nun hatte der König auch einen Sohn von seiner rechtmäßigen Ehefrau, der ungefähr so alt wie Pilatus war. Beide warfen gemeinsam mit Schleudern nach Vögeln und spielten oft miteinander, bis Pilatus voller Heimtücke beim Spiel seinen Bruder mit einem Steinwurf tötete. Da mochte ihn der König nicht länger mehr dulden und schickte ihn als Geisel dem Kaiser nach Rom, wie es die Fürsten damals mit ihren Kindern tun mussten. Da blieb er, bis er zu einem Mann wurde.“
Wie Pylatus geborn wart
Eyn konigk was an dem Reyne gesessen der hießs Athus, den das gemeyne volk noch nennet konigk Arthus, der buwete an den Reyn eyne zu brochene stat, die zu verre dorvon gelegen hatte, und hießs die Maguncia, die wir nu Mentz nennen, unde gap or den namen von zwen wassern dieyn den Reyn do flißsen: der Möyin pobir der stat und die Cya do nebene. Der benachte an dem Reyne das her nicht mochte obir geschiffen unde herbergitte yn einer molen. do hette der moller gar eyne schone tochtir die hießs Pyla, die beslieff der konigk des nachtis unde sie entphingk vonn ym eynen ßsonn. Unde do sie den generte das her dreier jar alt war, do sante sie on seyme vater dem konige, unde der satzte der muter namen unde seynen namen zu sampne unde machte dem ßsone eynen namen das her sulde heißsen Pylatus. Nu hatte derselbe konigk eynen son bey seyner elichen frowen, der was nahe bey Pylatus aldir. die worffen mit sleudern noch vogilchen unde spelten als mit eynander, also lange das Pylatus vil hemischlichen geschymphte, das her seynen bruder mit eyme steyne zu tode gewarf Do mochte on der vatir nicht lenger geleiden unde sante ynn zu gisil dem keyser zu Rome, also die fursten ere kynder musten thun, unde do was her bys das her zu eyme manne wart.
Aus der „Thüringischen Weltchronik“ des Johannes Rothe, 14211
Es ist starker Tobak, den der Eisenacher Geschichtsschreiber Johannes Rothe den Lesern seiner „Thüringischen Weltchronik“ aus dem Jahr 1421 vorsetzt: Pontius Pilatus – ein Mainzer? Und nicht nur das, auch noch ein Sohn des Königs Artus, gezeugt beim Ehebruch des ebenso tugend- wie sagenhaften Herrschers, der dabei gleich als Stadtgründer von Mainz vereinnahmt wird, mit einer schönen Müllerin! Nun wird niemand diese kuriose Mixtur für bare Münze nehmen. Wo Pilatus wirklich geboren wurde, wissen wir nicht; vermutlich stammte er aus Italien.2 Aber manch einer mag sich fragen, ob die Geschichte nicht doch einen wahren Kern hat. Eine verloren gegangene Überlieferung über Verbindungen zwischen der römischen Garnisonsstadt Mainz und der Provinz Judäa zur Zeit Jesu Christi vielleicht? Für einen Fabulierer und Märchenerzähler wurde Johannes Rothe von seinen Mitbürgern in Eisenach jedenfalls nicht gehalten. Sonst hätten sie ihn, den angesehenen Priester und Schulmeister, sicher nicht zum Stadtschreiber gemacht und ihm die Zusammenstellung eines Rechtsbuchs anvertraut, ein Jahrhundertprojekt der Sammlung und Kodifizierung, dazu bestimmt, das Zusammenleben in der Stadt für Generationen zu regeln.3 Wenn ein solcher Mann die Geschichte von Pilatus aufschrieb, dann deshalb, weil er sie für wahr hielt. Warum konnte er das?
I. Legende
Rothe hätte vermutlich nachdrücklich widersprochen, wenn man seine Geschichte – wie in diesem Band – unter die Sagen gezählt hätte, denn das wäre in seinen Augen einer Bestreitung nicht nur ihres Wahrheitsanspruchs, sondern auch ihrer religiösen Dignität gleichgekommen. Beruhte sie doch auf einer breiten und ehrwürdigen Überlieferung.4 Denn Pontius Pilatus war ja nicht nur eine Gestalt der Bibel und im Glaubensbekenntnis erwähnt. Auch die ältesten Kirchenväter hatten sich mit ihm beschäftigt und damit die Ausformung des Bildes seiner Persönlichkeit im Mittelalter grundgelegt. So behaupteten die christlichen Autoren Justin und Tertullian, Pilatus habe dem Kaiser einen Brief geschrieben, in dem er über Jesu Leben und seine Wundertaten, über den Prozess und Tod sowie die Auferstehung des Heilands berichtet habe. Pilatus wird hier als Zeuge für die Wahrheit der christlichen Verkündigung sowie für die Unschuld Jesu in Anspruch genommen. Die verfolgte Kirche berief sich auf den römischen Amtsträger. Auf der anderen Seite überlieferte der gelehrte Bischof Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte, dass Pilatus unter der Regierung des Kaisers Caligula ins Unglück geraten sei und sich das Leben genommen habe. Die göttliche Gerechtigkeit habe, so erklärt Eusebius, das Verbrechen am Heiland nicht ungestraft lassen wollen. Im unrühmlichen Untergang des Pilatus bekundet sich für ihn das Walten der göttlichen Vorsehung.
Zwischen diesen beiden Polen, dem günstigen des „Pilatus-Briefs“ und dem ungünstigen des Selbstmord-Motivs, schwankt die Legendenbildung lange.5 Ihr wichtigstes Sammelbecken, aus dem die weiteren Entwicklungslinien abzweigen, ist das apokryphe Nikodemusevangelium aus dem 5. Jahrhundert. Dieses heterogene Konglomerat von Erzählungen rund um die Passion Jesu Christi besteht in einem ersten Teil aus den sogenannten „Acta Pilati“, einem mit zahlreichen wundersamen Begebenheiten ausgeschmückten Bericht über den Prozess vor Pilatus, in dem dieser stärker als in den kanonischen Evangelien als Fürsprecher Jesu auftritt. Hinzu tritt allerdings schon bald eine Reihe von Anhängen, die die Handlung bis zum Selbstmord des Pilatus weiterspinnen. Dabei tritt mit der Zeit immer stärker die Figur der Veronika in den Vordergrund, einer Frau, der man den Besitz eines mit übernatürlichen Heilkräften ausgestatteten Christusbildes zuschrieb. Dieses Bild, das man sich zunächst als Statue vorstellte, gelangt nach Rom, heilt dort den schwer kranken Kaiser Tiberius und motiviert dadurch dessen Bekehrung und seinen Entschluss, die Schuldigen am Tode Jesu zu bestrafen. So kommt es zu Verurteilung und Selbstmord des Pilatus. Pilatus- und Veronikalegende sind deshalb genetisch eng miteinander verbunden und münden in einen Erzählkomplex, der sich mit der Bestrafung der Gottesmörder beschäftigt. Zu diesen gehören neben Pilatus vor allem und in erster Linie die Juden, denen man die Hauptschuld am Kreuzestod Jesu anlastete. Im Anschluss an die Berichte des Historikers Flavius Josephus, jedoch in zuweilen abstoßend blutrünstiger und antisemitischer Überarbeitung, wurden dabei der Jüdische Krieg des Jahres 70 n. Chr. und die Zerstörung Jerusalems als göttliche Vergeltung für den Mord am Heiland dargestellt und zu einem Gesamtbild der unmittelbaren nachbiblischen Geschichte ausgestaltet.






