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Erst im 12. Jahrhundert wendet sich das Interesse wieder stärker der Person des Pilatus zu und er erhält nun auch eine Jugend- und Vorgeschichte. Eine anonyme Prosaerzählung in lateinischer Sprache, die erstmals in Handschriften aus dem 12. Jahrhundert greifbar wird, überliefert die älteste Fassung dieser Legende. Wann genau und wo sie entstanden ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Schon bald wurde sie in die Volkssprachen, darunter auch ins Deutsche, übertragen und in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts übernahm sie der italienische Dominikaner Jacobus de Voragine in sein berühmtes Werk „Legenda Aurea“. Diese Sammlung von Legenden gehörte zu den meistgelesenen Büchern des Mittelalters und über sie erlangte die Pilatus-Legende, meist als eine „Historia apocrypha“6 bezeichnet, weite Verbreitung.
Hier hat die Geschichte noch einen anderen Charakter als bei Rothe. Ernst und gravitätisch klingt sie, gerichtet an ein gebildetes, und das hieß damals geistliches Publikum. Pilatus’ Vater ist auch nicht König Artus, den man in diesen Kreisen für ein Geschöpf unseriöser Unterhaltungsliteratur hielt, sondern ein Mainzer König mit Namen Tyrus. Auf einer Jagdpartie im Gebiet von Bamberg erkennt der nach Art seiner Standesgenossen in der Kunst der Astronomie ausgebildete Fürst am nächtlichen Himmel eine Sternkonstellation, die einem in jener Nacht empfangenen Kind Ruhm und Herrschaft verheißt. Da ihn seine Gattin nicht begleitet hat, lässt sich Tyrus durch seine Diener eine Frau zuführen, Pila, die Tochter des Müllers Atus, mit der er einen Sohn zeugt. Die Mutter gibt dem Kind den Namen Pilatus. Nach drei Jahren wird der Knabe an den Hof seines Vaters gebracht. Herangewachsen, tötet er aus Neid seinen Halbbruder, der ihm als legitimer Sohn des Königs in allen ritterlichen Wettkämpfen überlegen war (Abb. 1). Zur Strafe wird Pilatus von seinem Vater als Geisel nach Rom geschickt. Dort begeht er einen zweiten Mord: Wiederum aus Neid tötet er seine Mitgeisel Paginus, den Sohn des französischen Königs. Der Ermordete hatte Pilatus an höfischem Anstand und Ehre, moribus et honestate (Z. 37)7, weit übertroffen. Die Römer beschließen daraufhin, den Mörder auf die entlegene Insel Pontus zu entsenden, wo er entweder aufgrund seiner Bosheit die wilden und aufrührerischen Einwohner der römischen Herrschaft unterwerfen oder als verdiente Strafe den Tod finden soll. Pilatus gelingt es in der Tat, die Pontier zu bezwingen; aufgrund dieser Leistung erhält er den Beinamen Poncius (Z. 50). König Herodes, der von Pilatus’ Taten gehört hat, holt ihn als Mitregenten nach Judäa, wird aber nach kurzer Zeit von ihm entmachtet. Erst Prozess und Verurteilung Jesu von Nazareth, an denen Pilatus Herodes teilnehmen lässt, bringen die Versöhnung zwischen den beiden Widersachern. Eine ausführliche Darstellung der als bekannt vorausgesetzten Passionsereignisse hält der Erzähler nicht für nötig. Dennoch bilden sie die geheime Mitte der Pilatusvita. Denn da er sich mit der Verurteilung Christi nach mittelalterlicher Auffassung gegen Gott entschieden hatte, konnte der Richter Pilatus zum Frevler und Gottesfeind schlechthin werden, dem man ein Leben voller Untaten und Verbrechen zuschrieb.

Abb. 1: Pilatus (mit Krone) tötet seinen Stiefbruder. Miniatur aus Jansen Enikels Weltchronik, um 1420 (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 336, fol. 163r).
Der zweite Teil der Legende, die Geschichte der göttlichen Vergeltung, verbindet die aus der älteren Tradition bekannten beiden Handlungsstränge um Krankheit und Heilung des Tiberius und die Zerstörung Jerusalems. Zunächst tritt Kaiser Vespasian auf, der später gemeinsam mit seinem Sohn Titus den Feldzug gegen die Juden leiten wird. Als Unterkönig des Tiberius residiert der an Wespen (vespes) in der Nase leidende Vespesianus in Galizien. Zu ihm gelangt durch Schiffbruch ein Bote des Pilatus, der im Auftrag seines Herrn das Urteil gegen Jesus in Rom rechtfertigen soll. Der Erzähler variiert hier die Überlieferung von einem Brief des Pilatus an den Kaiser: Durch die Erzählung des Boten zum Glauben an Christus bekehrt, wird Vespasian gesund und schwört Rache für den Tod seines Heilands. Dann erst setzt die Tiberius-Veronika-Handlung ein. Der ebenfalls schwerkranke Kaiser lässt nach dem berühmten Wunderarzt Jesus suchen. Sein nach Jerusalem entsandter Bote trifft dort auf die Besitzerin des Christusbildes. Seine Unterredung mit ihr enthält zum ersten Mal in der Stoffgeschichte die Deutung des Bildes als Gesichtsabdruck Christi in einem Tuch (vgl. Z. 143–151), ein Hinweis auf die wachsende Verehrung der Schweißtuch-Reliquie, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in Rom bezeugt ist.8
Gemeinsam mit dem Boten reist Veronika nach Rom, wo Tiberius beim Anblick des Bildes gesund wird. Pilatus, der als Gefangener in die Hauptstadt gebracht wurde, harrt in einem Kerker der Entscheidung über sein Schicksal. Zusammen mit Fürsten und Volk berät der Kaiser darüber, was mit ihm zu geschehen habe. Vespasianus, der zur Vorbereitung des Krieges gegen die Juden nach Rom gekommen ist, verlangt als Strafe den schändlichsten Tod. Pilatus kommt dem zuvor, indem er sich mit seinem Messer die Kehle durchschneidet. Seine Leiche wird in den Tiber geworfen, doch zwingen dämonische Erscheinungen und Unwetter dazu, sie wieder hervorzuholen. Bei Vienne wird sie in die Rhône versenkt, aber auch dort zeigen sich böse Geister. Erneut wird der Leichnam gehoben, nach Lausanne überführt und schließlich in einen unreinen Alpensee am Septimus mons (Z. 198) gebracht, in dem, wie es heißt, die Dämonen usque in eternum (Z. 197) ihr Unwesen treiben. Die Schilderung der Zerstörung Jerusalems durch Vespasian und Titus folgt erst nach einem Einschub, in dem die Untaten und der Selbstmord des bösen Kaisers Nero dargestellt werden.
Auf den ersten Blick ist deutlich, dass das Geschichtsbild dieser Erzählung mit dem heutigen Verständnis historischer Prozesse unvereinbar ist. Dennoch glaubten manche Forscher, die legendenhafte Abstammung des Pilatus spiegle genauere Kenntnisse über die römische Vergangenheit von Mainz wider. So hat der Germanist Hans Ferdinand Maßmann im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass in Mainz die XXII. Legion gelegen habe, jene Legion also, die während der Zerstörung Jerusalems in Judäa stationiert war. Dies, so vermutet Maßmann, mag auf die örtliche Haftung der Sage Einfluss genommen haben.9 Wer so fragt, verkennt allerdings die Absicht, die der Erzähler der „Historia apocrypha“ verfolgt. Ihm geht es nicht um lokalhistorische Details, sondern um das große Ganze, um eine Deutung der Welt- und Heilsgeschichte. Um ihn zu verstehen, muss man sich zunächst das Bild der Welt vergegenwärtigen, in der seine Erzählung spielt und die sie zu einem großen Teil auch durchmisst.
Dargestellt ist dieses Bild auf den Weltkarten des Mittelalters, auf denen auch Mainz verzeichnet sein kann. Auf der berühmten Wandkarte aus dem Kloster Ebstorf (Abb. 2) ist die Welt eine große Kugel, die nach Osten ausgerichtet ist.10 Ganz oben, also ganz im Osten, liegt das Paradies: Der Osten ist daher die Region des Heils. Mainz dagegen ist fast diametral gegenüber, in maximaler Distanz links unten im fast äußersten Westen zu finden (Abb. 3). Den Ursprung des Gottesmörders Pilatus hier zu suchen, ist angemessen, denn es handelt sich um eine Zone des Unheils und der Gottferne. Adam hatte nach seiner Vertreibung aus dem Paradies einer alten Lehre zufolge im Westen gewohnt, und mit der Kainstat des Brudermords beginnt auch Pilatus seine Laufbahn symbolisch im Westen. Gleichwohl wird auch diese Region von Gottes Heilszusage nicht ausgenommen: Durch die Überführung der Schweißtuchreliquie Veronikas gelangt das Heil nach Rom, das heidnische Weltreich nimmt den Glauben an und öffnet den Westen für jene Kraft, die ihn von der Herrschaft des Bösen – der eigentlichen Krankheit – befreit.11 Dies ist die geschichtliche Mission des Römischen Reiches, das deshalb nach mittelalterlicher Vorstellung bis zum Ende der Welt fortdauern würde.
Darum kann der Erzähler in der „Historia apocrypha“ das Imperium der Antike mit dem Kaiserreich des Mittelalters in eins sehen. Denn er versteht die Geschichte nicht als Veränderung in der Zeit, sondern als geschlossenes Ganzes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen versammelt sind. In diesem „Zeitenraum“12 voller bedeutsamer Spiegelungen und Verweise stehen auch Beginn und Ende des Pilatuslebens in einem geographischen Entsprechungsverhältnis: Wie Geburt und Kindheit mit den deutschen Städten Bamberg und Mainz verbunden sind, berührt der Weg der Leiche Vienne und Lausanne, bevor sie in einem Alpensee versenkt wird. Gibt es irgendeinen Zusammenhang in dieser Topographie des Unheils? In der territorialen Ordnung des Hochmittelalters schon: Zunächst waren alle vier Städte Bischofssitze. Vienne und Lausanne lagen im Königreich Burgund, das vom Hochrhein bis zur Provence reichte und seit dem 11. Jahrhundert Glied des Imperiums war. Damit zeichnet sich die Trias der Reiche Italien, Deutschland und Burgund, auf denen die Kaisermacht beruhte, als Schauplatz des Geschehens ab. In strenger Symmetrie entsprechen den beiden deutschen Bischofssitzen zwei burgundische. Doch nur zwei dieser Stätten hatten eine eigene Pilatustradition: Seit der Weltchronik des Erzbischofs Ado von Vienne galt die alte römische Provinzhauptstadt der „Gallia Viennensis“ als Verbannungs- und Sterbeort des abgesetzten Statthalters. Bamberg hatte zwar selbst keine Pilatusstätte, aber im benachbarten Forchheim gab es einen „Hof des Pilatus“, wie verschiedene Nachrichten belegen. Als gleichwertiges Pendant zu Vienne konnte Bamberg allerdings schwerlich in Betracht kommen. Denn der Erzbischof von Vienne leitete gleich mehrere Kirchenprovinzen und führte deshalb den Ehrentitel eines „Primas der Primasse“ oder „Primas von Gallien“.13 Diese herausragende Vorrangstellung lenkt den Blick auf Mainz, dessen Metropolit in Deutschland ebenfalls den Primastitel beanspruchte, obwohl diese Würde eines „Primas Germaniae“ kirchenrechtlich nie fixiert wurde. Vermutlich ist Mainz also als Pendant zu Vienne in die Legende gelangt, weil die beiden Städte als die ranghöchsten ihrer Reiche angesehen wurden.

Abb. 2: Ebstorfer Weltkarte, ganz oben neben Christuskopf das Irdische Paradies, unten links in Markierung Mainz, um 1300 (Kloster Ebstorf).

Abb. 3: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt: unter der stark vergrößerten Insel Reichenau (im Wasser-Kreis mit drei Klosterzellen) entlang des Rheins Worms, Mainz (an der Mainmündung) und Koblenz; die Stadtvignetten stehen auf dem Kopf.
Ausgerechnet durch diese sakralen Zentren, an denen die kirchliche und weltliche Ordnung dargestellt, begründet und durchgesetzt wurde, führt die Legende den Lebensweg des Pilatus. Rom selbst, das Haupt des ganzen Reiches, ist Schauplatz für seinen Selbstmord, die einzige Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Ein tiefer Zwiespalt der christlichen Kaiseridee wird damit sichtbar: Einerseits Heilsinstrument und Gottesstaat, war das römische Reich andererseits doch irdisches Menschenwerk. Auch hierzu liefert die Symbolik des in Mainz begangenen Brudermords den Schlüssel: Gemäß der Lehre des Kirchenvaters Augustin war der Brudermord Zeichen für die Heillosigkeit aller weltlichen Herrschaft, die nicht auf den Geboten Gottes gründete. Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, war der erste Bürger des irdischen Staates, jener verruchten „Civitas terrena“, die Augustin der von metaphysischer Gerechtigkeit gelenkten „Civitas Dei“, der Gemeinschaft der Frommen, gegenüberstellte. Wer nur nach den Gütern dieser Welt strebte, so glaubte Augustin, war zu einem friedlichen Zusammenleben mit anderen unfähig, was am Ende zur Zerstörung jeder staatlichen Ordnung führen müsse. Auch Rom war auf einem Brudermord begründet worden und den Gesetzen des irdischen Staates unterworfen. Er lebte weiter in jenen Menschen, die wie Pilatus Stolz und Machtstreben gegenüber Gott den Vorrang gaben.14
Ein Gelehrter des 13. Jahrhunderts sagt über Pilatus, er habe sich mehr gescheut, seine Herrschaft (principatum) zu verlieren, als den obersten Herrscher zu verurteilen, durch den alle Fürsten regieren (per quem omnesprincipes imperant15). Diesen paradoxen Gedanken entfaltet die Legende in einer weltumspannenden Symbolsprache, in der sich wilde Phantasie und philosophische Tiefe untrennbar verschlingen. In dieser Welt ist die Mainzer Abstammung des Pilatus wahr.
II. Sage
Zu den Kennzeichen der Legende gehören besonders in ihrer frühen Fassung die über den gesamten Text verteilten, aus heutiger Sicht oft abenteuerlichen Deutungen der Eigennamen. Selbst der Name des Pilatus wird diesem Verfahren unterzogen und als Zusammensetzung aus „Pila“ und „Atus“ erklärt. In gewisser Weise ist die gesamte Kindheitsgeschichte des Pilatus aus dem Motiv der Namengebung entwickelt – aber auch durch sie beglaubigt. Denn was den heutigen Leser wie eine naive Volksetymologie anmutet, hat für ein mittelalterliches Publikum durchaus Plausibilität: Es entsprach dem damals noch verbreiteten germanischen Brauch, aus dem Namenbestand der väterlichen und mütterlichen Verwandtschaft eines Kindes durch eine sogenannte Sippenkombination den neuen Namen zu bilden. Sehr bald wird deshalb auch der Königsname „Tyrus“ aus der Überlieferung verdrängt, indem der Großvater aus der Namenfindung ausscheidet und bereits Pilatus’ Vater Atus heißt. Auf diese Weise sind tatsächlich beide Sippen, die väterliche und die mütterliche, im Namen des Protagonisten vereinigt.16
Schon eine noch im 12. Jahrhundert entstandene Versbearbeitung17 der Legende überträgt diese Methode von der genealogischen auf die geographische Herkunft des Pilatus:
Urbs fuit insignis, veteres hanc constituere;
Moganus atque Cia fumen rivusque dedere
Nomen et inde fuit primum Moguncia dicta
Nomine composito; non est assercio ficta.
(v. 23–26)
„Es war eine berühmte Stadt, die Altvorderen haben sie erbaut. Moganus und Cia, Fluss und Bach, gaben ihr den Namen, und so wurde sie mit zusammengesetztem Namen ursprünglich Moguncia genannt. Das ist keine Erfindung!“
Die Erklärung des Stadtnamens Moguncia aus dem Zusammenfluss der beiden Gewässer Main (Moganus) und Zaybach – er ist mit dem „rivus Cya“ gemeint - erlaubt zugleich einen Rückblick auf die Entstehung der Stadt. Viele Stadtchroniken arbeiten mit solchen ätiologisch ausgerichteten Etymologien. Im Mittelalter galt diese Form der sprachlichen Analyse als rhetorisches Verfahren zur Wahrheitsermittlung. Mit seiner Hilfe öffnet sich die Pilatuslegende ansatzweise einer anderen, benachbarten Gattung historiographischer Literatur: der Gründungssage.
Ganz andere Interessen hat eine etwa gleichaltrige mittelhochdeutsche Versdichtung über das Pilatusleben. Das nur fragmentarisch und anonym überlieferte Werk, allgemein um 1200 datiert18, stellt wohl die eigenwilligste Bearbeitung des Stoffes dar. Im Anschluss an die „Historia apocrypha“ ist hier der noch mit seinem alten Namen genannte Tyrus König ze Megenze (v. 178) und herrscht über ein Gebiet, das durch die drei Flüsse Mâse Moyn unde Rîn (v. 181) umgrenzt wird. Jagd und Sternkunde, Motive, die durch die Handlungsführung vorgegeben sind, erscheinen zugleich als Ausweis höfisch-adliger Lebensführung. Auch die Astronomie, die als Kunst der fursten unde frîen (v. 228) vorgestellt wird, wird sozial verortet: edele lûte wolgeborn hêten dî kunst ûz irkorn („auserkoren“, v. 229f).
Stärker als in der „Historia“ ist der Akzent, der auf der Bedürftigkeit der Mutter liegt: Tief im Wald bewohnen Pila und ihr Vater Atus eine moosige Hütte, ein arm heimûte (v. 271). Von armûte in die wûstene getriben (v. 272f), bilden sie ein krank gesinde (v. 275). Der neugeborene Knabe selbst aber ist von ausnehmend edler Gestalt. Seine Schönheit verheißt ihm gar ein crône unde ein cunicrîche (v. 316f). Schon bald werden seine hohen Anlagen deutlich, die ihn zum Erwerb von zuht, […] prîs unde […] êre (v. 354f) befähigen. Die Darstellung der „Historia“ wird dabei nachdrücklich umakzentuiert: Pilatus ist es, der seinen Halbbruder an ritterlichen Tugenden und Erfolgen, an „Geschick und Gewandheit, an Schönheit und Anstand“ (v. 364f) überflügelt: mit grôzer unmâze ubirginc in sîn craft (v. 366f).
Damit ist zugleich das geistliche Deutungsmuster des Brudermordes aufgegeben, das Verhältnis der Brüder völlig anders konzipiert. Neid, der in der lateinischen „Historia“ den Gottesfeind anstachelt, herrscht in der mittelhochdeutschen Dichtung auf beiden Seiten. Der eheliche Sohn neidet Pilatus seine ritterliche Überlegenheit, dieser jenem den gesellschaftlichen Status, denn der edlere erreicht viel mehr durh frûnt unde mâge (Freunde und Verwandte, v. 376f). Der legitime Königssohn stützt sein Ansehen auf das weit verzweigte Beziehungsnetz, das die vornehme Welt ihren Angehörigen zur Verfügung stellt, Pilatus dagegen kann nur auf seine persönliche Leistungskraft bauen. Im Streit der Brüder geht es also um nichts Geringeres als um die Legitimation der Ständeordnung: des quam (kam) an dî wâge disses tugint, ienisgebort (v. 378f). Tugendadel steht gegen den Vorrang der Geburt. Die Art und Weise, wie die Brüder schließlich ihren Konflikt austragen, spiegelt diesen Gegensatz: Bei einem gemeinsamen Ausritt greift der edele (v. 390) im Vertrauen auf sein großes Gefolge Pilatus an: der widerstand alleine den andren algemeine (v. 395f). Seine sterke (v. 394) trägt Pilatus den Sieg ein; unmut (v. 392) lässt ihn jede Rücksichtnahme vergessen: dem brudere er den lîb nam (v. 399).
Seine Sympathie für den Helden behält der Erzähler im gesamten überlieferten Text bei, der mit der Unterwerfung der Pontier allerdings abbricht, bevor es zum Eingreifen des Pilatus in die biblische Geschichte kommt. Zentrale Bedeutung erhält dabei die mit geradezu programmatischem Nachdruck verkündete Idee des Tugendadels. Sie ist kennzeichnend für das in der volkssprachigen Epik des 12. Jahrhunderts allenthalben verbreitete Leitbild des Rittertums, das einem neuen Literaturpublikum aus Laien und Kriegern als kulturelles Orientierungsangebot dienen sollte. Im Falle des Pilatuslebens nimmt es eine besondere Färbung an: tugint stellt im Sprachgebrauch der Dichtung keine moralische Qualität, etwa im kirchlichen Sinne, dar, sondern bedeutet physische Überlegenheit, manheit (v. 391) und sterke. Indem Pilatus allein gegen die Übermacht der Anhänger seines Bruders siegreich bleibt, erweist er sich als der überlegene Kämpfer. Hinzu tritt allerdings auch höfische Vornehmheit, vôge (Geschick) und gwande (Gewandheit, v. 364). Damit deutet sich an, dass es nicht allein um das Ausspielen von Körperkraft geht, sondern außerdem um ästhetische Verfeinerung und Stilisierung des Auftretens, um Selbstdarstellung vor einem öffentlichen Forum. Dieses repräsentative Element verweist auf den Hof als Betätigungs- und Bewährungsfeld eines Rittertums, das persönliche Vervollkommnung gegen den Vorrang eines auf der Geburt basierenden Adels setzt. Dass im Zusammenstoß mit dem geburtsständischen Prinzip selbst vor dem Tabu des Brudermordes nicht halt gemacht wird, ist kennzeichnend für das aggressive Potential einer nur oberflächlich kultivierten Kriegermentalität. Der Erzähler motiviert die Tat mit dem unmut des Angegriffenen, als eine in der Hitze des Gefechts begangene Affekthandlung, die ihrem Vollbringer nicht als persönliche Schuld anzurechnen ist. Hier herrscht tatsächlich die ungezügelte Gewalt des Weltstaates, die die lateinische Legende so vehement angeprangert hatte.
In der Folgezeit fand diese höfisch-ritterliche Bearbeitung des Pilatusstoffes freilich keine Nachfolger mehr. In den Vordergrund traten nun Darstellungsformen, die an ein stadtbürgerliches Publikum gerichtet und mehr an sachorientierter Informationsvermittlung interessiert waren als an dichterischer Ausgestaltung. So haben etwa die im Spätmittelalter weit verbreiteten Welt- und Regionalchroniken das Pilatusleben immer wieder behandelt. Mainz wird dabei nicht immer genannt, da es schon Jacobus de Voragine aus seiner gerafften Wiedergabe der Legende getilgt hatte. Auch die ausführliche Version in der älteren, noch gereimten Weltchronik des Wiener Patriziers Jansen Enikel erwähnt Mainz nicht. Anders eine niederdeutsche Fassung der Pilatuslegende19, die ein Kaplan Johannes Vick – ausweislich des Kolophons – in eine 1434 im Schleswigschen Ruhekloster angefertigte Handschrift der Sächsischen Weltchronik einfügte. In ihrem Kernbestand hatte dieses in Prosa verfasste sehr umfangreiche Chronikwerk in sächsischer, d.h. niederdeutscher Sprache das Pilatusleben noch nicht enthalten. Die eingefügte Version stützt sich stärker auf die Tradition der französischen Pilatusstätten, indem sie den Vater als Herrn über Lyon und to Viannen (Vienne; S. 147, 2) einführt. Nur die Geburt selbst wird nach Mainz, in dat biscodum to Mense (ebd., 3) verlegt. Offenbar versucht der Redaktor, unterschiedliche Angaben seiner Quellen20 zu harmonisieren, indem er Abstammung und Geburt auf getrennte Orte verteilt. Er hält die Geschichte für wahr und will sie zuverlässig wiedergeben.
In dieses Umfeld gehört auch Johannes Rothe, dessen thüringische Weltchronik allerdings schon wesentlich deutlicher die sich wandelnden Rezeptionsinteressen erkennen lässt. Noch immer gelten die alten universalen Deutungsmuster, aber sie allein vermögen ein solches historiographisches Großunternehmen nicht mehr zu rechtfertigen. Die Aufmerksamkeit richtet sich immer stärker auf das eigene regionale Umfeld, über dessen Vergangenheit und Ursprung der Geschichtsschreiber Auskunft geben will. Rothe verarbeitet die Pilatuslegende zweimal, neben der Weltchronik, die überwiegend in Prosa verfasst ist, auch in einer gereimten Passionsdichtung. Natürlich nutzt er für seine eingangs zitierte Version keine neuen Quellen: Seine Quelle ist die Sprache, genauer: die Eigennamen und ihre Deutungen. Dabei fußt er ganz auf der voraus liegenden lateinischen Tradition: Er schließt sich bei der Abstammung des Pilatus der Version an, die den Großvater ausscheidet und bereits Pilatus’ Vater den Namen Atus tragen lässt. Der zweite Name, der gedeutet wird, ist der von Mainz, ebenfalls wie im lateinischen Epos als eine Kombination zweier Gewässernamen. Rothe braucht eigentlich nur diese beiden etymologischen Motive zu verbinden, um daraus die Stadtgründungssage zu entfalten. Durch eine kleine graphische Varianz lässt er den König Atus der Pilatusvita zur Sagengestalt Artus werden: Eyn konigk was an dem Reyne gesessen der hiess Athus, den das gemeyne volk noch nennet konigk Arthus. Solche bedeutenden Stifterpersönlichkeiten zu finden – oder auch zu erfinden –, gehörte zur „wohlverstandenen Handwerkskunst in Chroniken und Legenden“ (Uwe Ruberg).21 Rothe befriedigt damit ein Bildungsinteresse seines städtischen Publikums, für das Mainz eine wichtige Bezugsgröße darstellte. Denn der Großteil Thüringens einschließlich der Residenzstadt Eisenach gehörte damals zum geistlichen Sprengel des Mainzer Erzstuhls, und auch Rothe war mithin Mainzer Diözesanpriester. Nach der Darstellung, die er in seiner Weltchronik überliefert, führten die Thüringer Landgrafen, denen er sein Werk widmet, ihre Herrschaft außerdem auf eine Übertragung durch den Erzbischof von Mainz zurück, so dass die Stadt auch für die Legitimation der weltlichen Ordnung relevant war.
Von einer Verbindung zwischen Pilatusgeburt und Mainzer Stadtgründungssage wusste man um 1400 auch andernorts. In einem Vers aus einer Mansfelder Chronik heißt es:
Regula non ficta
Nequam Moguntia dicta
Germen Pilati.22
Zu Deutsch in etwa: „Die Regel ist nicht erfunden: Mainz ist böse, ein Sproß des Pilatus.“ Hier ist der Impuls, der mit der Einführung der Mainz-Etymologie in die Pilatusvita begann, gewissermaßen an sein logisches Ende gebracht und Pilatus selbst zum Stadtgründer oder Stammvater der Mainzer geworden: Die Pilatuslegende ist gleichzeitig Stadtgründungssage von Mainz. Man brauchte sie nicht mehr, um den Lauf der Weltgeschichte zu deuten, sondern den schlechten Charakter der Mainzer zu erklären.






