- -
- 100%
- +
III. Lüge
Johannes Rothe hatte also gute Gründe, warum er die Geschichte von der Mainzer Abstammung des Pilatus für wahr hielt: Das überkommene Geschichtsbild, die Sprachauffassung und auch literarische Konventionen wie die Erzählmuster einer Gründungssage machten sie plausibel. Und doch zeigt seine Version auch deutliche Brüche: Eine Gestalt wie König Artus passt nicht in den Rahmen einer Reichs- und biblisch fundierten Heilsgeschichte, in den Pilatus gehörte. Denn der Name Artus stand für den höfisch-ritterlichen Roman, den die schriftgelehrten Chronisten wegen seiner fiktionalen Erzählweise als „lügenhaft“ verurteilten und bekämpften.23 Dass die legendenhaften Erzählungen, die sich in ihrer Geschichtsdichtung finden, nach unseren Maßstäben ebenfalls erfunden waren, blieb dabei außer Betracht. Und auch das Bild der Mainzer Geschichte sorgt für Irritation. Warum war die Stadt „zerbrochen“? Meinte Rothe damit die Zerstörung im Germanensturm der Völkerwanderungszeit? Das bleibt unklar. Aber jedenfalls zeichnet sich zum ersten Mal ein Bewusstsein für Diskontinuität und Neuanfang, für den Wandel der Zeit in der Geschichte ab. Damit aber gerät das historische Denken ins Wanken, auf dem die Pilatus-Erzählung beruht, denn sie setzt letztlich die Annahme einer überzeitlichen Kontinuität, ja Identität des antiken und des mittelalterlichen Römerreiches voraus.

Abb. 4: Zeitachse: Pilatus (ganz unten) in der Abfolge der Regenten Judäas. Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik, Blatt XCVI (Martinus-Bibliothek Mainz, Inc 12).
Ein Menschenalter später ist dieser Prozess noch weiter fortgeschritten: Der Autor der „Cronica van der hilliger Stat van Coellen“ (nach dem Drucker auch „Koelhoffsche Chronik“24 genannt) verwirft 1499 gleich den gesamten Erzählkomplex um die Bestrafung der Gottesmörder, angefangen bei der Veronikalegende. Diese sei ebenso logenafftich wie die Geschichte van Judas dem verreder wie he… sy geboren gewest van Mentz. […] Des gelichen van Pylatus leven, wie he geboren si van eim konink ind eins mullers dochter ind wie he eins koninks son van Vrankrich erslagen have, dat doch offenbairlichen is widder alle historienschrivere. Want up die zit was noch gein konink van Vrankrich, die lange dairnae in Gallien sin komen […]. Solche Geschichten, so bekräftigt der Autor, syn doch imgronde der warheitgelogen (Blatt Liiii recto).
Die Herkunft aus Mainz ist hier möglicherweise von Pilatus auf Judas übertragen, denn beide Legenden wurden oft zusammen überliefert. Dieser anonyme Chronist vergleicht, bewertet und kritisiert seine Quellen und erweist sich so als Vorläufer der modernen Historiker. Er trägt eine lineare Zeitachse in die Vergangenheit ein und gewinnt so einen Maßstab, um Glaubwürdiges von Unglaubwürdigem zu trennen. Hier ist die Lebensgeschichte des Pilatus nicht mehr wahr, kann es nicht mehr sein – denn sie hat ihre Welt verloren. Römer und Mainzer zugleich: Das konnte Pontius Pilatus in der neuen Welt nicht mehr sein.
1 Johannes ROTHE, Dürin gische Chronik, hg. von Rochus von Liliencron (= Thüringische Geschichtsquellen 3). Jena 1859, Kap. 76, S. 64. Auch als Digitalisat der Universitätsbibliothek Jena zugänglich unter der URL http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00020713.
2 Zum historischen Pilatus etwa Karl JAROŠ, In Sachen Pontius Pilatus. Mainz 2002; Alexander DEMANDT, Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte. Köln 1999.
3 Vgl. Volker HONEMANN, Johannes Rothe in Eisenach. Literarisches Schaffen und Lebenswelt eines Autors um 1400. In: Autorentypen, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (= Fortuna vitrea 6). Tübingen 1991, S. 69–88.
4 Die Genese des Stoffs skizziere ich in meiner Dissertation Andreas SCHEIDGEN, Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur (= Mikrokosmos 68). Frankfurt am Main 2002, S. 31–40.
5 Grundlegend zu den altchristlichen Wurzeln der Legende Ernst von DOBSCHÜTZ, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende (= Texte und Untersuchungen zur altchristlichen Literatur 18 NF 3). Leipzig 1899.
6 Herausgegeben und kommentiert von Joachim KNAPE, Die, Historia apocrypha‘ der ‚Legenda aurea‘ (dt.). In: Zur Deutung von Geschichte in Antike und Mittelalter, hg. von Joachim Knape und Karl Strobel (= Bamberger Hochschulschriften 11). Bamberg 1985, S. 113–172 (Edition S. 146–165).
7 Zeilenzählung nach der Ausgabe von KNAPE (wie Anm. 6).
8 Dazu DOBSCHÜTZ, Christusbilder (wie Anm. 5), S. 233 und 248. Zum römischen Veronikakultus ebd., S. 219f.
9 So Hans Ferdinand MASSMANN (Hg.), ‚Der keiser und der kunige buoch‘ oder die sogenannte Kaiserchronik, Gedicht des zwölften Jahrhunderts, Bd. 3. Quedlinburg, Leipzig 1854, S. 598.
10 Auf die Ebstorf-Karte verwies bereits Joachim KNAPE, Topographie des Heils und räumlicher Weltordo im 12./13. Jahrhundert (Pilatus-Vita und Ebstorfer Weltkarte). In: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vorträge des XI. Anglodeutschen Colloquiums 11.–15. September 1989. Universität Liverpool, hg. von Dietrich Huschenbett und John Margetts (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 7). Würzburg 1991, S. 141–154. Die nachfolgend angestellten Überlegungen versuchen, diesen Ansatz auf Mainz bezogen weiterzuführen. Umfangreiche, z.T. interaktive Informationen zur Ebstorfkarte bieten im Internet z.B. die Seiten der Universität Lüneburg (http://www2.leuphana.de/ebskart/) oder des Landschaftsmuseums Obermain (http://www.landschaftsmuseum.de/Seiten/Museen/Ebstorf1.htm).
11 Zum Westen als Region des Unheils und der Sünde Barbara MAURMANN, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren (= Münstersche Mittelalter-Schriften 33). München 1976, S. 44–46 und 152–160.
12 Zu diesem Begriff Friedrich OHLY, Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena. In: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972) S. 94–158.
13 Zu Forchheim und Vienne als Pilatus-Stätten SCHEIDGEN, Pilatus (wie Anm. 4), S. 108–113 und 82 mit Anm. 81 (Ado). Zum Forchheimer Pilatus existieren verschiedene Theorien, die einflussreichste stammt von Karl HAUCK, Pontius Pilatus aus Forchheim. In: Medium Aevum vivum. Festschrift für Walter Bulst, hg. von Hans Robert Jauss und Dieter Schaller. Heidelberg 1960, S. 104–124. Zu Vienne und Lausanne als Bischofssitzen Vital CHOMEL, Art. Vienne. In: LMA Bd. 8, 1999, Sp. 1645–1650, sowie Gilbert COUTAZ, Art. Lausanne. In: LMA Bd. 5, 1999, Sp. 1762–1765, zum Primat Viennes LMA Bd. 8, 1999, Sp. 1647 (V. Chomel).
14 Dazu SCHEIDGEN, Pilatus (wie Anm. 4), S. 123–125.
15 Ps.-Vinzenz von Beauvais, Speculum morale. Douai 1624. ND Graz 1964, Sp. 6451D.
16 Weiterführend hierzu Uwe RUBERG, Rhetorische und hermeneutische Komponenten literarischer Namendeutung. In: Proceedings of the Thirteenth International Congress of Onomastic Sciences, Cracow, August 21–25, 1978, 2 Bde. Breslau, Warschau, Krakau 1981/82, hier Bd. 2, S. 319–326, mit Hinweis auf Pilatus S. 323.
17 Herausgegeben von Doris WERNER, Pylatus. Untersuchungen zur metrischen lateinischen Pilatuslegende und kritische Textausgabe (= Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 8). Ratingen, Kastellaun, Düsseldorf 1972.
18 Es wurde herausgegeben von Karl WEINHOLD, Zu dem deutschen Pilatusgedicht. Text, Sprache und Heimat. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 8 (1877) S. 255–288 (Edition S. 272–288). – Über seinen Autor hat die Forschung keine Einigkeit erzielt. Ein Teil möchte das Werk Herbort von Fritzlar, dem Verfasser einer höfischen Trojadichtung um 1200 am Hof der Thüringer Landgrafen, zuweisen, doch lässt sich dies nicht mit letzter Sicherheit erhärten. – Im Folgenden übernehme ich meine Interpretation in SCHEIDGEN, Pilatus (wie Anm. 4), S. 148–150.
19 Herausgegeben von Ludwig WEILAND, Niederdeutsche Pilatuslegende. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 17 (1874) S. 147–160.
20 Nach der „Historia scholastica“ des Petrus Comestor, einem wichtigen Nachschlagewerk der Scholastik, stammte Pilatus aus Lyon (dazu SCHEIDGEN, Pilatus, wie Anm. 4, S. 79).
21 Uwe RUBERG, Frauenlob-Gedenken. Das Begräbnis des Dichters im Mainzer Domkreuzgang. In: Domblätter 3 (2001) S. 77–83, hier S. 83.
22 Zit. nach MASSMANN, Kaiserchronik (wie Anm. 9), S. 511, Anm. 5.
23 Dazu Walter HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 21992, S. 66–70.
24 Martinus-Bibliothek Mainz, Signatur Inc 70. Als Digitalisat: http://diglib.hab.de/inkunabeln/131-2-hist-2f/start.htm (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel).
KÖNIG DAGOBERT - DER ANGEBLICHE ZWEITE ERBAUER DER STADT MAINZ
Joachim Schneider
Danach kam König Dagobert, der baute die Stadt Mainz dort wieder auf, wo sie jetzt liegt, vom Grinsturm1 bis zu der Heimenschmiede2 und von der Steinernen Brücke3 bis zur Gaupforte4. Zuvor hatte der König auch eine Burg erbaut am St. Jakobsberg, wo sich aber damals noch kein Kloster befand. Die Burg hieß ‚Dagoberts Wighaus‘5 und lag außerhalb der Stadt. Und eine andere Burg, die zu Zeiten der Römerherrschaft den Bischöfen gehört hatte6, lag unten an der Stadt. Gegenüber beiden Burgen stand die Stadt offen, ohne Mauern und ohne Gräben. Eines Tages kamen die Ritter der Burg und baten den König, dass er ihnen die Stadt übergebe. Das versagte er ihnen und wollte es nicht tun. Daraufhin zogen die Ritter in die Stadt und hielten dort ihren Rat.
Inzwischen unternahm der König eine Reise gegen den Herzog von Böhmen, der heutzutage ein König ist.7 Dabei erwies ihm die Stadt einen großen Dienst, so dass er den Rittern die Stadt anbefahl und ihnen Freiheiten gab, wie sie wollten. Und sie sollten frei sein von Bede, Geschoss8 und von Herrendienst und sollten keinen Herren gegen ihren Willen haben. Und zu größerer Sicherheit gab er darüber der Stadt eine Urkunde mit einer goldenen Bulle9, an einer seidenen Schnur befestigt. Danach sprachen die Bürger und die Handwerker in der Stadt, die Ritter würden sie verraten, und sie wollten, dass die Bürger auch in den Rat gingen in Angelegenheiten der Stadt. Und sie brachen Dagoberts Wighaus auf, so dass sich die Ritter nicht mehr dort zurückziehen konnten, und mauerten die Stadt an dieser Seite zu. Und sie setzten fest, dass ebenso viele Bürger in den Rat gehen sollten wie Ritter. Da 22 Ritter und Rittergenossen im Rat saßen, gingen nun auch 22 der Bürger und Handwerker – und zwar die besten aus diesen – in den Rat. Und solange ein rechtschaffener Mann10 lebte, der im Rat saß, sollte man ihn nicht ablösen. Und wenn einer starb, sollte man einen anderen einsetzen und wählen an seine Statt und darüber eine Urkunde ausstellen.
Damals war Kastel eine Stadt11 und gehörte zum Reich. Und auch das Rheingau gehörte zum Reich, Oppenheim12, die Juden und Bingen und das ganze Land weitum13 und das Gericht zu Mainz gehörten dem König. In Mainz selbst aber hatte der König keine Rechte mehr außer dem Gericht, den Juden und etlichen Hauszinsen, und den Saal und den Hof und den Marstall14. Das alles hat der König15 dem Bischof gegeben16, wie ihr hernach geschrieben findet und hören werdet.
[…]
Auch soll man wissen, dass Kaiser Friedrich17 die städtischen Freiheiten zu Mainz bestätigt hat, auch die goldene Bulle des Königs Dagobert, der die Stadt Mainz erbaute. Der Graf auf dem Rheingau war Burggrafzu Mainz18 auf König Dagoberts Wighaus, und viele Kaiser und Könige haben die städtischen Freiheiten zu Mainz bestätigt, bevor irgendein Bischof zu Mainz Rechte hatte.
Aus der Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ in der sog. Windeck-Fassung, nach 1443
I. Der Mainzer Rat im Spiegel der Dagobert-Legende
Die eingangs wiedergegebene Erzählung entstammt der kurzen Chronik „Ursprung der Stadt Mainz“19, die in diesem Buch auch im Kapitel zu den Mainzer Ursprungssagen genutzt wird20. Der Text berichtet hier von einer zweiten Gründung der Stadt Mainz durch den fränkischen König Dagobert I. (631–638/39) aus dem Geschlecht der Merowinger. Davor war die erste angeblich schon seit ältesten Zeiten bestehende Stadt, der Chronik zufolge21, durch die Hunnen unter König Attila völlig zerstört worden. Die Bezeichnung der Königsburg als wickhuß verweist auf ein festes Steinhaus als Teil einer größeren Befestigung22, die oberhalb der Stadt gelegen habe. Die Umschreibung der angeblich damals neu erstandenen Stadt mit Hilfe von vier im Spätmittelalter markanten Orientierungspunkten an den vier äußeren Ecken des damals bestehenden städtischen Mauerrings23 sollte offenbar verdeutlichen, dass die „Stadt Dagoberts“ von Anfang an mit der Stadt, wie sie der Chronist und seine Leser kannten, identisch war24. Die Verbindungslinie von einer durch den Autor sogenannten Steinernen Brücke (über den Zaybach) hin zum Gautor sollte offensichtlich am Fuße des Kästrich verlaufen. Ausgeschlossen blieb der Vorort Selenhofen, der erst im 13. Jahrhundert in den Mauerring einbezogen worden war. Seitdem ersetzte das Neutor, das später auch als Holztor bezeichnet wurde, die Heimenschmiedspforte als wichtiger Zugang zur Stadt, so dass deren Hervorhebung durch den Text für den Zustand vor der Stadterweiterung folgerichtig ist. Da aber die Heimenschmiede auch danach noch als Orientierungspunkt genutzt wurde,25 ist ihre Heranziehung an dieser Stelle durch den Chronisten andererseits auch nicht überraschend.
In der Überlieferung wird die Chronik vom „Ursprung der Stadt Mainz“ um 1440 greifbar. Ein Exemplar könnte sich damals im Besitz des Mainzer Stadtpolitikers und Chronisten Eberhard Windeck (gest. 1440/41) befunden haben. Windeck, Verfasser einer Königs- und Reichschronik über die Regierungszeit Kaiser Sigmunds (1368– 1437)26, war aber sicher nicht der Autor dieses Textes, da er hierfür lateinischsprachige Überlieferung selbständig hätte bearbeiten und übersetzen müssen, was seine Möglichkeiten überstiegen hätte und auch nicht seiner Arbeitsweise entsprach. Nach Windecks Tod 1440/41 ging der Text vom „Ursprung der Stadt Mainz“ jedenfalls in die illustrierte Überarbeitung und Fortsetzung seiner Chronik ein, die 1443 außerhalb von Mainz, vielleicht in Hagenau im Elsass, entstanden ist. Deren älteste erhaltene Exemplare stammen von etwa 1445.27 Dass der Text über die frühe Mainzer Geschichte aber auch abseits der Windeck-Chronik am Entstehungsort im Spätmittelalter greifbar war, beweisen mehrere Überlieferungsexemplare, die von der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stammen, sowie der Rückgriff darauf durch den Mainzer Benediktinermönch Hermannus Piscator, der sie ins Lateinische übersetzte und für seine große Mainzer Chronik, die zwischen 1520 und 1526 entstand, verwendete.28
Die zweite Gründung der Stadt Mainz nach einer tiefen Krise verbindet der Erzähler der Chronik eng mit dem Rechtsgefüge zwischen König, Bischof und Stadt in Mainz, aber auch mit der Entstehung des städtischen Rates und mit der Machtverteilung in demselben. Unverkennbar spiegeln sich politische Probleme und soziale Konstellationen zum Entstehungszeitpunkt der Chronik in deren Konstruktion der frühen Stadtgeschichte wider. Dabei erhebt sich insbesondere die Frage, wer mit den im Text genannten „Rittern“ gemeint war bzw. welche Gruppen im spätmittelalterlichen Mainz mit diesen identifiziert wurden.
Offenbar stellte sich der Autor adlige Burgmannen des Königs als die Keimzelle des ersten städtischen Rates vor, was auch seiner Hauptthese entsprach, dass der Erzbischof zu Zeiten des Wiederaufbaus der Stadt noch keine Rolle im städtischen Machtgefüge spielte. Auf der Suche nach historischen Parallelen sieht man sich hier an den Rheinischen Städtebund von 1254-1257 erinnert, als Vertreter der Mainzer Bürgerschaft und anderer Städte erstmals eine eigenständige politische Rolle im Reich spielten und am Mainzer Erzbischof vorbei in unmittelbarer Verbindung mit dem Reichsoberhaupt, König Wilhelm von Holland, standen. Die Städte wurden in den Bundesgremien, wie schon in der Keimzelle des Bündnisses, dem Zweierbündnis zwischen Mainz und Worms 1254, durch je zwei „Ritter“ und zwei „Bürger“ aus jeder Stadt vertreten. Mainzer Führungsgestalten während des Rheinischen Bundes wie Arnold, der Inhaber des Walpodenamtes, oder der Kämmerer Arnold zum Turm versahen zwar zentrale erzbischöfliche Ämter, lockerten aber damals ihre Beziehungen zu ihrem angestammten Herrn und akzentuierten, wie besonders bei Arnold zum Turm zu sehen, ihre Ebenbürtigkeit mit der Ritterschaft auf dem Lande.29
Tatsächlich allerdings bestanden die Vorformen des städtischen Rates in Mainz, wie sie erstmals im 13. Jahrhundert greifbar werden, nicht aus Gefolgsleuten des Königs, sondern aus Räten und Vasallen des Erzbischofs sowie aus Amtsträgern desselben, die mit Mainzer Angelegenheiten befasst waren. Im großen Privileg Erzbischof Siegfrieds III. von Eppstein von 1244 wurde den Mainzer Bürgern erstmals erlaubt, einen Rat aus 24 Mitgliedern zu wählen. Ausscheidende Räte sollten durch Nachwahl ersetzt werden. Seitdem bestand die Möglichkeit, dass auch weniger stark dem Erzbischof verbundene Kreise in den Rat gelangten. Neben den gewählten Räten saß jedoch noch bis 1332/33 weiterhin auch eine nicht genauer fassbare Zahl erzbischöflicher Beamter im Mainzer Rat.30
Unabhängig von diesem Gegenüber von gewähltem Rat und delegierten Dienern des Erzbischofs ist allerdings zu beachten, dass grundsätzlich die gesamte städtische Führungsschicht des 13. Jahrhunderts, die den Rat besetzte und aus der großenteils die sogenannten Alten Geschlechter des 14. und 15. Jahrhunderts hervorgegangen sein dürften, mehr oder weniger enge Verbindungen zum Erzbischof unterhielt und weitgehend dessen Ministerialität entstammte.31 Erst nach der Verfassungskrise der Jahre 1332/33 gelangten durch Zuwahl bzw. Entsendung durch die Zünfte erstmals auch nicht den Geschlechtern angehörige Vertreter sowie Handwerker in den Rat.

Abb. 1: König Dagobert übergibt die Stadt Mainz an die Ritter. Darstellung in der illustrierten und überarbeiteten Fassung der „Chronik von Kaiser Sigmund und seiner Zeit“ des Eberhard Windeck (Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 13975, fol. 450r).
Überblickt man diese Entwicklung und kommt nun auf die Frage nach der historischen Zuordnung der im Chroniktext genannten Ritter der Zeit König Dagoberts zurück, so könnten mit diesen zunächst die Ministerialen bzw. ritterlichen Vasallen des Stadtherrn im engeren Sinne gemeint gewesen sein, wie sie noch im früheren 13. Jahrhundert auf Seiten des Erzbischofs auftraten und in der Mitte des Jahrhunderts im Rheinischen Bund erstmals eigenständiges Profil gewinnen. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Text bereits auf den Dualismus zwischen Alten Geschlechtern und Gemeinde anspielt, der seit 1332/33 die innere Mainzer Geschichte bestimmte, zumal die Chronik mehrfach ausdrücklich auch von Handwerkervertretern spricht, die in Auseinandersetzung mit den Rittern Zugang zum Rat erlangt hätten. Dabei läuft die Identifikation der „Ritter und Rittergenossen“ mit der Mainzer Spitzenschicht des 13. Jahrhunderts oder den alten Geschlechtern vom Anfang des 14. Jahrhunderts, die damals auf ihre Alleinherrschaft im Rat verzichten mussten, wie oben schon ausgeführt auf das Gleiche hinaus.
Der entscheidende Akzent des Chronik-Textes liegt hingegen darin, dass er die Herkunft der alten Führungsschicht in Mainz nicht in der Ministerialität des Erzbischofs, sondern in der des Königs verortete. Inwieweit dies wirklich dem Selbstbewusstsein der Mainzer Geschlechter im Spätmittelalter entsprach, ist allerdings ungewiss. Immerhin unterhielten Repräsentanten insbesondere aus dem Geschlecht der zum Jungen im 14. Jahrhundert enge Verbindungen zu Kaiser Karl IV.32, und deren Nachfahren ließen sich im Jahr 1430 von König Sigmund ihre freie und adelsgleiche Herkunft, geborne Wappensgenoße, und Rittermessige, und Hoffleutte, und Dinestleutte, in dem heiligen Romischen Riche zu sein, bestätigen.33
Abgesehen von einer Aufwertung bzw. Umdeutung der alten Mainzer Geschlechter zu einer ursprünglich königsnahen Führungsschicht hatte die Erzählung aber auch den Zweck, das Recht der Gemeindevertreter zu legitimieren, im Mainzer Rat mitzuwirken, indem auch dieser Anspruch bis in die Zeiten der zweiten Gründung der Stadt zurückdatiert wurde. Auffällig ist dabei die Annahme, dass die Vertreter aus Handwerker- und Bürgerschaft zu König Dagoberts Zeiten den Rittern sowohl an Zahl als auch an Rechten vollkommen gleich gestellt gewesen sein sollten und dass die Vertreter beider Gruppen damals grundsätzlich auf Lebenszeit amtierten. Der seit 1333 gültigen Ratswahlordnung zufolge wurden hingegen die 29 Vertreter der Gemeinde jährlich durch ihre Zünfte neu bestimmt, während nur die Vertreter der Alten grundsätzlich lebenslang im Rat verblieben.34 In diesem Punkt stimmte die durch den Chronisten entworfene Konstellation in Mainz nur zwischen 1437 und 1444 mit den tatsächlichen Gegebenheiten überein, als 14 zünftige Gemeindevertreter und 14 Vertreter der Alten den Rat bildeten und alle Räte grundsätzlich auf Lebenszeit amtierten. Auch die Zuwahl der Räte im Falle, dass ein Platz frei geworden war, erfolgte damals grundsätzlich durch den amtierenden Rat, nicht durch die Zünfte wie noch nach der Verfassungsänderung von 1333.35 So ist zu erwägen, ob die Chronik „Vom Ursprung der Stadt Mainz“, anders als in der Datierung durch die bisherige Forschung36, nicht erst in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist37. Auf weitere Indizien für eine besondere Aktualität des Textes zur damaligen Zeit angesichts mehrmaliger Verfassungskrisen und heftiger Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und dem damaligen Erzbischof38 wird weiter unten im entsprechenden Zusammenhang näher eingegangen.
II. Entstehung der Mainzer Dagobert-Legende
Die Behauptung, der fränkische König Dagobert sei der zweite Erbauer der Stadt Mainz, ist zwar eine Erfindung39, doch geht diese nicht auf den Autor der hier zitierten Erzählung aus dem Spätmittelalter zurück. Vielmehr tritt sie bereits im 11. Jahrhundert erstmals auf. Der damalige Lehrer am Mainzer Dom Gozwin fügte seiner lateinischen „Passio Albani“ über das Leben des in Mainz im 5. Jahrhundert ermordeten Märtyrers Alban einen größeren Exkurs über die Mainzer Geschichte ein.40 Dort heißt es, nach der Heimsuchung durch den Hunnenkönig Attila sei Mainz durch fränkische Könige und insbesondere durch König Dagobert wieder aufgebaut worden. Danach habe sie nicht nur ihre frühere, sondern sogar eine noch größere Würde als ehedem erlangt: Denn Mainz sei nun zur Hauptstadt des Ostfränkischen Reiches und zur Metropole Galliens, Germaniens und aller Städte diesseits der Alpen berufen worden.41
Beeinflusst durch diese Nachricht der „Passio Albani“ sind eine Reihe von Gedenkbucheinträgen Mainzer Klöster: So wird eine von Dagoberts Schwiegertöchtern als angebliche zweite Äbtissin des Altmünsters genannt, während ein anderer Eintrag des „Heiligen“ Dagoberts, des Erbauers der Stadt Mainz, gedachte und Dagobert I. in diesem Falle offenbar mit dem heilig gesprochenen Dagobert II. (gest. 679) verwechselte.42 Noch aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammt der Eintrag in einem Mainzer Martyrologium, wonach man am 19. Januar jeden Jahres des Königs Dagobert, des Wohltäters der Mainzer Kirche, gedachte. Indizien für eine echte oder gefälschte Schenkungsurkunde des Königs zugunsten des Domes oder Erzstifts, auf die sich dieser Eintrag beziehen könnte, gibt es jedoch nicht.43 Engere Verbindungen des Merowingers nach Mainz zeigen lediglich zwei gefälschte Urkunden für das Bistum Worms bzw. für das Kloster St. Maximin in Trier, deren Ausstellung im Jahre 628 bzw. 634 in Dagoberts Königspfalz in Mainz erfolgt sein sollte.44 Bevor diese Urkunden im 19. Jahrhundert endgültig als Fälschung erkannt wurden, waren sie zusammen mit dem Kapitel der Passio der Ausgangspunkt von Historikern und Archäologen für die Suche nach einer Königspfalz der Merowinger in Mainz. Bis heute konnten jedoch keine archäologischen oder andere Belege dafür gefunden werden.45 Nachweislich hat sich Dagobert dagegen nur ein einziges Mal, auf der Durchreise zu einem Kriegszug gegen die Wenden, wohl im Jahr 630/31 in Mainz aufgehalten.46






