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Gertrud von le Forts Anliegen blieb es nicht zuletzt, das biblische Zeugnis in die Sprache und Vorstellungswelt der Gegenwart zu übertragen, wobei sich in ihrem Werk zwei Hauptaspekte, der prophetische und der eschatologisch-verheißende, abzeichnen. Die literarische Rezeption der Bibeltexte bei ihr umfasst paraphrasierende Texte, aktualisierende Inhalte und transfigurierende Neuschöpfungen, wie etwa in der Novelle „Die Tochter Jephtas“ (1964), wo die biblischen Gestalten ihrer historischen Kostüme entkleidet werden.17 Ihre dichterische Aufgabe insgesamt begriff sie im Sinne dessen, was ihr protestantischer Kollege Jochen Klepper einmal stellvertretend für zahlreiche christliche Autoren formulierte: als „menschlichen Lobgesang in Antwort auf das göttliche Wort“.18
Wissenschaftliche Rezeption des Werkes
Die Pluralität der Perspektiven, Methoden und nicht zuletzt auch der persönlichen Voraussetzungen, mit welchen die Forschung den Werken Gertrud von le Forts begegnet, ist mittlerweile unüberschaubar geworden und lässt deshalb jede Darstellung des Forschungsstands19 und der Rezeption unvermeidlich als bruchstückhaft erscheinen. Neben Literaturwissenschaftlern beschäftigen sich vor allem Philosophen und Theologen mit der le Fortschen Dichtung, und dies schon längst über den deutschen Sprachraum hinaus.
Ein bedauernswerter Mangel ist zweifellos das Fehlen einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Gertrud von le Forts als unabdingbare Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung. Größtenteils unerforscht blieb darüber hinaus der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar aufbewahrte Nachlass der Dichterin, wobei jedoch mittlerweile ein zunehmendes Interesse an einer Auswertung der Korrespondenz Gertrud von le Forts zu beobachten ist. Erwähnenswert sind auch die Ausstellungen und die dazu veröffentlichten Kataloge, welche noch in enger Zusammenarbeit mit Eleonore von la Chevallerie, der letzten Sekretärin Gertrud von le Forts (1961 – 71), zusammengestellt wurden.20
Besonders zwischen 1945 und 1955, auf dem Höhepunkt des Ruhms der Autorin, entstanden zahlreiche Arbeiten zu ihrem Werk. In ihnen werden meist Bezüge zu den theologischen Quellen aufgezeigt sowie Parallelen zur dogmatischen Gestaltung ihrer Themen präsentiert. Ansätze zu einer Betrachtung unter konfessionellen Gesichtspunkten bleiben häufig an der Oberfläche einer statistischen Aufzählung und Gruppierung und begnügen sich mit äußerlicher Betrachtung christlicher Motive in einzelnen Werken. Bei der Durchsicht dieser Forschungsliteratur ist festzustellen, dass die meisten Beiträge paradigmatisch orientiert sind und der sprachlichen Präsentation der religiösen Thematik kaum Aufmerksamkeit widmen. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die den le Fortschen Werken zugrunde liegende religiöse Sicht und zeigen häufig den Zusammenhang zwischen dem religiösen Paradigma der Dichterin und ihrer Dichtung auf. Darüber hinaus werden spirituelle und moralisch-didaktische Bedeutungsinhalte behandelt. Ihren Bezugspunkt finden diese Arbeiten in der Erschütterung durch die Kriegsfolgen. Sie sind weniger eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der le Fortschen Dichtung, sondern suchen in ihr vielmehr eine „Botschaft“ für die Nachkriegszeit. Die theologisch-philosophischen Darstellungen vernachlässigen dabei ein tieferes Eindringen in die Problematik der Persönlichkeit der Autorin, und sie beinhalten auch keinen Gesamtüberblick über ihr Werk und dessen Entwicklungsstränge.
Gertrud von le Forts literaturgeschichtlicher Standort bleibt bis heute ungeklärt, was bedeutet, dass es nur wenige Arbeiten gibt, die ihr Schaffen in die verschiedenen kulturellen und literarischen Kontexte und Diskurse der Jahrhundertwende, der Weimarer Republik, des „Dritten Reiches“ und der Nachkriegszeit einordnen. Vor diesem Hintergrund wäre „die größte Dichterin der Transzendenz unserer Zeit“, wie Carl Zuckmayer sie einmal nannte,21 angemessen zu würdigen, auch in ihrer fortdauernden Bedeutung.
Schriften von Gertrud von le Fort: Erzählende Schriften. 3 Bde. München/Wiesbaden 1956 – Der Turm der Beständigkeit. Novelle. Wiesbaden 1957 – Die letzte Begegnung. Novelle. Wiesbaden 1959 – Das fremde Kind. Erzählung. Frankfurt a. M. 1961 – Die Tochter Jephtas. Eine Legende. Frankfurt a. M. 1964 – Das Schweigen. Eine Legende. Zürich 1967 – Unsere liebe Frau vom Carneval. Eine venezianische Legende. Zürich 1975 – Gedichte. München 1970 – Die ewige Frau. Die Frau in der Zeit. Die zeitlose Frau. Essays. München. Erw. Ausg. 1960 – Woran ich glaube und andere Aufsätze. Zürich 1968 – Aufzeichnungen und Erinnerungen. Einsiedeln/Zürich/Köln 1951 – Hälfte des Lebens. Erinnerungen. München 1965.
Sekundärliteratur: Hedwig Bach (Hg.): Dichtung ist eine Form der Liebe. Begegnung mit Gertrud von le Fort und ihrem Werk. München 1976 – Eugen Biser: Überredung zur Liebe. Die dichterische Daseinsdeutung Gertrud von le Forts. Regensburg 1980 – Lothar Bossle/Joël Pottier (Hg.): Christliche Literatur im Aufbruch. Im Zeichen Gertrud von le Forts. Würzburg 1988 – Diess. (Hg.): Deutsche christliche Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Würzburg/Paderborn 1990 – Aleksandra Chylewska-Tölle: Literarische Entwürfe und Formen der Wandlung im Werk Gertrud von le Forts. Frankfurt am Main 2007 – Sabine Düren: Die Frau im Spannungsfeld von Emanzipation und Glaube. Eine Untersuchung zu theologisch-anthropologischen Aussagen über das Wesen der Frau in der deutschsprachigen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Edith Stein, Sigrid Undset, Gertrud von le Fort und Ilse Stach. Regensburg 1998 – Gertrud von le Fort. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Marburg. Zusammengestellt von Eleonore von la Chevallerie. Marburg 1983 – Roswitha Goslich: Orientierungssuche im Zeitalter der Angst. Gertrud von le Forts Weg zur Mystik. Hildesheim/Zürich/New York 2003 – Antje Kleinewefers: „Eine ganz neue Liebe zur Liebe“. Gertrud von le Fort. Annweiler 2003 – Renate Krüger: Aufbruch aus Mecklenburg. Lebenswelten der Gertrud von le Fort. Norderstedt 2000 – Joël Pottier: Zwischen Ernst Troelsch und Edith Stein: Gertrud von le Forts einsamer Weg. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie, 34 (2002), 185 – 225 – Helena Mary Tomko: Sacramental Realism: Gertrud von le Fort and German Catholic Literature in the Weimarer Republik und 3rd Reich (1924 – 1946). London 2007
Theodor Haecker (1879 – 1945)
Theodor Haecker
Christliche Existenz im totalitären Staat
Hildegard K. Vieregg
Am 11. Februar 2000 übersandte mir Gerhard Schreiber, der Ur-Enkel des Verlagsgründers Ferdinand Jakob Schreiber, zudem Gründer des J. F.-Schreiber-Museums in Esslingen, eine Einladung zum Nachmittagstee für den 28. April. Anlass war die Verleihung des Theodor-Haecker-Preises 2000 „für politischen Mut und Aufrichtigkeit“ an Sinaida Gontschar, die für ihren seit Monaten verschwundenen Mann, den Reform- und Oppositionspolitiker gegen die Lukaschenko-Diktatur in Weißrussland, die Auszeichnung im Sinne des Namensgebers entgegennehmen sollte.
Gerhard Schreiber, dessen Großvater wohl als Erster die Begabung Haeckers erkannt hatte, ist auch selbst ein wichtiger Zeitzeuge zu Leben und Überzeugungen Theodor Haeckers.
In Esslingen, der eigentlichen Heimatstadt Theodor Haeckers (geboren 1879 in Eberbach am Neckar), wo er von 1894 bis 1901 eine Kaufmannslehre machte, ahnte damals wohl niemand, dass er die Existenzialphilosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen sollte. Theodor Haecker, der „Einzelgänger“ (Otl Aicher), zählt heute zu den bedeutendsten christlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und konnte zu einer Leitfigur der Kulturkritik und christlichen Kulturphilosophie avancieren.
Der junge diplomierte Buchdrucker und Verlagsbuchhändler Gerhard Schreiber (1922 – 2007) wurde stark geprägt durch Theodor Haecker, der den Lebensunterhalt für sich und seine Familie vierzig Jahre lang als Mitarbeiter in der Münchener Niederlassung des Schreiber-Verlages verdiente und ab 1941, nach dem Tode des Großvaters Schreibers, hauptverantwortlich für den Verlag war.
In dem Brief zur Tee-Einladung steht zu lesen:
„Als Theodor Haecker nicht mehr öffentlich auftreten durfte, wurde der Haecker-Kreis für ihn immer wichtiger. Von den treuen Freunden, die sich um ihn zusammenfanden, hatte ich zu einigen ganz besonders enge Kontakte. Ich denke dabei vor allem an Dr. Stefl von der Bayerischen Staatsbibliothek, an Dr. Wild, den Verleger des Kösel-Verlages, an Professor Seewald mit seiner Frau und Professor Heinrich vom Wilhelmsgymnasium.
Ein Gegenstand spielte bei diesen Treffen immer eine große Rolle, nämlich eine große schwarze Teekanne, die an Silvester auch heißen Punsch von sich gab – bis spät in den neuen Morgen. Diese Kanne gibt es noch.
Meine Frau und ich freuen uns sehr, wenn Sie am Freitag 28. April 2000 um 16.00 Uhr zu uns in den Hölderlinweg 146 kommen, um Form und Inhalt der Kanne zu prüfen und dabei die Tradition eines guten Gesprächs fortzusetzen.“
Das war ganz im Sinne Theodor Haeckers.
Eine zweite Persönlichkeit, die als lebenslange Zeitzeugin für Werk und Wirken Theodor Haeckers steht, ist seine Tochter Irene (1921 – 2000). Sie gab den wohl charakteristischsten Gegenstand aus der Lebenswelt Theodor Haeckers weiter – seinen blau-grau-schwarz-melierten Füllfederhalter mit der Goldfeder –, als Zeugnis dafür, dass damit die schwere Zeit des Nationalsozialismus in den „Schreibenächten“ durchstanden wurde. Theodor Haecker arbeitete tags im Schreiber-Verlag und nachts geheim in seiner Wohnung im obersten Stockwerk des Verlagsgebäudes. Nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1935 lebte er hier mit seinen drei Kindern. Das erklärt auch die Vertrautheit der Tochter mit dem Werk ihres Vaters und dessen ausgewähltem Freundeskreis.
Die wohl bekanntesten Werke in seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus sind „Vergil – Vater des Abendlandes“ (1931, rev. 1933) und die „Tag- und Nachtbücher 1939 – 1945“. Letztere beanspruchten seine Nächte – doch er schien sie nicht zu zählen: „Die wievielte Schreibenacht ist heute? Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gezählt. Sie waren das Glück meines Lebens. Und doch habe ich mich in jeder Nacht gegen ihre Mühen gewehrt, ehe ihr Glück mich überwältigte.“1
Es fällt schwer, Theodor Haecker, dem Kulturphilosophen, einem der bedeutendsten Kulturkritiker der Weimarer Republik, dem Schriftsteller, Übersetzer wegweisender Werke, dem christlichen Philosophen, dem Denker und Visionär gerecht zu werden, repräsentiert er doch als Intellektueller in ganz charakteristischer Weise den christlichen Existenzialismus2 in einer das Christentum gefährdenden Zeit.
Otl Aicher, ein weiterer Zeitzeuge,3 beschreibt in seinem 1985 erschienenen Buch „innenseiten des kriegs“ die Persönlichkeit Haeckers aus seiner Sicht:
„ich lernte theodor haecker kennen, läutete in der möhlstraße in münchen. er hatte einen etwas kantigen, schwäbischen kopf mit hellen augen und einem wäßrigen fernen blick. der mund war gepreßt, die kleine nase offenbar durch eine verletzung etwas seitlich eingedrückt. er ging schlecht, stützte sich immer auf und sprach wenig. er war zugemauert wie eine festung, von der man nicht wußte, gegen wen sie gebaut worden war. was er sagte, hatte er vorher dreimal durchdacht. so schrieb er auch. langsam. immer denkend. lachen konnte er nicht mehr, er lächelte nur, dann aber strahlend, mit genuß, nach innen. im innern dieser festung mußte es kämpfe gegeben haben. er konnte sarkastisch werden. da gab es ein arsenal von waffen. bissige satire, tötende ironie, verletzenden spott. er kämpfte mit aller kraft gegen ein falsches denken, das falsche denken bei andern, das falsche denken bei sich selbst.“4
Haeckers christlicher Existenzialismus: Rezeption von Søren Kierkegaard und John Henry Newman
Theodor Haecker war viele Jahre lang ein Suchender und Ringender um die Wahrheit, die er so auffasste wie Søren Kierkegaard (1813 – 1855), nämlich als eine „Bewegung des Menschen in der Zeit“, und das aus diesen Zeitumständen bedingte Nachdenken über das Christentum. Auch der englische Kardinal John Henry Newman (1801 – 1890), von 1851 bis 1857 der erste Rektor der Katholischen Universität von Dublin/Irland, war einer von Haeckers Vorbildern, ja Wegweisern. Dieser hatte das Streben nach Wahrheit vielfach in den Mittelpunkt seiner spirituellen Reflexionen und Predigten gestellt: „Alle, die der Wahrheit folgen, sind auf der Seite der Wahrheit, und die Wahrheit wird obsiegen. Wenige an der Zahl, aber stark im Geist.“5
Einige Tage nach der Geburt seiner Tochter Irene konvertierte Haecker unter dem Einfluss der Schriften Newmans am 5. April 1921 zum katholischen Glauben. Etwa zur gleichen Zeit hatte er auch den Plan, John Henry Newmans bedeutendes Werk „The Development of Christian Doctrine“ (1845; rev. 1878), worin das Gebot moralischen Denkens und Handelns eine der zentralen Fragen darstellt, ins Deutsche zu übersetzen. Newman betonte in seinen zahlreichen Werken immer wieder die Kontinuierlichkeit in der Entwicklung der christlichen Lehre. Diese „Doktrin“ werde weniger beeinflusst durch Veränderungen oder Innovation als vielmehr durch die Entfaltung dessen, was in der Offenbarung schon enthalten ist. Die Vergangenheit wird dabei gedeutet als eine Art „Aufruf“ hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen. Das erste Kapitel des genannten Newman’schen Werkes befasst sich mit der Entwicklung von Ideen – von mathematischen, physikalischen bis hin zu historischen, ethischen und logischen.
Wichtige Ideen fand Haecker auch bei Søren Kierkegaard, dem dänischen Philosophen, Theologen und Schriftsteller. 1913 erschien im Schreiber-Verlag Haeckers erste, ganz unter dem Einfluss Kierkegaards stehende kulturkritische Schrift „Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit“.
Haecker hatte Kierkegaards umfangreiche Tagebücher (Bd. I: 1834 – 1848, Bd. II: 1848 – 1855) aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt und sich dabei vertiefend mit der menschlichen Existenz befasst, die für ihn, einen Menschen von schwermütiger Natur, durch die Erfahrung von Leid und Not, Angst und Tod bestimmt ist.
Eine wichtige Publikation Haeckers aus dem Jahre 1932 trägt den Titel „Der Begriff der Wahrheit bei Sören Kierkegaard“. Wahrheit ist laut Kierkegaard nicht „lehrbar“, aber in den „aufsteigenden“ Begriffen von Ästhetik, Ethik und vor allem Religion „erfahrbar“. Haecker verband diesen Wahrheitsbegriff mit seiner Zeit und seiner Spiritualität. Mit diesen „Ideenlehren“ Kierkegaards und Newmans war der Grund gelegt zu Haeckers Gegnerschaft zur nationalsozialistischen Ideologie.
Im Vorwort Haeckers zur zweiten Auflage des Kierkegaard-Diariums ist dann unter anderem zu lesen: „Menschen der Erinnerung sind es auch, die in der Hauptsache Tagebücher schreiben, und natürlich auch Konfessionen. (...) Jedes Tagebuch ist zum mindesten ein Bekenntnis, mit welchen Dingen und Gedanken der Schreiber an einem bestimmten Tag sich beschäftigt hat ...“6
In seinen Lebenserinnerungen7 mit dem Titel „Die Zeit befiehlt’s, wir sind ihr untertan“, beschreibt Richard Seewald (1889 – 1977), der die Illustrationen zum „Vergil“ schuf, seine Begegnungen mit Theodor Haecker ab 1911/12 in München. Während Haecker, von 1905 bis 1910 als „cand. phil.“ in München – vor allem bei Max Scheler (1874 – 1928) – immatrikuliert, seinen Lebensunterhalt als Redakteur der illustrierten Wochenschrift „Meggendorfer Blätter“ verdiente, war Seewald für diese als Zeichner tätig. Beide waren sich wohl in der Redaktion des Schreiber-Verlags begegnet. Diese Freundschaft dauerte bis zum Tode Theodor Haeckers am 9. April 1945 in Ustersbach bei Augsburg.
Die Redaktion charakterisiert Seewald als eine „durchaus merkwürdige Persönlichkeit (...), denn neben diesem Philosophen, der eben sein Buch ,Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit‘ geschrieben hatte, saß in ihr noch ein protestantischer Theologe namens Peterson, der humoristische Kurzgeschichten schrieb, und der jüdische Rechtsanwalt Harry Kahn, von dem dann und wann Lustspiele im Schauspielhaus aufgeführt wurden.“8
Seewald berichtet, dass der Freundeskreis um Theodor Haecker jedes Jahr im Herbst nach Diessen am Ammersee fuhr und ein „heiteres Symposium“ veranstaltete: „Haecker, Ludwig Heinrich,9 Schreiber, Hans Rupé,10 Max Stefl und ich. Ein paar Mal war auch Ficker aus Innsbruck zu Gast. Das Fest ging in einer kleinen Pension vonstatten, die von einer ehemaligen Köchin der österreichischen Botschaft in Bukarest geführt wurde.“11 Im Juni desselben Jahres treffen sich Max Stefl und der Herausgeber der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“, Karl Muth (1867 – 1944), zu einer Vorbesprechung über den Abdruck der Übersetzung von Kierkegaards Tagebüchern.
Theodor Haecker als Schriftsteller
Theodor Haeckers Ruf als Schriftsteller, Kulturphilosoph, Satiriker und Warner vor einem totalitären Staat begründeten seine schon in den Zwanzigerjahren verfassten Beiträge im „Brenner“, einer von Ludwig von Ficker in Innsbruck herausgegebenen kritisch-satirischen Zeitschrift, sowie im „Hochland“ und anderen Schriften, die selbst einem Thomas Mann auffielen.12 Mann war nach der Lektüre von Haeckers „Was ist der Mensch?“ (1933), einer Sammlung von Essays, die dieser Jahre später der Widerstandsgruppe Weiße Rose zur Kenntnis brachte, sehr angetan von dessen katholisch-oppositioneller Humanität.13
Karl Kraus sagte Hinrich Siefken zufolge vom „Brenner“, er „sei die einzige zeitschrift, die man in österreich noch lesen könne. sonst war haecker nicht einzuordnen, er war nirgendwo angepaßt, auch nicht in seinen themen. im ,brenner‘ hatte er als einer der ersten über kierkegaard geschrieben, er hat ihn übersetzt, und seine monographie ,sören kierkegaard und die philosophie der innerlichkeit‘, schon vor dem ersten weltkrieg ...“14
Haeckers schriftstellerisches Werk der dreißiger Jahre ist ein außergewöhnliches Zeugnis der christlichen Widerstandsliteratur. Themen wie „Was ist der Mensch?“ und „Der Christ und die Geschichte“ (1935) wurden ihm zum persönlichen Anliegen, das er in zahlreichen Vorträgen und bei Leseabenden vermittelte. Es geht dabei um das christliche Menschenbild, das frei ist von Überheblichkeit und Machtanmaßung. Das Gegenbild dieser Vorstellung verkörperte für Haecker „Die Bestie“. Diesen Titel trug schon 1923 ein Text im „Brenner“. Er bezog sich auf ein Mussolini-Standbild. Haecker kommentierte darin den von einer „Bestie“, einem Diktator, gelenkten Staat mit den Worten: „Mit der Deifikation des Staates gleichen Schritt hält die Bestifikation des Menschen.“15 Wenn der Staat verherrlicht und zum absoluten Richtmaß wird, wenn er an die Stelle Gottes tritt, geht in gleichem Maße damit ein Werteverlust einher, gehen humane und ethische Werte verloren, kurz: wird der Mensch eben zur Bestie. Im Februar 1924 wurden auf ausdrücklichen Wunsch Haeckers Belegexemplare der Ausgabe des „Brenner“ mit diesem hochpolitischen Artikel an Münchener Zeitungen geschickt. Damit ist unschwer nachzuvollziehen, dass sich diese zuerst über Mussolini geäußerte Kritik auch an Hitler und den Nationalsozialismus richtete.
Im Werk Haeckers ist immer wieder der Rückbezug auf die beiden Denker des Glaubens Kierkegaard und Newman festzustellen. In diesem Sinne vertrat er auch die Philosophie des „christlichen Existenzialismus“. Dabei ist schwerlich zu sagen, an welcher der beiden Persönlichkeiten sich Haecker stärker orientiert hat. War es zunächst wohl Kierkegaard, so wurde späterhin der Einfluss Newmans entscheidender, insbesondere, was die Konversion Haeckers zum katholischen Glauben betraf.
Im Rahmen seiner Übersetzung von Kierkegaards Tagebüchern befasste sich Haecker wie der dänische Philosoph intensiv mit der menschlichen Existenz.
Der Ankündigung des ersten Bandes im Verlagsbericht des Brenner-Verlags vom Frühjahr 1923 ist eine vielsagende Tagebuchnotiz Kierkegaards vorangestellt. Sie lautet: „Es gibt einen Vogel, der Regenprophet heißt, und so bin ich; wenn in der Generation ein Ungewitter anfängt sich zusammenzuziehen, so zeigen sich solche Individualitäten, wie ich bin.“16
Als Unheilseher, bezogen auf die eigene Existenz, betrachtete Haecker auch sich selbst, und er sah die katastrophale Entwicklung des Nationalsozialismus voraus. Allerdings interpretiert Haecker die von Kierkegaard entworfenen Existenzkategorien – die ästhetische, die ethische und die religiöse – hinsichtlich der Theodizee trinitarisch.17
In seinem Buch „Der Begriff des Menschen und die Wahrheit“ (1937) widmet Haecker der Existenzphilosophie ein eigenes Kapitel. Er unterscheidet dabei zwischen Existenzphilosophie und Existenzialphilosophie und schreibt: „Existentialphilosophie ist entstanden als Reaktion auf die deutsche idealistische Philosophie. Sie ist zunächst einmal einfach ein Auf-den-Leib-Rücken gegen einem bloßen Auf-den-Gedanken-Rücken oder Auf-den-Begriff-Rücken der idealistischen Philosophie. Am Beginn der Existentialphilosophie steht Sören Kierkegaard, wie der Ahn der Existenzphilosophie Sokrates ist.“18
Vergil – Vater des Abendlandes
„Ich muß ein Wort verlieren – möge es nicht verloren sein!“ – so beginnt Haecker das neunte Kapitel seines Buches „Vergil. Vater des Abendlandes“ zum Thema „Vergil und die Deutschen“. Er verweist dabei auf den großen Verlust des Vergil’schen Gedankengutes, das noch jedem „guten Europäer“ bis ins 18. Jahrhundert hinein geläufig war. Nun aber sei „das Auge des Deutschen (...) krank und schielend geworden“.19
Bernhard Hanssler zeichnete in seinem Vortrag „Vergil und das Abendland“ anlässlich einer Haecker-Tagung in Stuttgart-Hohenheim ein praxisnäheres Bild von den Hirten, Bauern und Herrschergestalten des Vergil’schen Werkes: „Aeneas rettet sich aus dem brennenden Troja. Schon diese Szene ist das verdichtete Bild der ganzen Darstellung: Aus dem Feuer der Geschichte retten sich die Handelnden, indem sie die Vergangenheit teils zurücklassen, teils mitnehmen, vor allem aber die Möglichkeiten der Zukunft in Sicherheit bringen im Geleit der göttlichen Mächte.“20
Haeckers Buch war zum zweitausendsten Geburtstag Vergils erschienen. Er vertritt darin das Maß einer christlichen Daseinsordnung als Erbe der Griechen. Otl Aicher nennt diese Publikation ein „fast theologisches buch“, „eine auseinandersetzung mit der philosophie der zeit“, aber vor allem auch ein „politisches buch (...) – eine zornige, prophetische abrechnung mit den neuen herren, ihren wegbereitern und epigonen. gewiß, geschrieben in einer verschlüsselten sprache, aber wer sie lesen konnte, behielt das buch in seiner rocktasche.“21
Haecker und das Christentum waren eins, seine Philosophie und das Christentum sind ohne einander nicht zu denken.
Als Beispiele für die geistige Gegnerschaft Haeckers zum Nationalsozialismus mögen etwa die Kommentare über Symbole des NS-Staates dienen, die dem Christentum und seiner humanitären Philosophie auf extreme Weise widersprechen, wie beispielsweise das Hakenkreuz. Dieses entlarvte er als Zeichen des Antichrist und „objektiven Schwindels, bei dem nicht einmal die [politische] Bewegungsrichtung festliege“, als „die letzte deutsche Schmach dieser Tage: das Zeichen des Tieres, die Karikatur des Kreuzes“,22 und reihte es ein in das „vergängliche Gewalttätige“. Am Ende des Epilogs seines Werkes geht er ein auf die „populäre Meinung des Mittelalters, daß Vergil ein Prophet und Magier war. Seine einzelnen Worte und Sätze (...) geben (...) Ausdruck dem Leid und der Schwermut, aber auch wieder der Hoffnung auf bessere Tage ...“.23 Auch Haecker war ein Visionär, der das nahende Unheil durchschaute.
Haeckers „Vergil“ wurde von Zeitgenossen in seinem Sinne rezipiert. So hatte sich Willi Graf, später Mitglied der Kerngruppe der „Weißen Rose“, angeregt durch den mit Haecker zusammenarbeitenden Philosophie- und Theologiestudenten Aloys Goergen – später Professor für Philosophie der Ästhetik an der Münchener Akademie der Bildenden Künste und Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Bamberg –, schon in den Dreißigerjahren mit den Schriften Haeckers, insbesondere mit dem „Vergil“ beschäftigt.
In dem Essay „Der Begriff der Wahrheit bei Sören Kierkegaard“, aus dem Karl Muth 1933 im „Hochland“ Auszüge veröffentlichte, befasst Haecker sich mit dem nahenden Unheil. Auch in einem Vortrag zum Thema „Das Chaos der Zeit“ vor dem Verband katholischer Akademiker im Auditorium Maximum der Münchener Universität am 17. November 1933 brachte Haecker wiederum seine Angriffe auf den Nationalsozialismus zum Ausdruck.






