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Im Dezember 1932 kam die Zeitschrift „Brenner“ mit einem auffallenden Streifband ins Weihnachtsgeschäft, zusätzlich wurden einhundertsiebzig Frei- und Rezensionsexemplare verschickt. Haeckers Freund Max Stefl verhandelte mit Ficker, dem Verleger, sogar darüber, ob man diesen Abschnitt über das „Reich“ nicht sogar als Massenbroschüre herausbringen könne, denn die unterschiedliche Auffassung vom „Reich“ sollte an ein breites Publikum gelangen.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kam Haecker dadurch in große Gefahr; er geriet in den Verdacht staatsgefährdender Aktivitäten: Einmal hatte Karl Muth im „Hochland“ noch im März 1933 daraus zitiert. Aufgrund der Presseverordnungen vom 30. Januar 1933 war Haecker gezwungen, Ficker per Einschreiben am 4. April 1933 schriftlich zu beauftragen, eine Schwärzung der anstößigen Seiten vorzunehmen, was diesem jedoch nicht mehr gelang.
Der Münchener Kulturbeirat beantragte wegen dieser Veröffentlichung eine sechsmonatige „Schutzhaft“ gegen Haecker; das Verfahren wurde glücklicherweise niedergeschlagen.
Haecker glaubte sich nun sicher, unternahm eine Fahrt auf den Spuren Catulls und Vergils. Doch nach seiner Rückkehr wurde er am 20. Mai 1933 verhaftet.24
Haeckers Wohnung wurde nach „Brenner“-Heften durchsucht, Haecker jedoch infolge der Intervention eines Mitarbeiters im Münchener Schreiber-Verlag nach wenigen Stunden wieder entlassen.25 Diese Verhaftung und das Gestapo-Verhör hinterließen einen nachhaltigen Eindruck:
„Die Wahl, in die Hände Gottes, oder in die Hände der Menschen zu fallen, macht mir keine Qual. Ich will in die Hände Gottes fallen, seien sie noch so furchtbar. ... Nur einen Tag kostete ich, was es heißt, in die Hände der Menschen zu fallen – am 20. Mai 1933.“26
Haeckers Schicksal wurde bereits ausführlich charakterisiert, deshalb seien hier nur einige Eckpunkte in Erinnerung gerufen:
Das Redeverbot, das ihm schon 1932 für den Regierungsbezirk Aachen auferlegt wurde.
Im gleichen Jahr die nationalsozialistischen Anpöbelungen, die er sich im Hörsaal Martin Heideggers gefallen lassen musste, als er zum Thema „Der Christ und die Geschichte“ sprach.
Der Zwang, eine Vortragsreise nach Berlin und Ostpreußen abzusagen.27
Das 1936 gegen ihn von der bayerischen politischen Polizei verordnete Redeverbot.
Rede- und Publizierverbot hinderten Haecker nicht, an Übersetzungen zu arbeiten und ein heimliches Tagebuch zu führen, in dem er die nationalsozialistische Ideologie brandmarkte. Hitler nannte er in seinen Aufzeichnungen zu einer Zeit, als dieser vielen „als ein Befreier der Deutschen aus den Fesseln des Versailler Diktats“28 erschien, eine „Ausgeburt der Hölle“.
Die „Tag- und Nachtbücher“
Theodor Haeckers „Tag- und Nachtbücher“ zählen zu den bedeutendsten Zeugnissen der inneren Emigration gegen den Nationalsozialismus. Sie erschienen zwei Jahre nach Haeckers Tod in der Hegner-Bücherei bei Kösel in München, herausgegeben von Heinrich Wild. Dabei handelt es sich jedoch um einen Auswahlband, in dem nur ein Teil dessen, was Haecker sagte und meinte, enthalten war. In der Rezension von Adolf von Grolman in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 9. August 1947 heißt es u. a.: „Die Aufzeichnungen Theodor Haeckers als solche sind (...), darüber besteht kein Zweifel, weittragender und schwerer als das, was in dem vorliegenden Auswahlband geboten wird. Ich habe sehr oft mit Haecker sämtliche Probleme, die in den ,Tag- und Nachtbüchern‘ angeschnitten sind, durchgesprochen und weiß, dass Haecker sehr viel radikaler noch dachte, als es möglich war, selbst es in diesen mutigen Blättern niederzulegen. Es ist also nur ein Teil dessen, was Haecker dachte und meinte, was hier vorgelegt wird. Das muß man wissen. (...) denn es werden Zeiten kommen, wo die Personen, die das wissen, nicht mehr leben. Und es wäre nicht richtig, das Dokumentarische dieser Aufzeichnungen zu gering oder auch zu weitgriffig zu erfassen.“29
Die „Tag- und Nachtbücher“ sind in den vielen „Schreibenächten“ entstanden und waren vielfach der Entdeckung durch die Gestapo ausgesetzt. Was Haecker als unerbittlicher Gegner des Nationalsozialismus zu Papier brachte, war lebensgefährlich. Es handelte sich vorwiegend um „aphoristische Zeitkritik, philosophisch-religiöse Reflektion, polemisches Notat, Selbstbesinnung und Selbstbestimmung in einsamem Selbstgespräch, Dialog, Diatribe und Gebet.“30
Irene Haecker hat die „Tag- und Nachtbücher“ auf ihre Weise gerettet. Oft erzählte sie davon, und Nachlebende berichten darüber:
„In ihrer hohen Sensibilität kommt sie, von innerer Unruhe getrieben, gerade in dem Moment zu hause an, als ihr Vater einer Hausdurchsuchung ausgeliefert ist, täuscht große Eile vor und kann auf diese Weise als Klaviernoten getarnt, das Manuskript der ,Tag- und Nachtbücher‘ bei Pfarrer Max Blumenschein sicherstellen. Wie wenn nichts wäre, kommt sie wirklich mit Klaviernoten zurück, die dann tatsächlich überprüft werden. Das ist die Rettung ihres Vaters!“31
Lese- und Diskussionsabende im Kreis von Studenten und Mentoren
Lese- und Diskussionsabende mit Theodor Haecker gehörten, wie Richard Seewald in seinen „Lebenserinnerungen“ berichtet, schon seit 1911 zum Münchener Geistesleben. Jahrzehnte später fanden sie auch im Hörerkreis der Studenten der später so benannten Widerstandsgruppe „Weiße Rose“32 statt.
Dabei ein literarisches Interesse überschreitend, schuf Otl Aicher aus dem Freundeskreis der Geschwister Scholl in den Jahren 1940/41 über Karl Muth die erste direkte Verbindung zu Theodor Haecker. Dazu schreibt er 1942/43:
„Vor zwei Jahren hatte ich Carl Muth kennen gelernt, später Haecker. Nun war auch für Hans und Sophie eine enge Verbindung daraus geworden. Hans hatte Muths Bibliothek geordnet, Sophie wohnte gelegentlich bei ihm. Es gab Vorleseabende mit Haecker und weiteren Freunden von Muth, um außerhalb der Öffentlichkeit in Zirkeln dafür zu sorgen, dass die Gegner dieses Staates nicht auseinander dividiert und in die Isolierung gedrängt werden.“33
Diese Umschreibung enthält Hinweise auf die beflügelnden Leseabende und auch auf deren dezidierte Zielsetzung, die Gegner des NS-Staates zu versammeln, zu solidarisieren und durch „geistige Nahrung“ moralisch zu stärken.
Für Otl Aicher und die Geschwister Scholl waren Leseabende nichts Neues: Schon 1938 hatten sie solche im Haus der Familie Scholl in Ulm veranstaltet und ein Theaterstück von Henry von Heiseler mit verteilten Rollen, philosophische Texte des russischen Glaubensverteidigers, Dichters und Religionsphilosophen Wladimir Solowjew (1853 – 1900) und des ebenfalls russischen Philosophen Nikolai Berdjajew (1874 – 1948) gelesen. Letzterer vertrat seit 1911 eine „Philosophie der Freiheit“ und hatte nach seiner Abkehr vom Marxismus die religionsphilosophische Zeitschrift „Der Weg“ herausgegeben.
Die Studenten aus diesem Kreis waren auch mit älteren Freunden und Mentoren in Kontakt, die teilweise ebenfalls die Leseabende besuchten. Dazu gehörten Schriftsteller, Wissenschaftler, Buchhändler, Architekten, Journalisten und Maler, Persönlichkeiten wie Karl Muth, Theodor Haecker, Kurt Huber (1893 – 1943), Alfred von Martin (1882 – 1979), Werner Bergengruen (1892 – 1964), Sigismund von Radecki (1891 – 1970), Josef Furtmeier (1887 – 1969), Josef Söhngen (1894 – 1970), Heinrich Ellermann, Harald Dohrn (1885 – 1945), Manfred Eickemeyer und Wilhelm Geyer (1900 – 1968).
Vermerke Willi Grafs in seinem Tagebuch weisen auf die Leseabende hin. Er selbst wurde aller Wahrscheinlichkeit nach im Anschluss an eine Lesung Theodor Haeckers aus „Der Christ und die Geschichte“ in den engsten Kreis der Weißen Rose einbezogen.34
Um existenzielle Fragen ging es ab 1941 auch bei den Leseabenden der Münchener Studentengruppe und ihrer Mentoren, die Haecker zwar mitgestaltete, in deren Aktionen er aber nicht eingeweiht war. Die Orientierung am Vorbild Haeckers geht aus Schriften, Briefen, Tagebüchern und Flugblättern hervor. Otl Aicher drückt diese Verbindung später so aus: „ermutigt durch hinweise haeckers, hatten wir begonnen, kierkegaard zu lesen35 und zu begreifen, was man neuerdings mit existenz meinte.
sophie hatte nicht unrecht, wenn sie darauf hinwies, daß heute die philosophie geneigt ist, kierkegaard mit seiner inneren erfahrung mehr recht zu geben als einer systemphilosophie der ,äußeren‘ seinskategorien, einer philosophie als wissenschaft.
(...) in einer diktatur tritt in der tat die frage nach der wahrheit, die eigentliche frage der philosophie in den hintergrund. es geht nicht mehr um die erkenntnis als erkenntnis, sondern um das jetzt richtige, um das für mich richtige. das subjekt kommt ins spiel. (...)
wo die wahrheit aber zum ereignis wird, wo sie in konstellationen auftritt, wo ihr kriterium die richtigkeit ist, wird philosophie zum handeln. zu einem handeln, das erkenntnisse freigibt.“36
Haeckers Einfluss hinsichtlich der Frage nach der Existenz wird auch von der Schriftstellerin Ilse Aichinger hervorgehoben: „So wie in Frankreich der Existenzialismus die Philosophie des Widerstandes war, so gab es auch bei uns einen christlichen Existenzialismus, der stark beeinflusst war von Søren Kierkegaard und Theodor Haecker.“37
Für die widerständigen Studenten stellte sich oftmals die Frage nach dem richtigen Weg: „Wohin sollen wir denn gehen?“ Theodor Haecker seinerseits setzte auf die Jugend, noch bevor er den Studenten in den Leseabenden begegnet war:
„Wenn man mir sagt, daß die heutige deutsche Jugend, die offizielle, von den 2500 Jahren christlicher (...) Geschichte nichts weiß, nichts wissen will und keineswegs begeistert werden kann, so weiß ich das und es macht mich traurig. Wenn man mir aber sagt, daß unter ihr überhaupt keiner sei, der im Innersten davon berührt werde, dann werde ich heiter, denn das glaube ich nicht, denn das ist nicht wahr. Es gibt solche, und sie sind der Adel der deutschen Jugend. Sie werden unter einer Wolke leben, wie ich auch. Sie werden aber im Glanze eines unsterblichen Lichtes stehen, wie ich auch. Und sie werden das wissen, wie ich auch.“ (Mai 1940)
Auf die andere Frage: „Was sollen wir tun in dieser schweren Zeit?“, rät Haecker seinen Gesinnungsfreunden im „Dialog über Europa“:
„In solcher Zeit, o meine Freunde, wollen wir beizeiten überlegen, was wir mitnehmen sollen aus den Greueln der Verwüstung. Wie Äneas zuerst die Penaten, so wir das Kreuz, das wir immer noch schlagen können, ehe es uns erschlägt. Und dann: nun, was einer am heißesten liebt. Wir aber wollen nicht vergessen unsern Vergil, der in eine Rocktasche geht.“38
Haecker hatte der Kunsthändlerin Grete Volle diese Sätze aus Bremen als Widmung in ihr Exemplar von „Was ist der Mensch?“ geschrieben. Sie charakterisieren seine christliche Position. Rückblickend geht auch Otl Aicher auf dieses Buch ein, um damit die „Unangepasstheit“ Haeckers einmal mehr zu beweisen.
Haeckers Menschenbild und dessen Zusammenhang mit der „Weißen Rose“, um das es hier geht, kommt in vielen seiner Texte zum Ausdruck. Dabei sieht er den Menschen auf christlicher Grundlage, als einen, der sich um Gerechtigkeit bemüht, nach Wahrheit strebt, frei ist von Überheblichkeit und Machtanmaßung. Deshalb gewahrte er umso intensiver auch das Gegenbild seiner Vorstellung vom Menschen. Enthalten ist darin auch eine umfangreiche Passage über das „Reich“.
Am 4. Februar 1943, kurz vor den letzten verzweifelten Aktionen der „Weißen Rose“, ist in Willi Grafs Tagebuch ein nochmaliges Treffen vermerkt:
„Um 16 Uhr treffen wir uns: Häcker liest den ersten Teil aus seinem ,Schöpfer und Schöpfung‘. Über zwei Stunden spricht er, ich habe manches Besondere verstanden und gehört.“39
Bei dieser Lesung, die im Atelier Eickemeyer stattfand, waren etwa 25 Freunde und Bekannte anwesend, darunter aus dem engsten Kreis der „Weißen Rose“ Hans und Sophie Scholl sowie Willi Graf. Sophie Scholl berichtete über Haeckers Lesung in einem Brief an ihren Freund Fritz Hartnagel:
„Seine Worte fallen langsam wie Tropfen, die man schon vorher sich ansammeln sieht, und die in diese Erwartung hinein mit ganz besonderem Gewicht fallen.“40
Aus einer späteren Darstellung von Elisabeth Hartnagel-Scholl geht hervor, dass man nicht über die Flugblatt-Aktionen gesprochen, sondern vielmehr das Regime kritisiert hatte, wie man es nur unter Gleichgesinnten überhaupt wagen konnte.
Auch hier erweist sich Haecker, den seine Satire zum kritischen Historiker des „Dritten Reiches“ werden ließ und der auch in seinen Tagebüchern die Verlogenheit des Nationalsozialismus brandmarkte, als einer, der mit seinen Worten verschlüsselte Botschaften weitergab.
Bei einem Vergleich zwischen dem Haecker’schen Werk und Texten, Briefen und Flugblättern der „Weißen Rose“ lassen sich vor allem hinsichtlich der Begriffswahl zahlreiche Affinitäten feststellen. Hinsichtlich der widerständischen Studenten ist auch der Einfluss Otl Aichers – ein enger Freund der Geschwister Scholl seit der Ulmer Zeit – nicht zu unterschätzen, der vielfach als Ideengeber gesehen werden muss.
Obwohl er wegen seiner Verweigerungshaltung gegenüber dem NS-Regime persönliche Konsequenzen ziehen musste, hatte er weder Kenntnis von den Aktionen der „Weißen Rose“ noch hätte er sie, wie aus seinen schriftlichen Äußerungen hervorgeht, als erfolgreich eingeschätzt.
Unter Reflexion der Ausdruckswahl Haeckers selbst und der Aicher’schen Texte, die auf Theodor Haecker verweisen, sollen nun einige Begriffe erläutert werden.
Existenz
Haecker zitiert bei den Leseabenden beispielsweise aus „Der Christ und die Geschichte“:
„Gott zu lieben und seinen Nächsten (...) das ist der letzte Sinn der Geschichte, gegenüber welchem alles andere im strengsten Sinne des Wortes – gleichgültig ist.“
„Die Kirche Christi ist auch eine politische im radikalen Unterschiede zu den vielen sonderbaren zum Teil abscheulichen ,Religionen‘, gegen die Rom (...) tolerant war, wie kein Staat oder Imperium vor ihm, oder auch nach ihm. (...) Die Christen sind vom römischen Staate verfolgt worden um eines in dessen Augen politischen Verhaltens willen: weil sie dem Kaiser zwar geben wollten, was des Kaisers ist (und sich darin von niemand übertreffen lassen wollten), aber nicht das, was nur Gottes ist, und weil sie des Glaubens waren, daß es allein der Autorität der Kirche zukomme, zu entscheiden ... was des Kaisers ist und was nicht. Das Höhere entscheidet über das Niedere (...). Das ist so die Ordnung, das war so und wird so sein.“41
Insbesondere die christlich orientierten Mitglieder der „Weißen Rose“ zogen daraus Konsequenzen für sich selbst und waren zu einem „radikalen“ Christentum (so Otl Aicher), ja zum Martyrium bereit. Hätten sie das Glück gehabt, als junge Menschen in einem demokratischen Staat zu leben, hätte diese Entscheidung nicht angestanden. So aber ertrugen sie die Verfolgung wegen ihrer Weltanschauung und ihres politischen Widerstandes gegen den Terrorstaat aus christlicher Überzeugung. Davon zeugen unter anderem die Briefe Willi Grafs während seiner halbjährigen Einzelhaft im Strafgefängnis München-Stadelheim42 sowie Diktion und Argumentationsweisen in den Flugblättern, die Haeckers geistigen Einfluss erkennen lassen.
Die Frage nach dem Ursprung des Bösen – die Lüge
Haecker fragt in seinen Schriften nach dem Ursprung des Bösen, das er vor allem im Moralischen zu finden glaubt, während er in seiner Theodizee – der Rechtfertigung Gottes angesichts der Macht des Bösen – die physischen Übel meint. Dabei geht er auch der schwierigen Frage nach, ob Gott das Böse nur zulasse, weil er der Schöpfer der Welt ist, oder ob er dabei mitwirke. So stellt Georg Karl Frank nicht zu Unrecht die Frage danach, ob Haecker, wäre es ihm möglich gewesen, das Seine zu einer „Theodizee nach Auschwitz“ beigetragen hätte: „Mit Sicherheit! Denn Ansätze dafür gibt es genug, nicht nur in seinen ,Tag- und Nachtbüchern‘.“43
„Dass Gott Herr der Geschichte ist, die Welt aber im Argen liegt, erklärt das Faktum, dass in aller Geschichtsbetrachtung die Theodizee ein integrierender Bestandteil ist. Gott will die Theodizee, Er lässt sie nicht bloß zu.“44
In den Flugblättern der „Weißen Rose“ wird Hitler gedeutet als einer, der im Dienste des Bösen steht, als Antichrist, als Dämon. Überall und zu allen Zeiten hätten „Dämonen im Dunkeln gelauert auf die Stunde, da der Mensch schwach wird, da er seine ihm von Gott auf Freiheit gegründete Stellung im ordo eigenmächtig verlässt, da er dem Druck des Bösen nachgibt“.
Fast alle Gegner Hitlers stellten ihn als Lügner dar. Auch bei Theodor Haecker ist ein viel gebrauchter Begriff die „Lüge“. Haecker wollte mit der Kraft des Wortes die Verlogenheit des Nationalsozialismus entlarven.45 So verteidigte er schon 1928 in der Publikation „Über Humor und Satire“ den Humor als „letzten und höchsten geistigen Raum des Humanen“.46
Die „Weiße Rose“ beabsichtigte ebenfalls die politische und menschliche Realität im Hitler-Deutschland aufzuzeigen. Im zweiten Flugblatt wirft sie deshalb den Nationalsozialisten Betrug an den Mitmenschen vor und bezeichnet sie als eine Bewegung, die sich „nur durch die stete Lüge“ retten könne. Auch im vierten Flugblatt wird nochmals der gleiche Vorwurf erhoben: „Jedes Wort, das aus Hitlers Mund kommt, ist Lüge.“
Staatsgewalt, Gerechtigkeit und politischer Mord
Die bei den Leseabenden der „Weißen Rose“ vorgetragenen Gedanken aus dem Werk „Der Christ und die Geschichte“ gründen auf der „Mitarbeit des freien Menschen an der Gestaltung dieser Welt“, also an der Geschichte, was von Christen vielfach unterschätzt, von Nichtchristen hingegen, zumindest im europäischen Raum, in der Regel überschätzt werde.47 Jedes politische Ordnen habe ein Ziel. Es müsse nämlich nach der Idee der Gerechtigkeit gestaltet sein, nur darin liege der volle Sinn des Politischen. Dieser Sinn werde nicht erfüllt, wenn die Idee der Gerechtigkeit nicht vorhanden sei. Vom Individuum gehe eine gerechte Ordnung unter Gemeinschaften und Völkern aus. Haecker sieht den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Schuld, aber auch den zwischen Recht und Schuld.48 Wenn er das Ziel des Politischen darlegt, so ist es der Friede auf der Grundlage der Gerechtigkeit.
In dem kurzen Beitrag „Der Staat seid ihr“49 von 1931 reflektiert Haecker den politischen Mord als „Kurzschluss von Phrase und bloßliegenden Nerven“,50 der mit dem, was ernsthafte Denker mit „Tyrannenmord“ meinten – dazu gehörten Ideen, Wille oder Entschluss, ein sinnvoller Plan oder ein Opfer –, nichts zu tun habe. Das politische Morden der unmittelbaren Gegenwart habe mit besonderer Ehrlosigkeit zu tun, weil es ohne politisches Denken vor sich gehe.
Was heute in Deutschland geschehen müsse, sei Denken, Denken und nochmals Denken! Untaten, die als „politische Morde“ bezeichnet würden, „entstehen nicht aus dem Nichts, so wenig wie die Tat (ein deutscher Irr- und Unglaube!) sich selbst gebiert, sondern sie kommen aus der Phrase und Lüge. Ist es ein Mangel an Denkkraft im Staatsmann, diese Ursprünge nicht zu sehen, so ist es, wenn er sie erkannt hat, ein Verbrechen von ihm, die Mittel des Staates, die primär Machtmittel sind, nicht zu gebrauchen; gegen die Äußerung von Phrasen und Lügen.“51
Wie der Staat seine Macht anwende, sein einziges politisches Mittel, sei eine Frage der Kardinaltugend des Staates als Person, also des Staatsmannes.
Die „Weiße Rose“ setzt in ihrem dritten Flugblatt „Salus publica suprema lex“ ebenfalls einen besonderen Akzent. Wie Theodor Haecker sieht auch sie im Staat eine Analogie zur göttlichen Ordnung. Er soll die „civitas Dei“ zum Vorbild haben, dessen höchstes Gesetz das Wohl aller ist. Dagegen sei der heutige Staat „die Diktatur des Bösen“, der den Menschen ihre Rechte raube, so lange bis nur ein „mechanisches Staatsgetriebe“ übrig sei, „kommandiert von Verbrechern“. Das Volk müsse von der „Zerstörung aller sittlichen und religiösen Werte überzeugt werden und so zum passiven Widerstand veranlasst werden“, denn es sei „sittliche Pflicht (...), dieses System zu beseitigen“.52
Apokalyptische Bilder
Theodor Haeckers Position als Mentor lässt sich auch an vielen anderen Äußerungen in den Flugblättern der „Weißen Rose“ erkennen – in Argumentationsweise, Diktion und Gehalt sowie einer Vielzahl apokalyptischer Bilder.53
So reflektiert er beispielsweise den Begriff der „Gottesgeissel“ in seinen „Tag- und Nachtbüchern 1940“. Auch die „Weiße Rose“ spricht in ihrem ersten Flugblatt, das im Mai 1942 erschien, von der „Geissel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates“.
Haecker zeichnet apokalyptische Bilder vom Krieg. In seiner tagebuchartigen Kritik an zwei Weltkriegen und ihren wahrhaft apokalyptischen Situationen zeigt sich einmal mehr die satirisch-polemische Seite des Kulturphilosophen. Insbesondere in „Satire und Polemik“ (1922)54 geht er unter Bezug auf den Ersten Weltkrieg darauf ein, dass „die Ehre des natürlichen Menschen, des Kriegers und Soldaten (...) in diesem Krieg für den konkreten europäischen Menschen vollends vernichtet worden“55 sei. In seinen Tagebuchaufzeichnungen beruft er sich wiederholt darauf, dass das technisch Machbare moralisch nicht zu bewältigen sei, und er macht diese Aussage zum Kernpunkt der Kritik des modernen Krieges.
Ein weiteres wichtiges Thema bei Haecker und der „Weißen Rose“ ist die als solche bezeichnete „Judenfrage“. Obwohl er auch mit Beiträgen im „Hochland“ dieser schwierigen Frage und der sich abzeichnenden Katastrophe nachging, wurde er kaum gehört. Seine Argumente und Appelle an Menschenwürde und Gerechtigkeit und sein Aufzeigen der Gefahren für die jüdische Bevölkerung verhallten. Aus der Erkenntnis, dass der Nationalismus äußerst bedrohlich für die jüdische Bevölkerung sei, stellte er fest, dass die Juden „dort, wo diese Welt des Nationalismus siegt, immer für Feinde gelten“56 werden. Ebenso sieht er den durchschnittlichen Bürger in Deutschland als „latenten Antisemiten“.
Im Zusammenhang mit dem christlichen Menschenbild, das den Menschen als Ebenbild Gottes sieht und das auch Theodor Haecker in seinen Schriften „Der Christ und die Geschichte“ und „Schöpfer und Schöpfung“ (1935) zu vermitteln suchte, ist verständlich, dass die „Weiße Rose“ die Nationalsozialisten anprangerte. Nicht zufällig scheint im zweiten Flugblatt die Frage nach dem „Sinn der Geschichte“ und die letztliche Reinigung durch das Leid auf, wenn über die bestialische Ermordung von Juden berichtet wird.
Vision eines künftigen Europa
1932 erschien der Essay „Betrachtungen über Vergil, Vater des Abendlandes“, im Novemberheft des „Brenner“.57 Zur Vision eines künftigen Europa gehörte für Haecker die lateinische Antike. Dieser Essay war sozusagen die „Antwort“ auf ein Buch von Fritz Büchner mit dem Titel: „Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen“, das auch als Aufsatzreihe in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ veröffentlicht worden war.
Vorangegangen war Haeckers „Satire und Polemik“ hinsichtlich des Diktats von Versailles. Seine Begründung für eine europäische Vision liegt im Christentum und „humanen Ideen der Versöhnung“.58 Auch im sechsten Flugblatt der „Weißen Rose“ geht es um die Verantwortung des Einzelnen in einem neuen Staat: „Es gilt der Kampf jedes einzelnen um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen.
(...) auch der Satiriker erreicht im Verborgenen zuweilen etwas. Wo noch eine natürliche geistige Jugend ist, da stärkt er ihre Angst vor der Leere und dem Geschwätz, ihren Mut zur Höhe und Fülle der Weisheit, ihren Abscheu, ihre Begeisterung, ihren Entschluss, ihr Schweigen und ihr Wort.“59
Doch anders, als der Philosoph Haecker die „Tat“ beurteilte, die er niemals als eine Aktion wie die der Geschwister Scholl sah, verstand die „Weiße Rose“, die in ihren Flugblättern immer wieder an den passiven Widerstand appellierte, für sich selbst eine Tat im vollen Wortsinn auch als physischen Einsatz. Nur so sind letztlich ihre Aktionen zu verstehen. Auch im zweiten Flugblatt entwirft sie eine Zukunftsvision:






