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„Es ist uns nicht gegeben, ein endgültiges Urteil über den Sinn unserer Geschichte zu fällen. Aber wenn diese Katastrophe uns zum Heile dienen soll, so doch nur so: Durch das Leid gereinigt zu werden, aus der tiefsten Nacht heraus das Licht zu ersehnen, sich aufzuraffen und endlich mitzuhelfen, das Joch abzuschütteln, das die Welt bedrückt.“60
Der Gestapo waren Haeckers Kontakte zur „Weißen Rose“ nicht verborgen geblieben. Unmittelbar nach der Verhaftung der Geschwister Scholl fand in Haeckers Wohnung eine vierstündige Hausdurchsuchung statt. Haecker wurde in das Münchener Gestapo-Gefängnis im Wittelsbacher Palais gebracht, dort vernommen und abends wieder entlassen. Am gleichen Tag entging auch eine Abschrift seines Tagebuch-Manuskripts bei einer Durchsuchung im Hause Karl Muths dem Zugriff der Gestapo.61
Am 1. März 1943, eine Woche nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts, veranlasste die Gestapo in ihrer Nervosität und der Annahme, dass sich eine viel größere Zahl von Studenten, als ihr bekannt geworden war, hinter der Weißen Rose verberge, die Einleitung eines neuen Verfahrens gegen Theodor Haecker wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Dieses wurde jedoch wieder eingestellt.
Theodor Haeckers Bücher waren nicht nur Bücher, seine Vorträge und Lesungen nicht nur kulturkritisch-philosophische Präsentationen, sondern vielmehr „Konfessionen“, die für die Zukunft wirksam werden sollten. „,Vergil. Vater des Abendlandes‘: das war nicht nur ein Buch, das war ein kulturpolitisches Programm, übrigens schon 1931 beim ersten Erscheinen.“62 Die „Tag- und Nachtbücher“ waren nicht nur Tagebücher, sondern mit ihren Inhalten von Dichtung, Philosophie, Ästhetik, Theologie und Politik ein Lebensprogramm gegen den totalitären Staat. In ihrem Bezug auf „Themen der neudeutschen Herrgottreligion“, „Hybris der Kriegstechnik“, „Hybris des Menschen“, „Rolle der Kirche“, „Überlegungen zur Stunde des Bösen“, „Auftrag und Gebot der Liebe“ und „Aufruf an den Einzelnen zur Umkehr“ gemahnen sie auch uns Heutige.63 Mit den grundlegenden Fragen nach Wahrheit und Existenz überdauern sie wohl jegliche Zeiten.
Schriften von Theodor Haecker: Werke. 5 Bde. München 1958 – 1967 (Bd. 1: Essays; Bd. 2: Tag- und Nachtbücher. 1939 – 1945; Bd. 3: Satire und Polemik. Der Geist des Menschen und die Wahrheit; Bd. 4: Was ist der Mensch? Der Christ und die Geschichte. Schöpfer und Schöpfung; Bd. 5: Vergil. Schönheit. Metaphysik des Fühlens) – Eva Dambacher (Bearb.): Bibliographie Theodor Haecker. In: Hinrich Siefken (Bearb.): Theodor Haecker. 1879 – 1945. Marbach a. N. 1989, 71 – 95.
Sekundärliteratur: Detlef Bald (Hg.): „Wider die Kriegsmaschinerie“. Kriegserfahrungen und Motive des Widerstandes der „Weißen Rose“. Essen 2005, 47 – 54 – Gebhard Fürst/Peter Kastner/Hinrich Siefken (Hg.): Theodor Haecker (1879 – 1945). Verteidigung des Bildes vom Menschen. Stuttgart 2001 – Winfrid Halder: Die Spuren des Widerstandes. Theodor Haecker in der politischen Landschaft des frühen 20. Jahrhunderts – eine Spurensuche. In: Freiburger Diözesan-Archiv 127 (2007), 105 – 134 – Bernhard Hanssler/Hinrich Siefken (Hg.): Theodor Haecker: Leben und Werk. Texte, Briefe, Erinnerungen, Würdigungen. Zum 50. Todestag am 9. April 1995. Esslingen 1995 – Klaus Kunissen: Theodor Haecker als Literaturkritiker. In: „... aus einer chaotischen Gegenwart hinaus ...“ Gedenkschrift für Hermann Kunisch. Hg. v. Lothar Bossle. Paderborn 1996, 53 – 65 – Florian Mayr: Theodor Haecker. Eine Einführung in sein Werk. Paderborn/München/Wien/Zürich 1994 – Barbara Schüler: „Geistige Väter“ der „Weißen Rose“. Carl Muth und Theodor Haecker als Mentoren der Geschwister Scholl. In: Rudolf Lill/Klaus Eisele (Hg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“. Konstanz 1999, 101 – 128 – Hinrich Siefken: Der Schriftsteller Theodor Haecker und die Satire. In: Heidrun Colberg/Doris Petersen (Hg.): Spuren. Festschrift für Theo Schumacher. Stuttgart 1986, 435 – 452 – Ders.: Thomas Mann und Theodor Haecker. In: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck. Bern 1987, 246 – 270 – Ders.: Die Weiße Rose und Theodor Haecker. Widerstand im Glauben. In: Ders. (Ed.): Die Weiße Rose. Student Resistance to National Socialism 1942/43. Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte. Nottingham 1991, 117 – 147 – Ders.: Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher 1939 – 1945. Diaries from the „Dark Ages“. In: Janet Wharton (Ed.): German Politics and Society from 1933 to the Wende. Nottingham 1992 – Paulo Astor Soethe: Der Christ – ein Satiriker? Ein Versuch, Heinrich Böll und Theodor Haecker ins Gespräch zu bringen. In: Stimmen der Zeit 217 (1999), H. 5, 341 – 350 – Sönke Zankel: Theodor Haecker und die Juden. In: Niklas Günther/Ders. (Hg.): Abrahams Enkel. Juden, Christen und die Shoah. Stuttgart 2006, 29 – 40
Konrad Weiß (1880 – 1940)
„Man darf nicht reifer sein im Geiste als in der Sünde seiner Natur“
Konrad Weiß und seine Verortung des Glaubens im Geheimnis der Schöpfung und der Menschwerdung
Michael Schneider
Auch wenn Hauptwerke des schwäbischen Dichters Konrad Weiß noch in einzelnen Ausgaben vorliegen, dürfte der Schriftsteller selbst inzwischen eher in Vergessenheit geraten sein. Nicht wesentlich anders verhielt es sich schon zu seinen Lebzeiten. 1880 in Rauenbretzingen bei Schwäbisch Hall geboren, arbeitete er in den Jahrzehnten seiner journalistischen und dichterischen Arbeit am Rande der deutschen literarischen Welt, vor allem als Kunstkritiker an den „Münchener Neuesten Nachrichten“, seit Karl Muth ihn 1920 aus der Redaktion der Zeitschrift „Hochland“ fortgeschickt hatte.1
Entäußerung des guten Lebens
Seinen ersten Gedichtband veröffentlichte Konrad Weiß 1918, also mit 38 Jahren. Über die Zeit davor wissen wir kaum etwas. Allerdings sind Studienhefte aus den Jahren 1909 bis 1915 und Tagebücher aus den Jahren 1914 bis 1919/20 erhalten; es waren Jahre der inneren Krise, aber auch der Synthese.2 Nach dem Abschied aus der Mitarbeit am „Hochland“ wandte er sich nun ganz der Lyrik zu.
Die Aufzeichnungen dieser Zeit, die bruchstückhaft waren, blieben für Konrad Weiß so wichtig, dass er in späteren Jahren immer wieder an ihnen weiterarbeitete. Festgehalten sind einzelne Begebenheiten des Alltags wie auch Erwägungen zu inneren und äußeren Erlebnissen, vor allem die Erfahrung des Dunkels und der Ferne Gottes. Was er schmerzvoll durchleidet, wird nicht nachträglich begrifflich systematisiert; er belässt es in seinem Mangel und in seiner unfertigen Bruchstückhaftigkeit. Vieles bleibt offen – „auf dem Wege“. Was ihn zutiefst bewegt, fasst Konrad Weiß am 29. September 1915 in folgende Worte:
„Es drängt sich mir bei Betrachtung der angesammelten Gedanken und unvollendeten Werke eine fast frevelhaft gegen die Unendlichkeit scheinende Lebensregel auf: Man darf nichts größer werden lassen als man selber in seiner Zeit gerade ist (solange es die Beziehung seiner Natur zur Geschichte betrifft), man darf die Einsicht nicht über die Kräfte und sich die Wahrheit Gottes in der Welt nicht über den Kopf wachsen lassen. Man darf nicht reifer sein im Geiste als in der Sünde seiner Natur.“3
Konrad Weiß verzichtet bewusst darauf, sein Leben in den Griff zu bekommen. Erstes Zeichen dafür ist 1904 sein Austritt aus dem Priesterseminar in Tübingen und später sein Weggang vom „Hochland“. Etwas von dem, das ihn zu diesem Schritt bewogen haben mag, scheint in der eher brüsken Feststellung auf:
„Das Christentum, daß man es nicht vergißt,/das Christentum ist ein Verein/zufrieden als ein Kreissegment,/beamtet und voll braver Seelen ...“4
Konrad Weiß beschreibt es als „Faulheit“, aufgrund derer einer sich nicht in das Leben gestellt sehen will, um nur ja aller Tragik zu entkommen, und weshalb sich einer lieber mit einer „abstrakten“ bzw. „ästhetischen“ Existenz begnügt. Doch selbst wenn Konrad Weiß bekennt, dass er immer wieder der Versuchung begegnete, sein Leben nicht in die Hand zu nehmen, handelt es sich bei ihm keineswegs um „faule“ Bequemlichkeit: „Erfahrung, daß keiner sich selber einholen kann und auch sein Nächster kann ihn nicht einholen.“5
Kein Mensch kann den Bauplan seines Lebens wie ein „Ideal“ konzipieren und gleichsam vorwegnehmen; doch der Sünder will in sich selbst stehen und seine eigene Mitte sein. Der Glaubende hingegen ist in seinem Tun reines Empfangen; er lässt sich durch Sünde und Reue zu Gott hindrängen. Konrad Weiß erkennt, dass ihm kein anderer Ausweg bleibt, als sein Dasein als „passive Passion“ zu ergreifen und zu leben, denn, so lautet seine eher zaghaft formulierte Frage: „Wie kann man Gott zuvorkommen?“6 In dieser Zeit der inneren Krise wie auch ihrer Überwindung wendet sich Konrad Weiß bewusst der Lyrik zu.
Zwischen Bild und Wort
Es ist nicht leicht, einen angemessenen Zugang zum Werk und zur Sprache von Konrad Weiß zu finden. So las Frau Weiß in Siedlinghausen immer wieder viele Stunden und Tage lang aus dem Werk ihres 1940 verstorbenen Mannes vor, um es anderen auszulegen und sie zu einem tieferen Verständnis zu führen. Auffällig für seine Gedichte sind versetzte Wortstellungen, sogar Verstöße gegen die gängige Sprache, Zersetzung des grammatikalischen Gefüges und Brechung des Sprachrhythmus, Wechsel der Perspektiven, Verfremdungseffekte, einzelne abgebrochene, unvollendete Sätze, unterschiedliche Strophenlängen. Kaum dürfte es gelingen, die von Konrad Weiß formulierten Verse in einer für alle Leser verständlichen Weise zu kommentieren, um sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Das Besondere an Konrad Weiß ist sein Verständnis vom Auftrag des Dichters. In seiner Schrift „Vom Wesen der Dichtung“ beschreibt er in kurzen Worten, wie er seine eigene Sendung versteht: „Dichtung denkt nicht, sie findet sich in einem Sinne. Getrieben und gespiegelt geht sie die Spuren, in denen sie einen Weg findet zwischen Bild und Wort, einen Weg, als ob er von einem Sinne geplant sei (...) Die Blindheit muß sein wie ein Opfer. Sie kann nicht gedacht werden, aber sie bedeutet die Richtung und die Wahrheit des innersten Wortes.“7 Konrad Weiß verfasst mit seiner Dichtung ein Werk, das sich nicht in sich selbst („hermetisch“) verschließen will. Die Dunkelheit des Ausdrucks ist nicht gesucht und gewollt, sie ist etwas, was sich von selbst einstellt. Nicht Willkür ist es, die so sprechen lässt, auch keine ästhetische Selbstverliebtheit in irgendwelche sprachlichen Extravaganzen; alles kommt aus der Erfahrung, dass das, was der Dichter ins Wort zu fassen sucht, sich ihm selbst entzieht.
Das Dunkel des Wortes kommt weniger aus dem Dunkel einer tiefen seelischen Impression wie bei Georg Trakl, auch ist die Dunkelheit der Sprache nicht belastet mit der ungeheuren Tiefe seelischen Ringens und Kämpfens, selbst wenn vieles davon bei Konrad Weiß anklingen mag. Solche Dunkelheit erklärt sich aus der anderen, nicht allgemein vertrauten Erfahrung der „Erde“ und des Lebens, die sich intellektuell nicht gleich einholen lässt, weil sie als solche wohl einzigartig ist.
Aufgrund seiner ihm eigenen Erfahrung wendet sich Konrad Weiß entschieden gegen alle sich bloß auf die Tagespolemik einlassenden Schriftsteller, erst recht gegen jene, die sich einem „liberalen Idealismus“ anpassen wollen. Zurück bleibt die „Kreatur des Wortes“, die Erfahrung der endlichen und gebrochenen Wirklichkeit und Geschichte, nicht aber das System eines Geistes und einer Idee.8 Es gilt, in der Grammatik selbst einen Raum frei zu halten für die „Wortwerdung der Wahrheit“. In den „Nachgedanken“ heißt es: „Der allgemeine bürgerliche Geist arbeitet mit nebeneinander und gleichgestellten Begriffen. Er glaubt die Mittel zu besitzen, um welche Gott kämpft und die Schöpfung sinnt.“9
Den Willen, die Sprache gegenüber dem Geheimnis der Kreatur zu neutralisieren, erklärt Konrad Weiß mit dem Uranliegen der abendländischen Philosophie, die Wahrheit der Seinswirklichkeit definieren zu wollen. Statt Definition im System und Absicherung im Begriff geht es Konrad Weiß um Wortwerdung im Geheimnis der Kreatur, in dem ein letzter Rest verharrt, der sich nicht von der Logik einholen lässt. So wird der Kreatur ihr Schweigen, das sich nicht begrifflich ausdrücken lässt, belassen; sie verbleibt im Unaussprechbaren.
Verschiedenheit des Gegebenen
Konrad Weiß erfasst die Wahrheit abseits des bürgerlichen „Logos“ und des „liberalen Zustands unseres Bildungswissens“. Statt einer abstrakten „idealistisch-philosophischen Weltanschauung“ und dem klassischen Stil zu huldigen, wählt er die Sprache der Bibel, der Liturgie und der Mystik, um in der „Wirrnis und Unklarheit der Zeit“ etwas Festes zu finden.10 Der aufgeklärte Mensch plant und verplant sein Leben und die Welt, voller Stolz pocht er auf seine Autonomie. Doch Konrad Weiß wendet ein: „sich selber durch Enteignung aneignen, nur das erhält man, was man freiwillig verloren hat“.11
Gegen die „Wut des Gehirns“ setzt Konrad Weiß den „Schuldkern von Menschen und Dingen“. Niemals wird es dem Menschen vergönnt sein, den metaphysischen „Mangel“ seines Daseins zu beheben. Dieser Ansatz zeigt sich für Konrad Weiß schon in der Studienzeit als einzig möglicher. Es ist nicht der Ansatz der Neuscholastik, die mit theologisch-philosophischem Begriffsgerüst den Zugang zu Welt und Glauben eröffnet, ohne jede zeitgeschichtliche Verortung aus einer neuen Erfahrung des Glaubens. So wendet sich Konrad Weiß entschieden gegen den „babylonischen Turm des bürgerlichen [ausgehenden 19.] Jahrhunderts, der heute einfällt“. Auch lehnt er den liberalen Idealismus ab, der für ihn nur eine politisch neutrale, human optimistische Spannungslosigkeit oder gar schriftstellerische Vergnügung darstellt. Konrad Weiß wendet sich auch gegen den zeitgenössischen Bildungskatholizismus nach Art Theodor Haeckers, der – nach seiner Meinung – die Sprache nur als ein formales Dienstmittel benutzt, dass das Christentum „nicht partnerisch gleich mit der rein und bloß positiven Gesellschaftsform Seite an Seite treten kann“.12
Gegenüber den propagierten Idealen eines schöngeistigen Humanismus betont Konrad Weiß, dass die Wirklichkeit immer um eine „Träne“ verschieden ist von der „Idee“. Die Geschichte, in der die Menschheit mit ihrer ganzen Tragik steht, stellt keine Humanitätsform dar. Der Mensch kann den Glauben nicht in plausible Brauchbarkeit verwandeln, ihm bleibt nur ein Gehen wie durch Mangel. In der Nicht-Adäquation und Ungleichheit des „Dinges“, das sich in keine kategoriale Ordnung einreihen lässt,13 zeigt sich die Differenz aller „Dinge“ gegenüber jeder Verallgemeinerung. Alles, was der Mensch schafft, auch sein Werk und die Kunst, bleibt unvollkommen und verschieden von dem, was eigentlich zu sagen und auszudrücken ist:
„Die Kunst ist immer um ein tantum dic verbo verschieden von einer Vollkommenheit; dieser Schmerz ist zugleich das Glück ihrer Zeitform. Es ist in dieser Verschiedenheit des Gegebenen und des Sinnes die Spanne, worin die Geschichte ihren Platz hat und in ihr die menschliche Gesellschaft, von welcher die Kunst getragen wird.“14
Den Urgrund aller Wirklichkeit wird kein Wort und kein Kunstwerk erreichen; nur durch die Dinge und Bilder hindurch kann der Mensch ihn berühren, jedoch im Mangel und in der Entfernung, im Fragment und in der Gebrochenheit. Statt sich in natürliche bzw. rein ästhetische Schönheit zu verlieren, hat die Kunst die zeitmöglichen, wenn auch leidvollen Formen der Geschichte anzunehmen. Das Kunstwerk stellt eine einzelne Form in ihrer jeweiligen geschichtlichen bzw. zeitmöglichen Vergegenständlichung dar; solche Verwirklichung bleibt unvollendet und trägt den Makel irdischen Mangels an sich. Jedes Kunstwerk ist beladen mit der „Schwere der Zeit“.
Erkennen im Symbol
Statt eines zeitlosen, abstrakten und damit, wie er es nennt, „toten“ Verstehens geht es Konrad Weiß um das „organische fruchtbare Gebundensein in Zeit und Geschichte“.15 Die Kraft des Christentums zeigt sich nicht in einem logischen, sondern in seinem organischen Verständnis der Geschichte, das im Hergang der Menschheit wächst. Seit der Menschwerdung Gottes muss jede erkennende Geistestätigkeit in die Form der Geschichte eintreten: „Durch das Christentum ist der Mensch als verantwortliche Seele aus der Masse herausgelöst worden; durch das Verlassenheitsgefühl des Erlösers ist die Seele individualisiert worden bis zur Verlassenheit.“16
Es kann wohl sein, dass der Einzelne zunächst den Eindruck hat, es genüge, sich in die natürlichen Ordnungen von Zeit und Ort einzuordnen, doch sobald er dem Anruf Christi begegnet, kann er diesen nicht mehr mit den rein logischen und allgemeinen Maßstäben beurteilen und beantworten, sondern wird in eine Entscheidung gerufen, die er selbst zu verantworten hat und hinter der er sich selbst nicht verstecken und aus ihr immer heraushalten kann. Christus schuf keine christliche Philosophie, wie auch das Christentum letztlich keine solche kreierte, vielmehr kann der Glaube nur in und als Geschichte verstanden und nur geschichtlich lebendig entfaltet werden: „Die Gesetze des Lebens sind nicht rein Begriff – nicht zeitlos, sondern mit Zeit gemischt, wie Treue.“17
Gegenüber dem „prometheischen“ Humanismus, der nach einem erdachten Weltbild zu handeln lehrt, wählt Konrad Weiß einen „epimetheischen“ Ansatz, um im Nachhinein zu bedenken, was ihm begegnet und zustößt, der eigenen Ohnmacht ausgeliefert angesichts des „Mysteriums der Geschichte, welche so wenig logisch ist wie das Mysterium iniquitatis“.18 Epimetheisch leben heißt nachsinnen über das, was schon vorher da war und ist. Prometheisch hingegen ist der Versuch des Menschen, sich selber als autonomes Maß und Sinnziel der Welt zu erfassen. Menschliches Leben bleibt „irdische Existenz“ und damit unvollendet und „unheil“, „beladen“ mit der „Last der Geschichte“, fern von jedem „Vollbracht“:
„Unseres Daseins Zwang und Art
ist stets rätselhaft und hart.“19
Der Mensch ist nicht „reiner“ Geist, sondern eingebunden in Volk, Familie, Land, Ort und Zeit. Geschichte ereignet sich als geschichtliche Verwirklichung des Einzelnen im Zeitlichen, doch im Verweis auf die letzte Erfüllung aller Geschichte.
Aus diesem Geschichtsverständnis ergibt sich eine tiefere Sicht des Glaubenslebens. Konrad Weiß kennt kein rein „geistliches Leben“, verstanden als Absolvieren von geistlichen Übungen und Pflichten oder als Erklimmen einer Vollkommenheitsleiter, indem der Mensch sich, seine Schwachheit und Mühsal letztlich zu überwinden trachtet in eine traute, weltenthobene Gottinnigkeit, vielmehr muss er erfahren, wie „stets rätselhaft und hart“20 alles bleibt. So wird der Mensch
„versucht sein rennend um
die Spanne der Barmherzigkeit“.21
Alles im Leben und Glauben ist nicht Sache der Theorie, des Verstehens und der objektiven Einholung, vielmehr muss alles existenziell erbracht werden, auf „daß Erfahrungen mit Vitalitäten bezahlt werden müssen und darum keiner dem andern gleich erfährt, keiner den andern ein- oder überholt, außer wie es ihm gegeben, diese Abgeschlossenheit des einen gegen den anderen, diese Beschlossenheit und geführte, abhängige Freiheit ...“22 Seit dem Kommen des Menschensohnes kann jedes Geschehen in der Zeit eine tiefere Bedeutung in sich tragen und Symbol eines tieferen Sinnes sein: Nichts genügt sich selbst, sondern sucht seine letzte Erklärung durch seine Teilhabe am Kommen des Menschensohnes.
Gott ist kein Begriff und Christus kein Gattungsbegriff, alles ist einmalig und absolut frei und geht ein in die je einmalige geschichtliche Vollzugsgestalt menschlicher Freiheit und Antwort. Die Vorstellung einer „Geschichte im Symbol“ bzw. vom Symbolgehalt des Daseins ist auch für Georges Bernanos, Reinhold Schneider, Erich Przywara und Hans Urs von Balthasar bestimmend. Für sie alle gilt: „Die Geschichte ist zwar nicht das Letzte, um das es geht; aber es geht um das Letzte nur in der Geschichte.“23
So sind für Konrad Weiß die Ideen ersetzt durch das eingeborene Wort. An die Stelle der Idee tritt das Inbild, das allem einwohnt und alles zu einem Symbol macht: „Durch die Menschwerdung wurde das Vorbild zum Inbild, die Idee aus dem kosmischen Bild der Menschheit in das Wort der Einzelnatur gelegt.“24
Die Natur ist keine eigengesetzliche Macht, sondern Schöpfung Gottes, doch in Geschichte durchkreuzt. Die Welt, im Logos geschaffen, wurde auf den Erlösungsplan hin entworfen, um im Menschgewordenen und Gekreuzigten ihren tiefsten Gehalt geoffenbart zu empfangen. So harrt die Schöpfung auf die Enthüllung der Söhne Gottes, um erkannt und gesagt zu werden.
Ermangelung
Mit seinem zeitörtlichen Ansatz einer Geschichte im Symbol wählt Konrad Weiß einen ähnlichen Weg wie der große mittelalterliche Philosoph Johannes Duns Scotus. Dieser versteht unter „haecceitas“ die mit der Vernunft nicht greifbare Erschaffenheit des konkreten Dinges. In jedem Ding gibt es einen kreatürlichen Rest, der nicht zu verrechnen und zu begreifen ist. Ludo Verbeeck führt hierzu aus: „Die Aufklärung konnte den von der Vernunft nicht greifbaren kreatürlichen ,Rest‘ am Ding nur als Unordnung und Chaos empfinden, weswegen dieser Rest von Kant als ,Ding an sich‘ in die Wüste der Verständnislosigkeit geschickt wurde. Gerade aber bei den bedeutenden Dichtern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist jener Gedanke des Duns Scotus wieder erstanden. Man sollte hier an den unerhörten Satz denken, den Hölderlin in den handschriftlichen Entwurf zu der Hymne ,Mnemosyne‘ (ganz spät entstanden 1805/6) eingetragen hat, und der lautet: ,Die Apriorität des Individuellen über das Ganze‘. Man darf behaupten, daß der erstaunliche Eintrag beim späten Hölderlin wohl die Überwindung des Idealismus markiert.“25 Die Dichtung hat aber nicht nur neu den Weg zum Individuum zu finden, sondern auch und vor allem zum Existenziellen, wie Konrad Weiß es formuliert: „Unter den Möglichkeiten der Dichtung ist diejenige, die den Menschen selber angeht, doch die schwerste und seltenste.“26
Als weitere Namen für jenen Weg, den Konrad Weiß mit seinem Ansatz einschlägt, wären zu nennen Annette von Droste-Hülshoff und vor allem der englische Dichter Gerald Manley Hopkins. Der Vorrang, den Konrad Weiß dem „Wort in seinem Teil“ zuspricht, ist ein Plädoyer für das Einzelwort, nicht jedoch für die Grammatik und die logische Struktur.
Gegenüber Aufklärung und Idealismus zeigt sich für Konrad Weiß eine andere Weltlichkeit der Erde und des Geistes. Alles beginnt damit, dass der Mensch sich in seinem Dasein als hin- und hergerissen erfährt. Unentwegt steht er in ausgesetzten und spannungsgeladenen Positionen. Er gerät in eine leidvolle Zerreißprobe, die durch die human-autonome Selbstverwirklichungsthese wohl überspielt, aber nie beseitigt werden kann. Die Erfahrung von Schuld und Sünde ist das Signum aller Kreatürlichkeit in den Spannungen von Welt und Heil, Geschichte und Reinheit.
Was Konrad Weiß auf seinem Lebensweg zunächst als Krise des Übergangs von der „Jugendempfindung“ zur „Mannesaufgabe“ erfahren und in der Studienzeit als das Ungenügen der Idee und des Begriffs erkannt hat, wird ihm später in seinem dichterischen Werk immer deutlicher zum Ausdruck geistiger Wirklichkeit:„Wie lange man braucht, um vom Theologischen, Begrifflichen loszukommen!!“27
Die geistige Wirklichkeit wird nicht dargestellt in einer Theorie und Spekulation, sondern abgelesen und entdeckt im Erleben der Natur. Schon in der Begegnung mit einer Krähe oder einem Spatzen zeigt sich dem Dichter ein tieferer Hintergrund und eine verborgene Weisheit: Die Welt ist Gleichnis eines umfassenden Sinnes – „das Ganze lebt aus den Teilen“, und die Teile tragen den Sinn des Ganzen zusammen.28 Das Ganze lebt sich stets erobernd aus den Teilen, nicht sind die Teile umgekehrt aus einer „idealen“ Ganzheit herzuleiten. Dieses „dividuale“ Grundgesetz des Christentums steht jedem integralen Denken des Klassischen und Idealistischen entgegen. Die Geschichte „bricht“ alles Irdische, und in den „Frakturen“ und „Fragmenten“ wird das Lebendige sichtbar, das mehr ist als eine „Idee“. Der Mensch „kann nur mit dem arbeiten, was ihm mangelt“.29 Das „Frakturhafte des unvergleichlichen Einzelschöpfungssinnes“30 gilt es zu stärken gegenüber harmonisierenden Tendenzen der Idee und Selbstvollendung.






