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Bernhart ist ein Theologe, der zuinnerst in und mit und von seiner Mutter Kirche lebt. Im gleichen Atemzug ist er sich der Tragik jeglicher Mutterschaft bewusst: Sie fördert, um frei zu lassen; sie muss bestrebt sein, sich überflüssig zu machen.
1916 starb Bernharts Vater. Bis zu dessen Tod hatte er ihm die Tatsache seiner Verheiratung vorenthalten, aus Furcht, der Vater würde innerlich daran zerbrechen. Nach dem Tod des Vaters aber grämte sich der Sohn darüber, dass er sich ihm nicht eröffnet hatte, dass der Vater nicht mehr erfahren hatte, wer er eigentlich gewesen ist. So wollte er zwar Gutes tun und den Vater schonen, gleichzeitig aber hatte er damit nicht der Wahrhaftigkeit und der Aufrichtigkeit gedient, war nicht dazu gestanden, dass er als Priester „das erbarmungslose Gesetz seiner Kirche gebrochen“ hatte „und so der Ehrlichkeit seines Gewissens gefolgt“ war. „Meine Gedanken kreisten hartnäckig um ein lateinisches Diktum, das mich zugleich verklagte und entschuldigte: ,Facto pius sceleratus eodem‘, was besagt, daß der Mensch mit einem und demselben Tun zum Frommen und zum Ruchlosen werden kann. Ich weiß nicht mehr, auf welchen Dichter das Wort zurückgeht, nur daß es den Menschen unheimlich scharf gesehen hat. Fortan ging es mir nach und trug dazu bei, daß ich die Weltverfassung als von Hause aus unheimlich verstehen lernte. Da nun auch der Krieg mit all seinen Verstrickungen von Schuld und Recht den Erdkreis erfüllte, stellte sich mir das Thema ein, über das ich aus eigenem Bedürfnis und fremder Anregung zu schreiben begann. Was schließlich heraus kam, ist im Frühjahr 1917 in der Beckschen Verlagsbuchhandlung als ,Tragik im Weltlauf‘ erschienen.“4
Geistig prägte Bernhart die Jenaer Studienzeit 1911/12, die Begegnung mit dem modernen Denken seiner Zeit. Weit gespannt sind die Beziehungen und Begegnungen des freien Schriftstellers – sie reichen von nationalkonservativen Kreisen um Paul Nikolaus Cossmann bis zu Thomas Mann. Nicht um Themen und Arbeit, wohl aber oft um die ökonomische Grundlage musste Bernhart in den Münchener Jahren seit 1913 bangen. 1934 zogen er und seine Frau ins schwäbische Türkheim, in das Elternhaus um, nicht zuletzt aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und um Konzentration zu finden für einige größere Vorhaben: In den Folgejahren entstand die Auswahl aus der „Summa theologica“ des Thomas von Aquin und die 1955 erschienene, mit sensibler Präzision und Sprachgewalt komponierte Übersetzung der „Confessiones“ von Augustinus. Überschattet waren diese Jahre von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft und des Krieges, nicht zuletzt aber von der schweren Krankheit und dem Tod (1943) seiner Frau. Sie war ihm Weggefährtin, kongeniale Mitarbeiterin, sie war die Künstlerin, Mahnerin und Trösterin, die ihn zu seiner vollen Schaffenskraft befreit, motiviert, getragen hat. Schon in dem Essay „Der eheliche Mensch“ (aus: „De profundis“, 1935) setzte er ihr ein Denkmal.
Bernhart war ein Brückenbauer, ein Interpret und Übersetzer mit Empathie und Präzision, ein Theologe, der die biblische Botschaft ins Gespräch brachte mit im Katholizismus seiner Zeit gemiedenen oder verfemten Autoren wie Goethe und Nietzsche.
Die Suche nach dem Sinn der Geschichte
Der Seelsorger, Theologe und Historiker wurde angesichts der Trümmer zum Deuter der Geschichte, der zeitgeschichtlichen Ereignisse, ja der Geschichtlichkeit von Mensch und Schöpfung überhaupt. Bernharts Geschichtsverständnis wurde in „Tragik im Weltlauf“ in einem ersten Anlauf vorgelegt. In diesem Themenfeld bewegen ihn vorrangig die Fragen, wie man die dunklen Seiten des Geschichtsverlaufs aushalten kann, wie deren Sinnhaftigkeit durch das Stellen in eine höhere Ordnung aufzuweisen ist. Bernhart formuliert hier bereits 1917 sein Ringen um den Umgang mit dem zerbrochenen Sinn der Geschichte, die Trauer über Vernichtung und Trümmer, die die Ereignisse hinterlassen. Ihm ist deswegen vielfach Tragizismus unterstellt worden, ein Vorwurf, der nicht zu halten ist, wenn man den Ernst hört, mit dem Bernhart an vielen Stellen seiner Schriften die Bedeutung der ethischen Dimension in der Realisierung der christlichen Botschaft unterstreicht und gleichzeitig sein Ringen um die Klärung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit, von Ewigkeit und Zeit kennt.
„Tragik im Weltlauf“, „Sinn der Geschichte“, „Chaos und Dämonie“ und dazwischen noch der Ruf des „De profundis“ sind zentrale Schriften. Bernhart hat ohne Zweifel ein sehr feinfühliges Sensorium für die Zeitfragen und die subkutanen Probleme der Zeitgenossen, leidet er doch selbst nicht nur an den Erwartungen seiner Eltern, an dem Unausgesprochenen in seiner Familie, an der vielfach sich äußernden Machtdemonstration seiner Kirche, an den Grausamkeiten der Ideologien. Wie ein roter Faden durchzieht die Konfrontation des reichen geistesgeschichtlichen Erbes in der Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie mit den abgründigen Erfahrungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts sein Werk.
In und nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges bezeichnete er zwar die Situation als eine, die die Menschheit sich selbst zum Rätsel mache, aber letztlich den Fragen der Theodizee keine neue hinzugefügt habe. Erschrecken bereite die Häufung des sittlichen und physischen Elends. Bernhart sieht eine Alternative, mit diesem Elend umzugehen, darin, dass der Mensch sich durch den Aufschwung in Illusionen rette. Er verurteilt diese Flucht nicht per se. Der Mensch könne sich aber auch, und diesem Lösungsweg gilt die Sympathie Bernharts, mit dem Mute wahrer Bildung dem Walten der Tragik im Weltgang nicht verschließen.5 Bernhart meint gerade nicht in eine Scheinwelt abzudriften, wenn er sich im Disput mit der Traditionslinie des Denkens des Tragischen befindet: mit Heraklit, Nikolaus von Kues, Johann Wolfgang Goethe, mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums. Damit sind auch die Protagonisten angeführt: zum einen der menschliche Geist mit seinem Erkenntniswillen und der gleichzeitigen Einsicht in die Unzulänglichkeit eigener Erkenntnisfähigkeit im Gegenüber zur Wirklichkeit – und daraus resultierend die diskursive Struktur der Erkenntnis –, zum anderen der Logos, seinem Wesen nach ewig und deswegen tragisch in seinem zeitlichen Geschick unter den Menschen. Dreh- und Angelpunkt für die Schuldbewältigung ist nach Bernhart letztlich die Deutung des Christusgeheimnisses. Auf dieses Zentrum hin entfaltet er seine Antwort in diesem Bändchen: Es ist eine, die vorgegeben ist und ihren überzeugenden Ausdruck im Logos crucifixus findet, eine Antwort, die in ihrer tragischen Verfasstheit dem Duktus menschlichen Erkennens in den Bereichen von Geschichte, Natur, Mensch, Kultur und Kunst entspricht.
Konsequenterweise befasst Bernhart sich im letzten Kapitel von „Tragik im Weltlauf“ mit dem Logos crucifixus. Und das nicht zuletzt in einer zumindest subkutan mitschwingenden Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche. Er stellt dem Kapitel den Vers aus einem alten Passionsspiel voran: „Oh große Not, Gott selbst ist tot.“ Noch deutlicher wird diese Antwort aus dem Johannes-Evangelium formuliert. „Das Kreuz als Zeichen der äußeren Vernichtung ist zugleich das Zeichen der Erhaltung der höchsten Werte und der inneren Bewahrung geworden. Aber diese Erkenntnis war nicht die Sache der Vernunft, sondern der persönlichen Erfahrung im Anschluß an den tragischen Logos, den man in Jesus sah.“6 Christus mit dem Kreuz erscheint als der Umwerter aller Werte.
„Tragik im Weltlauf“ ist eine Warnung vor dem zum Übermenschen stilisierten Menschen, vor der Erklärung oder Hinnahme der Welt mit rein innerweltlichen Kräften. Sie ist vielleicht weniger eine Warnung vor dem Ende der Metaphysik, wenngleich sie auch das ist, als vielmehr ein Versuch, zwischen Neuscholastik und Idealismus mit dem Logos des Evangeliums, mit Augustinus und der Mystik eine Zwischenposition zu finden, jenen Antwort zu geben, „die in der allgemeinen Erschütterung der Dinge die Frage nach den Fundamenten unseres Daseins stellen“.
Die bleibende Bedeutung der Kreuzestheologie, ihre Zentralität für Bernharts Beschäftigung mit der Theodizee, zeigt sich auch in dem Essay „Tragische Welt“ (in: „De profundis“), der sowohl als Warnung Bernharts vor einer Tragisierung Gottes zu sehen ist wie auch als ein Antwortversuch auf jene, die ihm mit dem Bändchen „Tragik im Weltlauf“ selbst Tragizismus vorgeworfen haben. In dieser Abhandlung über die tragische Welt findet sich als Korrelat zum Kreuz der Hinweis auf die Herrlichkeit des Auferstandenen, die freilich nicht ohne die Spuren des Kreuzes zu denken ist. Der Auferstandene behält seine verklärten Wunden: „Wir sind nicht von der Tragik der Welt erlöst, sondern hineinerlöst in ihre volle Gültigkeit vor Gott. Erst dann, wenn dies erkannt ist, fassen wir die Herrlichkeit des Auferstandenen. Er ist auferstanden, aber mit Wunden. Mit Wunden, aber mit verklärten.“7
Zeit und Ewigkeit: Der mystische Mensch
Theologie und Geschichtsdeutung sind zuinnerst charakterisiert durch Bernharts Blick auf den mystischen Menschen, der Ziel jeder seelsorgerischen Bemühung der Kirche sei. Eine beispielhafte Ausführung dieses Gedankens findet sich in dem nachgelassenen Fragment „Das Stehen des Heiligen in der Geschichte“, das wohl 1943 entstanden ist – etwa zeitgleich mit seinen Überlegungen zum „mystischen Menschen“. Bernhart präsentiert dort ein Verständnis von Geschichte, das sehr deutlich auf Thomas von Aquin verweist; seine Sammlung und Kommentierung von Texten aus der „Summa theologiae“ liegt erst wenige Jahre zurück. Es kommt eine Tendenz zur Metaphysik in die Argumentation, wenn er das letzte „Was“ der Geschichte in der Rückbewegung des Menschen zu seinem erhabenen, weil ewigen Seinsgrund liegen sieht.
Die Frage nach dem Austarieren von Zeit und Ewigkeit steht für ihn im Mittelpunkt, einer Ewigkeit, die das Zeitliche nicht aufsaugt, sondern vor ihr Gericht fordert. Das Zeithafte, jeder Augenblick wird mit einer ungeheuren Entscheidungsintensität aufgeladen. Jeder Augenblick menschlichen Lebens, der Kirche, der Geschichte wird im Blick der Ewigkeit zur Krisis. Weil aber Freiheit und Notwendigkeit zusammengedacht werden müssen, ist es nicht nur das Handeln des Menschen, sondern auch sein Schicksal, das die Geschichte prägt. Gottes stets schöpferisches Handeln – Bernhart legt großen Wert darauf, die creatio continua zu unterstreichen – und das des Menschen prägen den Lauf der Dinge. Eschatologie ist nicht nur im Sinne einer Teleologie ans Ende der Zeiten verlegt, sondern sie ist eine präsentische, die das menschliche Handeln in jedem Augenblick vor den göttlichen Endsinn aller geschöpflichen Wirklichkeit fordert: Die Allgegenwart Gottes auch in der Zeit ist zugleich die Allgegenwärtigkeit jeglicher Zeit und Geschichte vor Gott.8
In der Christologie plädiert Bernhart dafür, dass das Wort „wahrer Mensch“ nichts von seiner Wucht verlieren dürfe. Es dürfe nicht dahin kommen, dass gleichsam unter der erhabenen Regie des Christus-Gottes der Mensch Jesus nur ein Spiel auf der irdischen Bühne aufführe.
Der Intellektuelle und die Politik
Bernhart war zeit seines Lebens ein kritischer Begleiter der zeitgeschichtlichen Ereignisse, der gesellschaftlichen Entwicklungen. Fundamental und zentral ist ihm die Bedeutung des Gewissens: Der Mensch muss anders werden, damit die Welt anders wird. Auf dem Hintergrund dieser Grundaussage – für Bernhart ein Kern der Botschaft Jesu von der notwendigen Umkehr, der Sinnesänderung – müssen auch seine Texte zu den politischen Ereignissen gelesen werden.
In den ersten Tagen des Freistaates Bayern im Februar 1919 hat er in der „Süddeutschen Freiheit“ einen Artikel publiziert („Der Katholizismus und die neue Gesellschaft“), der ihn in den Augen einiger seiner konservativen Freunde als verkappten Sympathisanten linker Sozialisten erscheinen ließ. Er wollte die Aufgabe der Kirche in der künftigen Gesellschaft, die er als eine vom Sozialismus geprägte voraussah, skizzieren. Die Kirche werde sich in dieser neuen Situation auf vieles besinnen müssen, was sie bisher versäumt habe; sie werde mit dem Geist ihres Stifters voll ernst machen müssen, nämlich die sittliche Gleichberechtigung aller Menschen zu verwirklichen, einen gerechten Ausgleich herbeizuführen und die Sendung und Aufgabe an der ganzen Menschheit ernst zu nehmen. Andererseits müsse der Sozialismus durch die geistige Tradition der Kirche eine ideelle Vertiefung erfahren, er müsse lernen, dass eine bloße Reform der Einrichtungen nicht genüge, die Reform müsse vielmehr den Menschen selbst ergreifen. Bernhart fordert dort wie in einem vorangegangenen Artikel und einem Vortrag vor Frauen eine gemäßigte Trennung von Staat und Kirche und die Rückbesinnung der Kirche auf die ihr eigentliche Aufgabe, die Idee der Entsagung, des Kreuzes der Welt vor Augen zu stellen.
„Ihre [= der Kirche] politische Verkettung mit den Staaten hat es ihr verwehrt, mit einem ,Quos ego‘ aufzutreten und im Namen dessen, der gesagt hat, daß durch das Schwert umkommen müsse, wer zum Schwert greife, die katholische Christenheit vom Menschenmord zurückzuhalten. Von Rom her ist kein Wort über die himmelschreiende Schuld des Krieges überhaupt gefallen, statt dessen wehten larmoyante Ermahnungen und Gebetsversprüche daher, die sang- und klanglos untergingen. So hat das Kirchenregiment heute ein moralisches Defizit zu buchen, das vor der Majestät des Bergpredigers schlechthin nicht mehr zu verantworten ist.“9
Freunde zogen sich nach diesem Artikel zurück, Bernhart stellte seine politische Schriftstellerei umgehend ein, um nicht weitere Missverständnisse zu provozieren. Die Reaktion des Freundeskreises dürfte als wichtige Zäsur, als ein Schlüsselerlebnis für die künftige Orientierung Bernharts angesehen werden. Er kann sich, was kirchlich-dogmatische, aber auch was Fragen gesellschaftlicher Verfasstheit anlangt, nicht so progressiv, so biblisch radikal äußern, wie er sich offensichtlich gelegentlich vorwagen wollte. Denn er will nicht auf seinen Freundeskreis verzichten; er braucht diesen, weil ihm als verheiratetem Priester die Zustimmung der Kirche nicht sicher sein kann. Auf diese aber will er keinesfalls verzichten.
Der unbestechliche Mahner gegen den Nationalsozialismus
Der bedächtige, vorsichtige Unruhestifter reformkatholischer Kreise wurde unter den nach 1933 veränderten politischen Verhältnissen zum klaren Kritiker: Am Vorabend der Märzwahlen 1933 formulierte er: „Was da vorgeht, brauchte niemand zu erschrecken, wenn es nicht auf eine Anbetung des Familienklotzes hinausliefe, auf die Einsetzung des Blutes zum Sakrament, die Apotheose der unteren Natur, in der man bolschewistisch oder faschistisch den Herrn und Schöpfer des Ganzen ersticken möchte. Wenn jemand ein Recht hat, den neuen Herolden des Nationalismus die Posaune vom Munde zu schlagen, so ist es der Christ, dem sein Glaube mehr ist als die Programmnummer des vielberufenen positiven Christentums in politischen Plakaten und rhetorischen Massenfängen. Denn von Anbeginn hat dieser Glaube, diese Kirche das Individuelle, auch das Blut, den Stamm und die Volkschaft mit der denkbar erhabensten Sanktion versehen (...). Ein jeder steht mit gleichem Recht wie der andere, keiner ist wie der andere, aber – und das macht den Gegensatz des christlichen Nationalismus gegen die Selbstvergötzung der Nationen an Stelle der abgedankten oder in politische Schutzhaft erklärten Gottheit – aber sie stehen und dienen vor dem Throne des Einen, der über alle zugleich der Herr ist.“10
Im Dezemberheft 1939 des „Hochland“ wurde ein weiterer Artikel gedruckt (danach durfte die Zeitschrift nicht mehr erscheinen). Bernhart geißelte dort die nunmehr bedrohlich gewachsene Sintflut. Dieser Beitrag mit dem Titel „Hodie“ ist einmal mehr eine prophetische Kritik. Im Zentrum stehen der biblische Messias und die Botschaft vom Reich Gottes. Beide halten der „Unseligkeit der Gegenwart“ den Spiegel vor, damit die „Fratzen des Fürsten dieser Welt“ deutlich werden. Gemäß seiner präsentischen Eschatologie unterstreicht Bernhart jeden Augenblick als entscheidend vor dem Gericht des ewigen Nun. Steht es aber in jedem Augenblick der geschöpflichen Geschichte so kritisch, dann ist auch der ganze Einsatz des ganzen Menschen für das Reich Gottes erforderlich. „Das heißt nun auch, daß Gottes Reich, also der Sinn der Geschichte, dem Verständnis erst durch den Schlüssel erschließbar ist, der uns im Wort von Gottes Offenbarung gereicht wird. Gegenüber allen anderen Anschauungen des Geschichtsgeschehens und ihren Folgen für das politische Handeln gilt dem Christen auch in diesem Betracht die Warnung: ,Sehet zu, daß da keiner euch verführt durch die Weltanschauung (philosophia) und hohlen Trug nach menschlich herkommender Lehrmeinung, nach den elementischen Wesenheiten und nicht nach Christus‘ (Kol 2, 8).“11
Bernhart benennt Unglück und Unrecht, er klagt die Vergewaltigung guter Völker durch schlechte an, indem er den Völkern das ordnende Gericht des Herrn der Geschichte prophezeit, ein erschütterndes Gericht. Er will das Gerede von der Rasse ad absurdum führen, indem er den Begriff auf eine andere, auf die theologische Ebene hebt und mit Bernhard von Clairvaux von der „generatio quaerentium faciem dei“ spricht, dem Gottesvolk, das aus allen Völkern gesammelt wird und die Prägung der acht Seligkeiten und des „Vater Unser“ annimmt. Bernhart spricht damit auch eine versteckte Anklage der Mitläufer im Christentum aus und weist hier einmal mehr auf die Bedeutung der ethischen Dimension für die Realisierung christlicher Botschaft durch die Menschen hin.
Theologie und Geschichtsdeutung sind zuinnerst charakterisiert durch Bernharts Blick auf den mystischen Menschen – gegen Parolen wie: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“
Welche Erfahrungen sind vorausgegangen, dass er so hartnäckig ablehnend blieb und sich nicht etwa einer Reichstheologie wie der Ildefons Herwegens, des Abtes von Maria Laach, anschloss? Warum verfiel er nicht der Lebenstheologie Karl Adams, des einflussreichen Tübinger Dogmatikers, der mit seinen Reflexionen über das Wesen des Katholizismus hohe Auflagen erzielte? Was hielt Bernhart davon ab, 1933 zu schreiben: „Man hatte im Lärm des Parteihaders (...) weithin das feine Organ für das Lebendige und seine zeugenden Kräfte eingebüßt. Man verkannte, daß ein erkrankter Volkskörper nicht durch äußere Heilmittel allein (...) geheilt werden kann, sondern entscheidend (...) ein lebendiger Mensch [ist], der zu jenen verborgenen Kräften, zu jenen geheimen Lebensquellen des Volkes Zugang hatte und der sie erwecken konnte, ein Mensch also, in dem die ganze Wesensart des Volkes, seine Ängste und seine Hoffnungen, sein Zorn und sein Trotz, sein Hochsinn und sein Heldenmut Fleisch und Blut geworden war, in dem das Volk sich selbst, sein Bestes wieder erkannte und erlebte (...). Ein solcher Mensch, der ganz und gar Volk und nichts als Volk war (...) mußte kommen, wenn anders das deutsche Volk in seinem Innersten berührt und zu neuem Lebenswillen erweckt werden sollte – und er kam.“12
Gibt es in Bernharts Theologie, in seiner Biographie Hinweise für eine Erklärung seiner vielschichtig dem Mainstream gegenläufigen Positionen? Den Mainstream hat Thomas Ruster in seiner Arbeit über katholische Theologen in der Weimarer Republik13 so charakterisiert: Nach dem Ersten Weltkrieg sei der Katholizismus in Deutschland auf eine Gesellschaft getroffen, die sich geradezu ruckartig modernisierte. Diese Transformation habe katholische Theologie tiefgreifend geprägt. Die Auseinandersetzung mit der modernen Welt sei überall dort prägend geworden, wo Theologen über den engeren fachwissenschaftlichen Diskurs hinausgingen. Ruster konstatiert ein breites Spektrum von Deutungsversuchen und Lösungsansätzen. Alle aber seien sie geprägt von der konstanten Grundfrage nach der Nützlichkeit der katholischen Religion in den veränderten Zeitumständen. Die Absicht, die eigenen Anliegen in der Transformation plausibel zu machen, barg die deutliche Gefahr der Adaptation in sich. Es ist bei Bernhart nicht zu vermuten, dass er sich den Veränderungs- und Auflösungsprozessen einfach nur widersetzte. Auch aus eigener biographischer Betroffenheit durch eine starre Praxis überkommener Vorschriften setzte er sich mit der jeweils neuen Situation und ihren Impulsen und Intentionen intensiv auseinander. Dabei wollte er den Katholizismus oder die Katholiken nicht funktionalisieren.
Woher nährte sich Bernharts Resistenz gegen den NS-Totalitarismus? War es seine konservative Grundhaltung, die ihn das pöbelhaft Revolutionäre des Nationalsozialismus abstoßend erscheinen ließ, wie Lorenz Wachinger vermutet, also ein restaurativer Widerstand? Die Erklärung greift zu kurz, hat Bernhart doch nicht nur 1918/19, sondern ebenfalls in dem angeführten Zitat von 1945 auch Sympathien für den „Linkskatholizismus“ erkennen lassen. Verankert in der Moderne und vertraut mit vielen Positionen der Geistesgeschichte der Neuzeit, mit Literatur und Kunst, leitet ihn sein Interesse für den Einzelnen.
Hauptsächlich die mystische Tradition der Theologie des Mittelalters faszinierte Bernhart und gab ihm vielfältige Impulse für seine eigenen Ansätze und Positionen, vor allem in der Hochschätzung des einzelnen Gläubigen und seines Gewissens wie auch in der Frage nach dem Austarieren von Zeit und Ewigkeit: der Ewigkeit, die das Zeitliche nicht aufsaugt, sondern jeden Augenblick zur Krisis werden lässt.
Bernharts Frage nach dem Sinn der Geschichte bringt ihn zu der nach den Bedingungen des Menschseins, seiner „Zwiemöglichkeit“ und der Verantwortung durch die Gabe des Gewissens. Die Würde des Einzelnen wird enorm aufgewertet. Die Gemeinschaft steht im Dienst des Einzelnen, nicht umgekehrt: Gegen die Hypostasierung der Gemeinschaft muss er aufstehen. Überhaupt wird Bernhart zunehmend skeptisch gegenüber abstrahierten Größen wie „Reich“ oder „Leben“.
Bei ihm wird die christliche Botschaft selbst zur Krisis, zur prophetischen Scheidung der Geister – damit wendet er sich gegen jede Funktionalisierung. Die Bergpredigt ist für Bernhart das Zentrum; er hatte die protestantische Bibelkritik seiner Zeit rezipiert. An den Propheten nimmt er Maß. So konnte bei ihm keine Begeisterung für den „Führer des Volkes“ aufkommen. „In der folgenden Zeit der Restauration und Reformation, des Festefeierns und des immer höher schwellenden religiös-nationalen Fanatismus lässt sich ein tief und weitaus schauender Mann wie Jeremias nicht beirren, ein Führer seines Volkes gegen dieses Volk zu sein. Von ihm und seinen Heilspropheten verhöhnt, verspottet, von seinen Nächsten verfolgt und am Leben bedroht, ein verzweifelnder Patriot in schauerlicher Einsamkeit, schleudert er aus der Qual eines heißen Herzens den Auftrag seines Gottes gegen Stadt und Staat und Tempel. Jahwes Wort haben sie verworfen: was für Weisheit ist ihnen geblieben? (...) Den Schaden meiner Volksgenossen möchten sie auf schnellfertige Weise heilen, indem sie rufen: Heil! Heil!, wo doch kein Heil ist. Schämen werden sie sich müssen, dass sie Greuel verübt haben. Aber für sie gibt es kein Erröten mehr, noch wissen sie mehr, was sich schämen heißt (...). Israel verwarf diesen bittern Führer, es folgte seinen Heilspropheten in das Unheil, das Babylon, wie Jeremias es vorausgesagt, an ihm erfüllte.“14
Bereits in der Frühphase des Dritten Reiches wurde Bernhart in der Verteidigung des Alten Testamentes mit dieser alttestamentlich-prophetischen Vision zu einem unbestechlichen, ja visionären Mahner seiner Zeit, der in seiner geistigen Distanz, gewonnen aus der profunden Kenntnis der reichen Traditionen europäischer Geistesgeschichte, nie in der Gefahr stand, sich anzubiedern, und dessen Gesichte sich so schrecklich erfüllen sollten.
Der katholische Intellektuelle nach Auschwitz
Wie versuchte Bernhart auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen und dem seiner theologischen Erkenntnisse die in Nationalsozialismus und Krieg angehäufte Schuld der Menschen, vor allem der Deutschen, zu erklären? Bereits 1944 konzipierte er dazu drei Reden: „Geschichtstheologischer Vortrag“, „Geheimnis der Bosheit“ und „Die Frohbotschaft vom Kreuz“. Bernhart spricht dort von der Unvergleichlichkeit der Entwicklung, von Finsternissen von einer solchen Intensität, wie es sie seit Menschengedenken noch nicht gegeben habe. Zusammengefasst und verdichtet sind diese Überlegungen in dem 1950 erschienenen Bändchen „Chaos und Dämonie“, das die unterschiedlichen Themenfelder Bernharts wie in einem Brennglas bündelt, die Wucht der Fragen der Zeitgeschichte aufnimmt und im Dialog mit zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen interpretiert. In diesem Kontext wählt Bernhart nicht mehr den Begriff der Tragik zur Umschreibung des gott-menschlichen Miteinanders, des Mit- und Nebeneinanders von Ewigkeit und Zeit. Er ist vom Ansatzpunkt her noch stärker schöpfungsorientiert und wählt wohl nicht zuletzt aus dieser Perspektive die Begriffe „Chaos“ und „Dämonie“ zur Beschreibung der Schöpfungswirklichkeit.





