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Es fragt sich natürlich, ob hier Wust das Prinzip des Christlichen nicht doch etwas überspannt. Denn auf der anderen Seite wirft Wust Jaspers das gerade vor, was er hier an Platon lobt (vgl. UW 167 ff.). Man darf aber darüber nicht vergessen, dass Wust in der Regel das Christliche auf das Katholische hin verengt. So beginnt sein Beitrag „Die Rückkehr des deutschen Katholizismus aus dem Exil“ mit den folgenden Worten:
„Das Menschliche ist ein mittleres und deshalb ein zwischen zwei Regionen vermittelndes Seinsverhältnis. Der Mensch steht zwischen der Natur unter ihm und der ,Natur‘ über ihm und bildet so ein Bindeglied zwischen unbewußter Natur und vollbewußtem Geist, zwischen strenger Notwendigkeit und lauterer Freiheit. Dieser hier an den Anfang gestellte Gedanke vom Menschlichen als der ewigen Wesensmitte des gesamten Seins umschließt eine Grundwahrheit von unerschütterlicher Geltung, die sich aus den ewigen Urverhältnissen des Seins herleitet, und die sich beim Blick auf diese Verhältnisse wie auf gewisse empirische Tatsachen einwandfrei erkennen und nachweisen läßt. Nun kommt aber diese Wahrheit nur in einer einzigen von den vielen positiven Religionen der Menschheit völlig rein zum Ausdruck, nämlich im Christentum. Und wieder verengt sich dann der Kreis dem tiefer Blickenden. Denn nur im Katholizismus der römischen Kirche prägt sich diese Lehre von der goldenen Wesensmitte des Menschlichen in ihrer reinsten Form aus. Nur in ihm nämlich werden die Extreme zur Rechten und zur Linken vermieden, und nur in ihm wird der Mittelweg zwischen Natur und Übernatur durch alle Jahrhunderte hindurch ängstlich und sorgfältig eingehalten.“ (GW V, 291)
Allein der Katholizismus weiß nach Wust „Natur und Übernatur sowie Wissen und Glauben so wundervoll zu einer so schönen Einheit und inneren Zusammenstimmung zu verbinden“ (GW V, 292). Allerdings darf sich ein „christlicher Realismus“ nach Wust nicht „von der Problematik und der Sprache des modernen Denkens (...) distanzieren“ (GW VI, 105). Und diese Problematik und Sprache ist eine wesentlich andere als im Mittelalter; von daher konnte sich Wust mit der neuthomistischen und neuscholastischen Philosophie auch nie anfreunden. Zwar nennt Wust in seinem Vorwort zu „Ungewißheit und Wagnis“ drei Schriften, denen er viel zu verdanken hat: die „Religionsphilosophie“ von Bernhard Rosenmöller (Münster 1932), die in gewisser Weise noch dem scholastischen Denken verpflichtet ist, die Schrift „Über die Hoffnung“ von Josef Pieper (Leipzig 1935) sowie die fünf Vorträge über „Vernunft und Existenz“ von Karl Jaspers (Groningen 1935). Aber ohne Zweifel ist es – neben Max Scheler – der Existenzphilosoph Karl Jaspers, dem Wust wesentliche Einsichten, besonders was sein Philosophieverständnis angeht, zu verdanken hat.15
Im Folgenden geht es mir darum, anhand von Wusts Hauptwerk „Ungewißheit und Wagnis“ die Konsequenzen seiner anthropologischen Kernaussage, dass nämlich der Mensch wesentlich als „animal insecurum“, als ungesichertes Lebewesen zu begreifen ist, für die Dimension des religiösen Glaubens herauszuarbeiten.
Insecuritas als Existential
„Der ungeborgene Mensch gibt dem Zeitalter die Physiognomie, sei es in der Auflehnung des Trotzes, sei es in der Verzweiflung des Nihilismus, sei es in der Hilflosigkeit der vielen Unerfüllten, sei es im irrenden Suchen, das endlichen Halt verschmäht und harmonisierenden Lockungen widersteht.“ Diese Worte stammen nicht etwa von Peter Wust, sondern von Karl Jaspers. Sie finden sich in seiner Schrift „Die geistige Situation der Zeit“16 von 1931. „Der ungeborgene Mensch gibt dem Zeitalter die Physiognomie“: Das ist ein Satz, der auf unsere heutige Situation mehr denn je zutrifft. Peter Wust kannte die Schriften von Karl Jaspers, und er kannte sicherlich auch dieses Wort. Was hier über den „ungeborgenen Menschen“ in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gesagt wird, arbeitet Wust als ein Existential menschlichen Seins heraus, ja als das Existential des Menschseins. Die Ungeborgenheit, die Ungesichertheit, lateinisch: die Insecuritas, ist für Wust nicht nur ein Kennzeichen des Menschen im 20. Jahrhundert, sondern ein Kennzeichen des Menschseins überhaupt. Die conditio humana ist wesentlich geprägt durch diesen Begriff der Insecuritas; der Mensch ist in diesem Sinne nach Wust das „animal insecurum“ (UW 40 f.), das „ungesicherte Lebewesen“. Wust will damit keineswegs die klassische Definition des Menschen verabschieden, die ihn als „animal rationale“, als „vernünftiges Lebewesen“, bestimmt, aber er will den Aspekt der Ungesichertheit herausheben, der mit der Geistigkeit des Menschen immer schon mitgegeben ist.
In seiner anthropologischen Konzeption versteht es Wust, modernes Denken mit Positionen der klassischen Metaphysik zu verknüpfen. Denn er stellt den Begriff der Ungeborgenheit oder Ungesichertheit in einen größeren Rahmen, nämlich in den von Thomas von Aquin im Anschluss an neuplatonische Auffassungen formulierten Gedanken der Horizontstellung des Menschen.17 Der Mensch lebt hiernach in zwei Welten: in der Welt des Göttlichen und in der Welt des Tierischen; er hat sowohl teil am „mundus sensibilis“ als auch am „mundus intelligibilis“. In Wusts Worten ausgedrückt: Er hat sowohl am „Bios“ als auch am „Logos“ teil. Mit dieser Horizontstellung ist gleichzeitig eine tragische Dialektik verbunden: Der Mensch gehört beiden Bereichen zu, ist aber in keinem der beiden Bereiche wahrhaft ansässig (vgl. UW 46 f.). D. h., der Zustand einer absolut unanfechtbaren Gesichertheit ist für den Menschen prinzipiell nicht zu erreichen.
Diese Gedanken weiß Wust mit den Einsichten der modernen philosophischen Anthropologie zu verbinden, wie sie ihm bei Max Scheler18 begegnet sind: Der Mensch ist hiernach nicht mehr umweltgebunden wie das Tier, sondern weltoffen. Wust spricht in diesem Zusammenhang von der „Indefinitheit“ der menschlichen Natur (vgl. UW 42 u. ö.). Diese Weltoffenheit des Menschen ist jedoch zweideutig; denn sie bedeutet zum einen eine Erhebung über das Schicksalhafte hinaus in den Raum der Freiheit, zum anderen ist damit aber immer auch ein Risiko und Wagnis verbunden. Der Mensch ist, wie Friedrich Nietzsche es so treffend formuliert hat, „das noch nicht festgestellte Tier“.19
Diese Entscheidungs- und Wagnissituation wird nach Wust um so tiefer und offensichtlicher, je weiter wir vordringen zum eigentlich Menschlichen, d. h. in den Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Welt und in den Fragen nach unserem Heil, also: in Philosophie und Religion. Die Situation der Ungesichertheit spielt somit nicht nur im vitalen Bereich eine entscheidende Rolle, sondern sie verschärft sich geradezu in den Bereichen der geistigen und übernatürlichen Existenz des Menschen. In keinem dieser Bereiche kommt der Mensch zu einer letzten Gewissheit.
Dialektik von Geborgenheit und Ungeborgenheit
Wusts Hauptwerk „Ungewißheit und Wagnis“ setzt – wie schon eingangs angedeutet – mit der neutestamentlichen Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11 – 32) ein. Hiernach verlässt ja bekanntlich der jüngere der beiden ungleichen Brüder, allen Warnungen des weise vorsorgenden Vaters zum Trotz, die Gesichertheit des väterlichen Hauses und stürzt sich in das Wagnis einer unbekannten Welt. Wust deutet diese Parabel als ein Bild des Menschseins als solchen. Hiernach verlangt das Leben in seiner Sinnganzheit die unaufhebbare Dialektik von Geborgenheit und Ungeborgenheit. Es ist nicht so, als gäbe es nur die beiden Seiten der Geborgenheit oder der Ungeborgenheit. Sondern diese beiden Seiten sind dialektisch ineinander verschlungen: Es gibt eine Ungeborgenheit in der Geborgenheit, und es gibt eine Geborgenheit in der Ungeborgenheit. Wust führt dazu aus:
„Wohl hat zunächst die Gesichertheit des Lebens ihr Recht und ihren ganz tiefen Sinn. Und man wird es selbstverständlich finden, daß der Mensch auf sie hinstrebt und sich gegen die Ungesichertheit des Lebens zu schützen sucht. Das Leben selbst aber, wenn man es auf sein Wesen hin näher untersucht, scheint viel eher mit der Ungesichertheit insgeheim im Bunde zu sein als mit der Gesichertheit, und zwar nicht etwa, wie der Mensch aus seiner Alltagssicht so leicht anzunehmen geneigt ist, weil es ihm aus einer ihm eingeborenen Feindseligkeit heraus sein Glück mißgönnen würde, sondern vielleicht gerade deshalb, weil erst die Ungesichertheit zu jener besonderen Art von Gesichertheit führt, die den Menschen als Menschen über sich selbst hinausdrängt und ihn damit erst ganz zu sich emporhebt.“ (UW 30 f.)
Wust sieht in der Ungesichertheit also immer auch einen positiven Sinn. Es geht ihm dabei in keiner Weise darum, jeglicher Tradition und allem Ordnungsstreben des Menschen den Kampf anzusagen „und gewissermaßen das Prinzip einer Revolution in Permanenz auf seine Fahne [zu] schreiben“ (UW 38). Aber nach Wust steht „das Sekuritätsstreben der Menschen (...) so sehr im Vordergrunde aller Lebenserfahrung, daß es geradezu einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, um die positive Bedeutung der Ungesichertheit als ein ernstes metaphysisches Problem des Lebens in den Blickpunkt der Alltagsmenschen zu bringen“ (UW 37 f.). Wust will die „Totalität des Lebens“ (UW 31) sichtbar machen. Das ist ihm zufolge aber nur möglich, wenn die ganze Dialektik des Lebens nach seinem Wechselverhältnis von Gesichertheit und Ungesichertheit im Auge behalten wird.
Die Daseinssituation des Menschen unterscheidet sich nach Wust nicht nur gradhaft von der Daseinssituation des Tieres, sondern wesenhaft. Es liegt hier ein „seinsmäßiger ,hiatus‘“ (UW 40) vor. Was meint er damit? „Das Tier ist von Natur ein ,animal securum‘, ein Wesen der Seinsbehütetheit. Demgegenüber ist der Mensch ebenso naturhaft das ,animal insecurum‘ schlechthin, das Wesen, dem die Ungesichertheit von Hause aus in seine ganze Struktur mithineingegeben ist.“ (Ebd.) Diese Insecuritas humana kann man von zwei Seiten aus betrachten, sowohl von der objektiven als auch von der subjektiven Seite her. „Objektiv betrachtet, ist der Mensch ein Wesen der Ungesichertheit. Dem entspricht auf der subjektiven Seite seine Ungewißheit in den entscheidendsten Fragen seines Daseins.“ (Ebd.) Aber diese Ungewissheit gibt dem Menschen auch wiederum den nötigen Spielraum für seinen Selbsteinsatz, für das Wagnis, also für jene Form der Freiheit, die nur ihm eigen ist.
Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch als „Sinnenwesen und Geistwesen“ „gewissermaßen in eine paradoxe Situation versetzt“ (UW 45): Er ist nämlich von seinem Wesen her „heimatlos“ – wie Wust sagt. Und in dieser Heimatlosigkeit ist der Wesenskern seiner Insecuritas zu suchen. Wust beschreibt diese Heimatlosigkeit so:
„Es ist dem Menschen zugemutet, dauernd in einem dialektischen Schwebezustand zu existieren, indem sein Wesen stets nach zwei Seiten hin ponderiert, ohne daß jemals ein Gleichgewicht hergestellt werden kann. Zwischen (...) Bios und Logos ist der Mensch so eingespannt, daß er sowohl beiden Bereichen zugehört als auch in keinem der beiden Bereiche wahrhaft ansässig ist. Ein ewiger, unschlichtbarer Widerstreit in ihm zwingt ihn dazu, seine Existenz von Augenblick zu Augenblick im Kampfe mit sich selbst zu erringen, und niemals kann er hoffen, diesen Kampf endgültig durchgekämpft zu haben. Hier erst kommt der tiefere Sinn einer Indefinitheit zum Vorschein, die selig-unselige Unendlichkeitsbestimmtheit seines Wesens.“ (UW 45 f.)
Diese Heimatlosigkeit sieht Wust durch eine tragische Dialektik gekennzeichnet, die daraus resultiert, dass der Zustand einer absolut unanfechtbaren Selbstsicherheit prinzipiell nicht zu erreichen ist. So bleibt selbst der ausgeglichenste Mensch von dieser Situation der Insecuritas dauernd überschattet. Diese grundsätzliche Dialektik der menschlichen Daseinssituation rührt letztlich daher, dass es dem Menschen eben nicht möglich ist, sich von der „metaphysischen Spannung seiner Natur“ abzulösen, die darin besteht, dass er weder reines Tier noch reiner Geist ist. Uns Menschen ist eben „die schöne, sinnliche Naturunmittelbarkeit des Tieres“ ebenso versagt wie das Extrem eines reinen Spiritualismus. Lehnt sich hier der Logos gegen den Bios auf, so dort der Bios gegen den Logos (UW 47).
Dieser objektiven Seite der Insecuritas humana entspricht nun „die subjektive Seite der menschlichen Ungewißheit“ (UW 48). Natürlich hat der Mensch dem Tier die Wissensmöglichkeit und auch das wirkliche Wissen voraus. Und doch zeigt sich auch hier wieder der schon bekannte dialektische Zwischenzustand seiner ganzen Natur. Und diesen hat kein anderer als Platon in seinem meisterhaften Dialog „Symposion“ dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er hier die Situation des Menschen mythologisch mit Hilfe eines halbgöttlichen Wesens, eines Dämons, nämlich „Eros“, darzustellen sucht. Eros ist ja hiernach das selig-unselige Kind aus der Ehe zwischen einer sterblichen Mutter und einem von den Göttern stammenden unsterblichen Vater. Penia, die Armut, empfängt von Poros, dem Reichtum, und sie gebiert Eros, dieses irdisch-überirdische Zwischenwesen.20 Und es ist nach Platon dieser Eros, der das Wesen des Menschen entscheidend bestimmt: Trotz seines Wissens lebt der Mensch in der Ungewissheit. Wust bezeichnet ihn darum auch als „metaphysisches Sucherwesen“: „Der Mensch ist der ewige Glückssucher, der unermüdliche Wahrheitssucher, der nie zur Ruhe gelangende Gottsucher.“ (UW 49) Und er ist das alles, weil er bei aller Möglichkeit zum Wissen letztlich doch in der Ungewissheit bleibt. Bei aller prinzipiellen Evidenzmöglichkeit bleibt doch auch immer die Ungewissheit der Evidenz. Augustinus und Cusanus haben hierfür ja bekanntlich den Ausdruck der docta ignorantia geprägt.
Der Spielraum dieser Insecuritas humana ist nach Wust so weit und umfassend wie das menschliche Dasein selbst. Sowohl das Einzelleben als auch das Gemeinschaftsleben unterliegen diesem Gesetz der Insecuritas. So wechseln sich in der Geschichte Epochen der Sekurität mit solchen der Irrationalität und Unberechenbarkeit ab. Und das Einzelleben des Menschen steht nicht minder unter dem Gesetz dieser Dialektik. In deutlicher Anlehnung an Schelers Unterscheidung zwischen Herrschaftswissen, Bildungswissen und Erlösungswissen21 – wobei das erste das Wissen von Technik und Wissenschaften meint, das zweite das philosophische und das dritte das religiöse – sieht Wust beim Menschen näherhin drei Bereiche der Insecuritas: den Bereich der vitalen Existenz, den der geistigen Existenz und den der übernatürlichen Existenz. In keinem dieser Bereiche, das ist die Grundeinsicht Wusts, kommt der Mensch zu einer letzten Gesichertheit bzw. Gewissheit. Und doch führt ihn das übernatürliche Wagnis der Glaubensweisheit „in die übernatürliche Situation einer ,Securitas insecuritatis‘“ (UW 185): Der Mensch fühlt sich hier letztlich geborgen in der Ungeborgenheit. Das kommt ja auch schon in der eingangs beleuchteten Parabel vom verlorenen Sohn zum Ausdruck. „Spontan stimmt man der Lebenshaltung des älteren Bruders bei, aber die Symbolik weist hin auf die Dialektik zwischen der Gesichertheit und der Ungesichertheit. Denn der Umweg des jüngeren Bruders über die Ungesichertheit der Fremde läßt ihn schließlich tiefer in der Geborgenheit des Vaterhauses ausruhen, als der ältere in seiner alltäglichen und oberflächlichen Lebensgesichertheit.“22
Insecuritas humana und homo religiosus
Auf die Ungesichertheit des „homo religiosus“ kommt Wust in den Kapiteln neun bis dreizehn von „Ungewißheit und Wagnis“ näher zu sprechen. In diesen Kapiteln scheint er seinen eigenen religiösen Weg verarbeitet zu haben, der über „Trotz und Hingabe“ schließlich zu jener Gelassenheit im Geiste der Liebe führt, mit der allein die Dunkelheiten zu überwinden sind.
Letzten Endes muss die Frage nach dem Wesen der Insecuritas humana nach Wust als ein religiöses Problem gesehen werden, und er erklärt dies so:
„In gewissem Sinne ist der Mensch in allen seinen Lebenslagen, mögen sie auch zunächst noch so alltäglich erscheinen, als ein Wesen zu erkennen, das im tiefsten Grunde seiner Natur immer von der einen Frage bestimmt und bedrängt wird, die seine existentielle Erdennot betrifft, nämlich von der Frage nach seinem religiösen Heil oder Unheil. In all seinem Streben nach Gesichertheit ist schließlich diese seine religiöse Kontingenznot wiederzuerkennen, sei es nun, daß er in diesem Streben sich selbst ausweichen will durch die Flucht in niedere Wertbereiche, die ihm für Augenblicke das Wesentliche seiner Existenz verhüllen, sei es, daß er mit offenem Auge diese metaphysische Not vor sich sieht und sich mit ihr auseinandersetzt. Selbst sein Streben nach der vitalen Existenzsicherung verrät noch überall etwas von dem letzten Ewigkeitsdurst seiner Seele. Und erst recht ist sein grenzenloses Wissensstreben, seine nie stillstehende Intellektunruhe, ein deutliches Zeichen dafür, daß der tiefste Grund seiner Seele über das Endliche hinausdrängt, um in der wahrhaften Unendlichkeit Ruhe und Frieden zu finden. Der ,homo faber‘ mit seiner ins Grenzenlose zielenden Zivilisationsunruhe und der ,homo philosophus‘ mit seiner leidenschaftlichen, in immer tiefere Regionen hinabdrängenden Frageunruhe, sie deuten beide über sich hinaus auf den ,homo religiosus‘ mit seinem unstillbaren Heimweh nach einer letzten Region überzeitlicher Vollendung.“ (UW 119)
Wust verengt den Begriff des „homo religiosus“ hier nicht auf den „positiv-christlichen Menschen“, sondern er möchte darunter im weitesten Sinne „den Menschen als Menschen überhaupt“ verstehen, denn er deutet die „religiositas“ als ein konsekutives Merkmal der menschlichen „rationalitas“ (UW 120), was ganz auf der Linie eines Max Scheler oder Paul Tillich liegt.23 Der Mensch „mag noch so irreligiös leben, sei es nun im Sinne der Indifferenz gegenüber seiner religiösen Anlage, sei es im Sinne positiver Ablehnung dessen, was diese Anlage von ihm fordert, seine Irreligiosität sogar gehört dann noch in den Bereich des Religiösen hinein.“ (Ebd.) Das bedeutet, dass es nach Wust keinen Ort gibt, wohin man vor Gott fliehen könnte.
Dass die Insecuritas-Situation in Bezug auf den religiösen Menschen geradezu kulminiert, versucht Wust mit einem Hinweis auf den berühmten „Don Quichote“ des spanischen Dichters Cervantes zu illustrieren (UW 122 ff.). Don Quichote und sein Stallknecht Sancho Pansa stellen – so Wusts Deutung – nur eine einzige Gestalt dar, sie symbolisieren den zwiespältigen Menschen, der zwei Stimmen in seiner Brust hat, nämlich die Stimme der „Welt“ und die Stimme der „Überwelt“. Letztlich geht es hier also um die Dialektik von Glaube und Unglaube, eine Ambiguität, die der Mensch nie wirklich los wird (vgl. UW 124). Diese Ambiguität ist auch nicht aufzulösen durch eine „Flucht des religiösen Menschen vor der ,Welt‘“, denn eine solche bedeutete nach Wust „eine feige Flucht aus der ,Insecuritas mundi‘ in eine ,sacra securitas‘ des Glaubens“, die den Sinn des Glaubenswagnisses geradezu entstellt (UW 125). Denn „der religiöse Mensch, der der ,Welt‘ ins Heiligtum des Übernatürlichen entfliehen wollte“, ist damit der Welt erst recht ausgeliefert (UW 126). Im Bereich des Religiösen gilt nämlich nicht „die natürliche Sancho-Pansa-Vernunft“, sondern „es gilt eben hier jene paradoxe Zuteilungsordnung, wie sie uns in der Parabel von den Arbeitern im Weinberge symbolisch vor Augen gestellt wird: ,Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.‘“ (UW 125)
Psychologisch äußerst subtil und bilderreich beschreibt Wust hier die Erfahrungen, die der religiöse Mensch macht: „Gerade dann, wenn die Flitterwochen des jungen Eheglücks mit dem Übernatürlichen vorüber sind und die tiefe Trostlosigkeit der enttäuschten Seele sich einstellt, öffnet sich auch sehr leicht für sie der dunkle Abgrund der Menschennatur. Und dann kommen plötzlich alle jene dämonischen Plagegeister aus diesem Abgrund wieder hervor, die der Mensch bereits für immer bezwungen zu haben glaubte.“ (UW 126) Nur wenn der religiöse Mensch diese Dunkelheit mit Gelassenheit hinnimmt, einer Gelassenheit, „die aus dem Geiste der Liebe stammt“, nur dann wandelt sich die Situation der höchsten Gefährdetheit „in eine Situation der größten Fruchtbarkeit“ (UW 127).
Glaube und Zweifel
Diese prinzipielle Ungesichertheit erlebt der religiöse Mensch nach Wust näherhin in Bezug auf drei Hauptfragen, nämlich in Bezug auf die Fragen der religiösen Gottesgewissheit, der Offenbarungsgewissheit und der persönlichen Heilsgewissheit. So erfährt der Mensch nicht nur die Gottesnähe, sondern immer auch die Gottesferne: „Gott ist im religiösen Gottesbewußtsein für die Seele zugleich da und nicht da. Dadurch entsteht für sie ein gewisser Schwebezustand zwischen Gewißheit und Ungewißheit.“ (UW 132) Damit bekommt der Unglaube für Wust eine „eminent positive Bedeutung“, denn dieser gehört immer schon zum Glauben dazu und verhindert so, „daß der Glaube sich einer bequemen Sekurität überlassen kann“ (ebd.). „Der Unglaube ist das nie aufhörende Stimulans des Glaubens, den er stets zu neuer Vergeistigung und zu lebendiger Verjüngung antreibt. (...) In dem Maße, wie der Gegendruck des Unglaubens nachläßt, pflegt sehr oft auch die jugendliche Beschwingtheit des Glaubens zu erlahmen.“ (Ebd.)
Auf der anderen Seite macht diese Einsicht aber auch deutlich, dass der Ungläubige „niemals zu einer bequemen ,securitas dubii‘ gelangt. Bei aller angemaßten Sicherheit in seinem positiven Gotteszweifel wird er das Unbehagen einer gewissen Unsicherheit, eines wenn auch noch so verborgenen Zweifels am Zweifel, nicht los.“ (UW 133) Von hier aus wird auch der Fanatismus des Glaubens wie des Unglaubens verständlich, nämlich als der nicht durchschaute Kampf gegen den Gegner in der eigenen Brust: „Während der Fanatismus des Unglaubens oft aus einem ihm selbst unbewußten Glauben stammt, der ihn beständig zum Kampf reizt, stammt der Fanatismus des Glaubens nicht selten aus einem ihm selbst verborgen bleibenden Unglauben, der die scheinbar oder manchmal auch wirklich überlegene Logik der ,Welt‘ als eine tatsächliche Gefahr für seine Sache betrachtet, ohne sich selbst freilich dieses Minoritätsbewußtsein offen einzugestehen.“ (UW 134) Demgegenüber gründet der Glaube, der durch den Zweifel hindurchgeht, in der Liebe und in der Demut, die an die unendliche Langmut und großzügige Geduld Gottes – selbst den Irrenden gegenüber – erinnern.
Die Brisanz dieser impliziten innerreligiösen Kritik, die sich in solchen Sätzen ausdrückt, scheint der spätere Kardinal von Galen erahnt zu haben, wenn er Wust nach Erscheinen von „Ungewißheit und Wagnis“ entgegengehalten haben soll, „der Glaube sei für ihn weder Ungewißheit noch Wagnis und solche Lektüre eigne sich auch nicht für seine Theologen“ – eine Äußerung, die Wust „tief verstört und verletzt“ haben muss (GW VIII, 82). Dass der Zweifel ein integraler Bestandteil des Glaubens ist, verbindet Wust mit dem großen Religionsphilosophen und evangelischen Theologen Paul Tillich, dessen Schriften er zum Teil gekannt haben wird.24
Das, was Wust über die Dialektik der religiösen Gottesgewissheit ausführt, bestätigt sich auch in Bezug auf die Offenbarungsgewissheit. Denn auch gegenüber dem Offenbarungswort haben „der Glaube wie der Unglaube in gleicher Weise Raum“ (UW 141). Im Rahmen dieser Überlegungen spart Wust keineswegs mit Kritik an der Institution Kirche, die immer wieder „durch das tiefe Dunkel des Menschlichen, allzu Menschlichen“ überschattet wurde und wird (UW 145). Zusammenfassend resümiert er:
„Wie aber so die Gesamtoffenbarung, zugleich mit Christus und der Kirche, immer für die ,Welt‘ in diesem sonderbaren Zwielicht dasteht, in dem sich die Scheidung der Geister vollzieht, die Scheidung zwischen den beiden Reichen des Glaubens und des Unglaubens, so verbleibt auch die einzelne gläubige Seele im sakralen Raum der Offenbarungsgewißheit immer ,in statu insecuritatis‘. Der lebendige Glaube an das Ewige Wort, an Christus und die Kirche mag noch so felsenfest sein, er wird trotzdem niemals die Seele auf ihrem inneren Wege zu Gott von den Anfechtungsmöglichkeiten befreien, die nun einmal zum Schicksal der irdischen Pilgerschaft gehören. Die irdische Hülle kann für niemand hinweggenommen werden.“ (UW 147)






