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Angestrebt war kein Lexikon oder Handbuch, das einen systematischen Überblick verspricht oder gar Deutungshoheit beansprucht. Die ungerade Zahl der Beiträge soll es zum Ausdruck bringen. (Dass dabei gerade diejenige der alttestamentlichen Bücher herausgekommen ist, mag man als unbeabsichtigt zeichenhafte Pointe nehmen.) Nicht auf Vollständigkeit kommt es an, auch nicht auf moralische „Größe“ der Dargestellten. Zuweilen ist die Umstrittenheit bedeutsamer.
Natürlich fehlen wichtige Figuren. Um nur die Verstorbenen ins Auge zu fassen: etwa Alfred Döblin (aus Gründen seiner lebensgeschichtlich späten Konversion sollte er nicht „vereinnahmt“ werden), Leo Weismantel, Gertrud Luckner, Ernst Michel, Dietrich von Hildebrand oder Friedrich Dessauer. Österreich und die Schweiz sind zusammen nur mit zwei symbolischen Gästen vertreten, die in Deutschland besondere Aufmerksamkeit erfahren (haben). Wichtiger als abwesende Einzelnamen jedoch ist die strukturell offene Flanke katholischer Intellektualität, die durch den Mangel an repräsentativer Naturwissenschaftlichkeit markiert wird. Ein bloßer Zufall dürfte diesbezüglich nicht am Werke sein.
Mit Bedacht wurde auf ein einheitliches Schema verzichtet, nach dem die einzelnen Beiträge zu gestalten wären. Wie diese Persönlichkeiten auf ganz unterschiedlichen Ebenen wirksam waren, sollten arbiträre Annäherungsweisen nebeneinander stehen – nicht zuletzt in der Absicht einer erwünschten Potenzierung beim Spiegeln katholischer Intellektualität (der ja auch die Mitarbeiter zuzuordnen sind). Ihnen wurde deswegen anheim gestellt, ob sie sich, und wenn ja: worauf exemplarisch konzentrieren wollten. So schreibt denn einer den von ihm Porträtierten in die Gegenwart hinein fort, während ein anderer im historischen Kontext bleibt; einer bevorzugt die Form des Essays, während ein anderer tief in die Archive hinab steigt; einer widmet sich ganz einem bestimmten Werk oder Motiv, der andere hingegen versucht möglichst breite Grundlagen einzubeziehen. Auch ist sine ira et studio bekanntlich nicht immer die am besten Erkenntnis stiftende Grundhaltung. Viele Mitarbeiter sympathisieren mit denjenigen, über die sie schreiben, andere üben Kritik. Ob ihnen jeweils recht zu geben wäre, auch das kann anhand der Literaturangaben im Anhang nachvollzogen werden. Dass durchgehend ausgezeichnete, teils sogar die bestmöglichen Kenner gewonnen werden konnten – was auch erklärt, dass in einem Falle eine Autorin selbst zu den vorgestellten Persönlichkeiten zählt –, dass sie sich zudem vielfach mit der Zielsetzung des Buches identifizierten, ist für den Herausgeber Anlass zu Dankbarkeit und Stolz.
Nichts soll in dem Band versiegelt werden – auch nicht in reinen Fachdiskursen. Nach allgemeiner Zustimmung wird nicht geschielt. Wenn die Darstellung vereinzelt jedoch ein wenig anregend wirken könnte, wenn sie hier und da zu Entdeckungen verhülfe, wenn sie gar weitere Debatten über die mögliche Gestalt einer katholischen Kultur des Nachdenkens und Argumentierens anstoßen könnte, hätte sie ihren Zweck vollauf erfüllt.
Die Konzentration auf Laien mit ihren größeren Spielräumen des Denkens erfolgte bewusst. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung, der Intellektualität unter den besonderen Bedingungen des theologischen oder kirchlichen Amts betrachtet. Gemeinsam sollen beide Bücher eine Ahnung der Beschaffenheit katholischen Geistes im 20. Jahrhundert vermitteln.
Karl Muth (1867 – 1944)
Karl Muth und das „Hochland“
Kulturelle und politische Impulse für einen Katholizismus „auf der Höhe der Zeit“
Winfried Becker
Karl Muth wurde am 31. Januar 1867 in Worms als Sohn des Kirchen- und Kunstmalers und späteren Gewerbeschuldirektors Ludwig Muth geboren. Der Rheinhesse gewann seinen Lebensmittelpunkt in München, gab dort von 1903 bis 1941 im Verlag Kösel „Hochland“ heraus, die jahrzehntelang führende katholische „Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst“. Auch die Lebensläufe des in Darmstadt geborenen Philosophen und Politikers Georg von Hertling und des aus Koblenz stammenden Gelehrten und Publizisten Joseph Görres verzeichneten die Wanderung vom Geburtsort im ehemals stiftischen Deutschland, dessen städtische Zentren sich nach der großen Säkularisation nicht weiter entfaltet hatten, in die Kulturhauptstadt Süddeutschlands. Bereits im Elternhaus las Muth die großen Historiker seiner Zeit, neben Görres Johannes Janssen, Karl Adolph Menzel und Georg Gottfried Gervinus. Weit ausgreifende, doch wenig konzentrierte Studien der Geschichte, der Literatur und der Staatswissenschaften führten ihn nach Berlin, Paris und Rom (1892/93). Vorher schon war dem Zögling der Missionsschulen in Steyl und Algier (1884/85) die entscheidende Begegnung mit der Welt des französischen Geistes vermittelt worden: durch keinen Geringeren als den Erzbischof von Algier, Kardinal Charles de Lavigerie, den geistlichen Förderer des Ralliement, des Anschlusses der französischen Katholiken an die Dritte Republik.1
Muths publizistisches Schaffen begann bescheiden gemäß den Gegebenheiten der Zeit. Er lieferte Gelegenheitsarbeiten für das „Mainzer Journal“, das Berliner Zentrumsblatt „Germania“ und die Straßburger Tageszeitung „Der Elsässer“. 1895 wurde Muth Chefredakteur des monatlich in Einsiedeln/Schweiz erscheinenden illustrierten Familienblattes „Alte und Neue Welt“. Mit früh erwachtem Qualitätsbewusstsein verbannte er die Kitschromane aus deren Spalten und nahm dafür die Werke eines André Theuriet oder Henryk Sienkiewicz auf. Beide, der auf den Spuren Honoré de Balzacs wandelnde französische Romancier und der patriotische polnische Journalist und Schriftsteller, waren moderne Erzähler von Format, die allerdings einige Gemeinsamkeiten hatten. Sie versuchten sich an einer neuen Art von Roman, dem Heimat- oder Regionalroman und dem patriotisch ausgerichteten Geschichtsroman; sie entdeckten die Religion, das Milieu, das historische Timbre als konstitutive Faktoren für ihre Helden und die Gesellschaft. Sie richteten Muths Blick auf die „Heimatkunst“. Mit einem bedeutenden Vertreter dieser Gattung, Friedrich Lienhard, ging Muth ein Freundschaftsverhältnis ein. Muth und Lienhard begriffen das beim Publikum rasch Beliebtheit gewinnende Genre aber nicht wie Adolf Bartels in einem Blut und Boden verherrlichenden Sinne, sondern sahen, wie es von Schriftstellern verschiedener Völker und Sprachnationen aufgegriffen wurde, um einer je eigenen Gefühls- und Glaubenswelt, Tradition, Herkunft und Prägung künstlerisch Gestalt zu verleihen. Die herkömmlichen Tendenzen des Konservativismus und Realismus, die sich hier zeigten, gewannen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Funktion; sie wurden nun als Gegenkräfte zur damals vordringenden impressionistischen Auflösung oder naturalistischen Verzeichnung menschlicher Charaktere verstanden.
Der „katholische Literaturstreit“
Mit seinen unter dem Pseudonym „Veremundus“ veröffentlichten literaturtheoretischen Schriften von 1893 und 1898 trat Muth recht wirkungsvoll und nachhaltig an eine breitere Öffentlichkeit. Er entfachte vor dem Hintergrund der Debatte über die angebliche Inferiorität der deutschen Katholiken im Kaiserreich den „katholischen Literaturstreit“. Besonders seine zweite Schrift erregte die Gemüter. Sie trug den Titel: „Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage.“2 Muth entwarf ein ernüchterndes Bild der katholischen Präsenz im hoch entwickelten Geistesleben der Nation. Er erblickte keinen einzigen katholischen Dramatiker von Rang und sah den katholischen Literaturbetrieb weithin von der Vorherrschaft des Klerus abhängig. In den katholischen Familienblättern tummelte sich eine höchst mittelmäßige Romanliteratur, die ängstlich jeden Anschein sogenannter „Unsittlichkeit“ mied und dazu von einer engherzigen, säuerlich-moralisch gehandhabten, höheren Gesichtspunkten konsequent sich verschließenden Literaturkritik – die nach Muths Beobachtung den Namen kaum verdiente – überwacht wurde.
Muths Analyse war sachlich und schonungslos, zuweilen polemisch, verließ aber nicht den damals üblichen Rahmen konfessioneller Solidarität. Was seine Auffassung von den Inferioritätsvorwürfen unterschied, die von nicht-katholischer Seite erhoben wurden, war sein Glaube, dass die Lage durch die entschlossene Selbsthilfe katholischer Intellektueller und Schriftsteller gebessert werden könne. Am Anfang stand, wie der Titel verhieß, die „litterarische Gewissensfrage“. Die stellte Muth aber den Künstlern aller Konfessionen und Weltanschauungen gleichermaßen. Denn er sah die entscheidende Vorgabe für jeden Künstler in der entschlossenen Besinnung auf den allein maßgeblichen ästhetischen Rang eines Kunstwerkes. Muth hat diesen Standpunkt später vertieft, zur intensiven und breiten Lektüre der von der Allgemeinheit als hochrangig anerkannten Werke aufgerufen, um die Kritikfähigkeit und Selbstständigkeit des mitdenkenden Lesers zu schulen. Dann erst werde jeder für sich prüfen und erkennen können, was sich aus der breiten Lektüre für die eigene Lebensgestaltung annehmen und herausfiltern lasse. Der Leser, so gegen Manipulation gefeit, werde sich in der Regel nur auf eine sehr begrenzte Rezeption einlassen. Damit begegnete Muth den Befürchtungen von konservativer Seite, die unbeschränkte Lektüre selbst der anerkannten Klassiker könne die gläubigen Leser moralisch verderben. Er hielt allerdings an der Kategorie individueller moralischer Verantwortlichkeit in Literatur und Kunst fest, die gewonnene Urteilsfähigkeit schien ihm dafür sogar eine gute Gewähr zu bieten.3
Muth exemplifizierte seine Kunstauffassung an dem nicht ganz neuen, aber verbreitetsten Medium seiner Zeit, dem Roman. Diese Form „epischer Prosadichtung“ konnte auf den meisten Anklang beim Publikum rechnen. Zudem waren auf diesem Gebiet noch einige katholische Literaturschaffende anzutreffen, unter ihnen meist Autorinnen. Auch hier war bemerkenswert, wie er seine Kritik ins Allgemeingültige erweiterte. So verwarf er nicht nur den typisch katholischen Belehrungs- oder „Tendenzroman“, sondern sprach die künstlerische Berechtigung auch jenen höchst didaktisch verfahrenden Pseudoromanen ab, die primär zur „Erörterung wissenschaftlicher Theorien“ oder „zur Schilderung gesellschaftlicher Zustände“ die dichterische Form zwar wählen, aber mit dieser kunstfernen Zielsetzung und Praxis regelmäßig verfehlen würden.4 Ein echter Roman müsse zur wirklichen Beobachtung menschlichen Lebens vordringen, „innere Wahrheit“ und „jene plastische Kraft in der Menschenbildung“ spiegeln, die vom wahren Schriftsteller gefordert sei. Das wahre Kunstwerk solle „den Genießenden seelisch befriedigen, als Zeitbild oder dichterische Lebensschilderung durch Vorführung des Schönen, Menschlich-Bedeutungsvollen, Zweckmäßigen, Großen und Guten Lebenskunst oder praktische Lebensweisheit lehren ... Ein Roman, der belehren, erörtern, beweisen oder bessern will, hat auf rein künstlerische, ästhetische Würdigung keinen Anspruch“.5
Mit diesen abstrakten Feststellungen und Forderungen war aber noch nicht viel gewonnen. Wie waren sie in der gegebenen historischen Situation umzusetzen? Die Lage der Literatur in Deutschland war gekennzeichnet durch eine säkulare Entwicklung: die von der großen Säkularisation und ihren bildungssoziologischen Begleiterscheinungen zuerst hervorgerufene, durch die Weimarer Klassik und die politischen Entwicklungen der zweiten Jahrhunderthälfte beschleunigte Entstehung einer inzwischen beherrschend gewordenen protestantisch oder säkularistisch geprägten Nationalliteratur und Nationalkultur. Hier und nicht anderswo vollzog sich in Deutschland die „allgemeine Kunstbewegung der Zeit“, von der Muth sprach. Darum richtete er an seine Glaubensgenossen den ernsten Appell, Fühlung zu nehmen und Berührung zu suchen mit „den allgemeinen künstlerischen Bestrebungen der Nation“.6 Sein perspektivischer Ansatz unterschied sich insofern deutlich von dem der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“ (1838 – 1923). Aus einem eigen-generierten katholischen Kulturverständnis des bayerisch-österreichischen Raums entwickelte diese Gründung des Görres-Kreises einen bemerkenswert breiten internationalen Horizont und lieferte in fast jeder Ausgabe mit großer Beständigkeit anspruchsvolle literarische und künstlerische Beiträge.
Muth listete „die wahren Ursachen unserer literarischen Rückständigkeit“ anhand eines Neun-Punkte-Katalogs auf. Die wichtigsten Mängel waren das fehlende Interesse am „Fortschritt der modernen Dichtung“, die Gleichgültigkeit gegenüber ihrer hoch entwickelten Sprachtechnik und „Charakterisierungskunst“, sodann das Abseitsstehen aus konfessionellem Vorbehalt, aus „Prüderie“ und „Engherzigkeit“. Damit gehe eine durchaus unterentwickelte und teils verfehlte Literaturkritik einher, wie sie in den wenigen katholischen Literaturzeitschriften und -besprechungen zu Tage trete („Stimmen aus Maria Laach“). Man beschränke sich hier auf das Hochhalten moralischer Maßstäbe und trete den Rückzug auf das Proprium an, statt den künstlerischen Wert der besprochenen Werke zum Maßstab zu machen. Schließlich forderte Muth die Gründung einer neuen katholischen Literaturzeitschrift, die sich auf der Höhe der Zeit mit den Problemen und Tendenzen der neuesten Literatur auseinandersetzen und selbst produktiv zum Literaturschaffen beitragen würde.
Muth geriet mit seiner Kritik in eine lang anhaltende Kontroverse mit dem aus Böhmen stammenden österreichischen Literaturkenner und Schriftsteller Richard Kralik, Ritter von Meyrswalden, Herausgeber einer eigenen Zeitschrift (seit 1906). Sie trug den Titel „Gral“ und erinnerte damit an den sakralen, geheimnisvoll-sagenhaften, Himmel und Erde verbindenden Glücksspender des Mittelalters. Kralik, im katholischen Südosten des großdeutschen Kulturraumes beheimatet, bestritt die Inferioritätsthese, was Muth seinerseits zurückwies, und sah als Heilmittel an, auf literarischem Gebiet so „einseitig katholisch zu sein, wie unsere Gegner einseitig antikatholisch sind“.7 Darüber hinaus spiegelte der Streit die Unterschiedlichkeit der Situation in Wien und München, die sich aus den Kriegen und politischen Auseinandersetzungen um die Einigung Deutschlands 1866 bis 1871 ergeben hatte. Kralik glaubte noch auf einen Fundus tradierter katholisch beeinflusster Literalität zurückgreifen zu können, dagegen gewahrte Muth im kleindeutschen Reich kein nennenswertes katholisches Kulturschaffen mehr. Während Kralik die Wiederanknüpfung an einer universellen katholischen Kultur, wie sie für ihn allerdings eher in der Romantik als im Barock verkörpert gewesen war, eine „restitutio“, anstrebte, setzte sich Muth das bescheidenere Ziel einer „institutio“, einer Einfügung der eigenen Ansätze und Positionen in den flutenden Strom der wohl entwickelten Nationalkultur kleindeutscher Prägung.8
In Rückkoppelung mit der fehlenden katholischen Präsenz an den Universitäten forderte er, dort überhaupt erst die Vorbedingungen dafür zu schaffen, dass im fortschreitenden „Gährungsprozeß“ des Geisteslebens eine Urteilsbildung und Stellungnahme aus katholischer Sicht außerhalb der eigenen eng gesteckten Kreise stattfinden könnten. Wo und wie sollten die Studierenden Orientierung finden, wenn sie, wie es an den Bildungsstätten der Nation geschah, mit der Diesseitsphilosophie eines Friedrich Nietzsche oder den naturalistischen Anklagen Henrik Ibsens konfrontiert wurden?9 Muth verwies auf das Vorbild der im politischen und sozialen Bereich für den Katholizismus bereits errungenen Autonomie und Anerkennung: In Parlament und Öffentlichkeit hatten nach dem Kulturkampf die mit „thatkräftigem Gegenwartssinn“ ausgestatteten Anführer der Deutschen Zentrumspartei große Erfolge verzeichnen können und sich einen festen Platz erobert.10 Sollte sich im Literatur- und Kulturleben nicht durch „positive Mitarbeit“ ein Gleiches erreichen lassen? Eine psychologische Voraussetzung, sich an der Inferioritätsdebatte so spektakulär zu beteiligen und eigene Schuldzuweisungen vorzunehmen, lag auf katholischer Seite sicherlich auch in einem gestärkten Selbstbewusstsein, das ohne die Festigung des politischen und sozialen Katholizismus wohl kaum zustande gekommen wäre.
Muth ging im Grunde von einer pluralistischen Einstellung aus, die einen Wettbewerb auf der Basis ähnlicher oder gleicher Zielvorgaben voraussetzte. Er argumentierte letztlich nicht inhaltlich oder ideologisch, zeigte sich weder fasziniert von einer den rückhaltlosen Anschluss verlangenden, jederzeit überlegenen Nationalkultur noch veranlasst, direkt oder polemisch Respekt für herkömmliche katholisch-kirchliche Positionen einzufordern. Er bejahte und begründete vielmehr die gemeinsame Ausrichtung am Maßstab der ästhetischen Perfektion, an der künstlerischen Freiheit von vordergründigen Zwecken, Interessen oder didaktischen Lehrstunden und an der allgemeinen Verbindlichkeit einer idealen ästhetischen Gesinnung. Er bekannte sich zur Aufgeschlossenheit für den kulturellen und künstlerischen Fortschritt – wo dieser auch anzutreffen sei. Einen bloßen Standpunkt des l’art pour l’art hat er dennoch nicht vertreten. Seine Stellungnahme zielte letzten Endes – nach der politischen – auf die kulturelle Integration der Katholiken zuerst in das Kaiserreich, dann in die Weimarer Republik. Dahinter stand das optimistische Vertrauen, dass in Deutschland ein kultureller Gleichklang, ein gemeinsames kulturelles Wirken, die Erreichung der Kultureinheit über konfessionelle und weltanschauliche Schranken hinweg möglich sei.
Das Programm der Zeitschrift „Hochland“
Der theoretischen Klärung ließ Muth bald Taten folgen. Nach längerer Vorbereitung schritt er im Jahr 1903 zusammen mit dem Erben des Verlages Josef Kösel, Dr. Paul Huber, zur Gründung der anspruchsvollen Kultur- und Literaturzeitschrift „Hochland“. Der Name sollte Programm sein, gab knapp den auf der Titelseite präsentierten Leitgedanken der erstrebten neuen Kulturgemeinde wieder: „Hochland, hohen Geistes Land – Sinn dem Höchsten zugewandt“. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich die Monatsschrift zum zweiten führenden Periodikum der katholischen Bildungswelt. Es trat neben die 1838 gegründeten „Historisch-politischen Blätter“, die ebenfalls in München erschienen, indes mit ihrem führenden Redakteur, dem Landshuter Archivar, Parlamentarier und Historiker Joseph Edmund Jörg, tiefer im Bayerischen verankert waren. „Hochland“ wirkte mit seinen essayistischen Artikeln, seinen kurzen und bündigen Literaturbesprechungen, mit den Teildrucken ebenso niveauvoller wie kurzweiliger Novellen, Romanen oder Erzählungen, den eingestreuten Bildern und Illustrationen schwungvoller, lebendiger, offener, gegenwartsbezogener, auch laizistischer und mehr interdisziplinär als das andere, sehr historisch ausgerichtete, politisch ambitionierte, noch stark von geistlichen Federn zehrende Münchener Organ.11 Doch die „Historisch-politischen Blätter“ offerierten grundsolide gearbeitete, hochinformative und gedankenreiche Artikel. Auch sie blickten regelmäßig über die deutschen Grenzen, destillierten allerdings stets unerschrocken, kämpferisch und trennscharf die Gegenpositionen zum Säkularismus oder Antiklerikalismus heraus. Sie fielen mit ihrer anerkannten Existenz und ihrem hohen Standard gewiss nicht unter die Beschreibungen und Verdikte, mit denen Muth sonst seine These von der Inferiorität katholischen Literaturlebens untermauerte.
In den dreißig Jahren freien Wirkens, die ihm beschieden waren, deckte das „Hochland“ ein integrales Spektrum verschiedener Kunst- und Wissensgebiete ab. Der Herausgeber beschaffte sich Informationen und gewann Bekanntschaften gerne aus erster Hand, reiste darum häufig. Seine organisatorische Begabung und vorausschauende Planung ermöglichten es ihm, seine Zeitschrift stets auf der Höhe der Zeit und der aktuellen Diskussion zu halten, allerdings ohne sie zum Diener des Zeitgeistes zu machen. Das Privatunternehmen mit all seinen Chancen und Risiken durch meist unruhige Zeiten zu erhalten und zu lenken war eine große Leistung, die im 21. Jahrhundert ihresgleichen suchen würde. Muth gewann bald Mitarbeiter und Abonnenten in ganz Deutschland und im Ausland. Im Vergleich zu den „Historisch-politischen Blättern“ waren die Artikel kürzer, mehr in Essayform gehalten und häufiger dem literarischen Leben gewidmet.
„Hochland“ öffnete seine Spalten Schriftstellern verschiedener Couleur und Prädisposition wie den Expressionisten Reinhard Johannes Sorge und Hermann Bahr, dem im Schwäbischen verwurzelten Priester-Dichter Peter Dörfler, dem Kulturpädagogen und Romancier Leo Weismantel, der Konfessionskonflikte behandelnden österreichischen Erzählerin Enrica Handel-Mazzetti, dem Dichter Werner Bergengruen, dessen Werke um den symbolischen Widerhall der ewigen Ordnung kreisten, und vielen anderen. Philosophische und sogar aktuell-politische, geistes- und kulturgeschichtliche Themen behandelten der Münchener Philosoph Georg von Hertling und seine Schüler Clemens Baeumker und Max Ettlinger, sodann Theodor Haecker, Waldemar Gurian, Alois Dempf und Romano Guardini, nicht zu vergessen der Theologe und Zentrumsprälat Joseph Mausbach, mit dem Muth eine private Korrespondenz führte. Mausbach war maßgeblich an der Erarbeitung der Schul- und Kirchenartikel der Weimarer Verfassung beteiligt.
„Hochland“ zeigte sich besonders aufgeschlossen für die christliche Kultur und Literatur der Alten und der Neuen Welt. Die Erzählungen und Gedichte, die literarische Kritik und künstlerische Umschau tasteten weite Horizonte ab. Bekannte russische Autoren fanden ebenso Berücksichtigung wie die Vertreter einer historischen und zeitgenössischen Frankreichkunde, die Bonner Universitätslehrer Ernst Robert Curtius und Hermann Platz. Die (vernachlässigte) Geschichte der katholischen Kirche in Nordamerika und die Mentalität an der „Frontier“ der Prärie schilderte farbig das biografisch unterfütterte, missionsgeschichtliche Gegenwartsepos der bedeutenden amerikanischen Erzählerin Willa Cather: „Der Tod kommt zum Erzbischof“. „Hochland“ legte dem deutschen Publikum Auszüge in Übersetzungen vor. Die englische Ausgabe des ebenso spannenden wie tiefschürfenden Werkes, das einen Glaubensweg von Mexiko nach Kalifornien nachzeichnete, erschien 1927, eine deutsche Gesamtübersetzung erst 1940.
Um die Mitte der 1920er-Jahre präsentierte das „Hochland“ seinen weit gefächerten Stoff unter neun, allerdings nicht immer zusammenhängend anmutenden Rubriken. Es behandelte: Romane, Novellen und Gedichte; Religion, Geschichte, Philosophie, Bildungs- und Erziehungswesen; Literatur, Theater, Kunst und Musik; Biographisches; Naturwissenschaft, Medizin, Länder- und Völkerkunde; Volkswirtschaft, Rechtspflege; Kunstbeilagen; Besprechungen von Büchern und Theateraufführungen. Der geniale Anreger demonstrierte, dass das Beziehen eines katholischen – man könnte auch sagen weltanschaulichen – Standpunkts den Zugang zu relevanten Wissensgebieten und Literaturgattungen eher öffnete als sperrte.
Kontinuität und Wandlung: In der Zeit der Weimarer Republik
Den Einschnitt der Niederlage und der Revolution von 1918 verkraftete das „Hochland“ besser als etwa die „Historisch-politischen Blätter“, die – als Reaktion auf die Demokratisierung – einen national-konservativen Einschlag bekamen und 1923 eingestellt werden mussten. Das „Hochland“ wahrte seine Identität, begleitete die sich überstürzenden Ereignisse mit tief ansetzenden Reflexionen. Es erklärte, dass ein dauerhafter europäischer Friede nur auf der Grundlage umfassender Völkerverständigung wiederzugewinnen sei. Im Ganzen hat die freiheitliche Entwicklung der Weimarer Republik dieses Sprachrohr der katholischen Publizistik eher begünstigt als gehemmt. Inmitten der Säkularisierungstrends war die Zeitschrift bemüht, die Zeichen religiöser Neubesinnung wahrzunehmen, wo sie sich auch zeigten. Sie praktizierte außerdem wie gewohnt Verständigungsbereitschaft über die Grenzen der Nationen, Weltanschauungen und Konfessionen hinweg. Sie registrierte erwartungsvoll, dass, während bisher irreligiöse Kreise sich plötzlich zu religionsphilosophischen und metaphysischen Betrachtungen hingezogen fühlten, Vertreter der christlichen Philosophie verstärkt über eine natürliche Theologie und deren psychologische Grundlagen nachdachten.
Grenzüberschreitendes Lob aus ehemals verfeindeten Lagern wurde der Zeitschrift anlässlich des 60. Geburtstages ihres inzwischen in der geistigen und literarischen Welt etablierten Gründers und Herausgebers zuteil, wenngleich natürlich die katholischen Pressestimmen überwogen. Neben vielen anderen gratulierten der „Osservatore Romano“ (Rom), die „Germania“ (Berlin), die „Kölnische Volkszeitung“, die „Augsburger Postzeitung“, die „Rhein-Mainische Volkszeitung“ (Frankfurt am Main), die „Bayerische Staatszeitung“ (München), die „Deutsche Rundschau“ (Berlin), die Salzburger „Katholische Kirchenzeitung“, der „Gral“, aber auch liberale und nationale Blätter wie die „Frankfurter Zeitung“ und die „Münchner Neuesten Nachrichten“. Muth hatte mit seiner freiheitlichen Konzeption viel Anklang, Zustimmung, Beifall und Bewunderung in der öffentlichen Meinung gefunden. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ (Berlin), immerhin die Nachfolgerin von Bismarcks Hauspostille, der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, schrieb: „Karl Muth hat eigentlich die neue katholische Literatur geschaffen.“ Das Blatt gab sogar die Anregung (mit der es nicht allein stand), „der Protestantismus sollte diesen 60. Geburtstag benutzen, um sämtliche Bände des Hochlands genau zu studieren und etwas Gleichwertiges zu schaffen“.12 Muths Konzeption, die innere Sammlung voranzutreiben und zugleich durch die objektive Würdigung hochstehender Werke Anerkennung nach außen zu gewinnen, war von Erfolg gekrönt. Das Klima hatte sich gewandelt. Die Inferioritätsdebatte konnte als beendet gelten.






