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Dabei hatte Muth sich keineswegs der angeblichen Überlegenheit einer zum Säkularismus tendierenden nationalen Kultur gebeugt. Den säkularen Trends des mächtig ins Kulturleben hineinwirkenden Liberalismus und Säkularismus widersprach es durchaus, wenn er das Paradigma der inneren und eigentlichen Verwandtschaft von Dichtung und Religion aufstellte und sich dabei auf anerkannte Poeten wie Johann Wolfgang Goethe und Joseph von Eichendorff berief. Namentlich Eichendorff hatte die irdische Natur und Sinnlichkeit, wie sie allein von der Poesie erfasst werden konnten, als Abbilder und Chiffren einer höheren, transzendenten Welt der Religion angesehen.13 Die innere Beziehung von Poesie und Religion erschloss sich Muth zudem aus Überlegungen, die um zwei Schlüsselbegriffe kreisten: um die Freiheit und das Ideal. Er rezipierte die Idee des Philosophen und Münchener Universitätspredigers Martin Deutinger († 1864), dass die Ungezwungenheit und Freiheit künstlerischen Schaffens ihr Urbild im freien Walten der alles bewegenden Liebe Gottes fänden.14 Gemäß dieser Freiheitsvorstellung gelangte Muth auch zur Würdigung des weiblichen Elements in der Dichtkunst, träten in diesem doch spezifische Qualitäten hervor, eine dem einseitig ausgerichteten männlichen Intellekt überlegene Einfühlsamkeit, Ausgeglichenheit und Vielseitigkeit.15
Sodann lagen der Religion wie der Poesie „ideale Prinzipien“ zu Grunde; beide Welten teilten die Ausrichtung auf ein objektiv Vorgegebenes, in der Religion fassbar als die „objektive Welt des Glaubens“, in der Poesie als die objekthaft antreffbare Schönheit und Mannigfaltigkeit der Natur, der Welt und des Lebens. Die Orientierung am „Objektiven“, das letztlich auf die Gottnatur zurückverwies, war damals Allgemeinbesitz des katholischen Denkens. Entsprechend zog Muth die in seinen Augen mehr an objektiven Kategorien ausgerichtete Klassik dem Subjektivismus der Romantik vor. Diese idealistische Sichtweise wurde nur von der Erwägung unterstrichen, dass auch die „subjektivistische Lebensstimmung“ der Romantik der Idee der Einheit nicht habe entraten können, denn einige ihrer Vertreter hätten sie in der Epoche des Mittelalters kristallisiert gesehen.16
Muths eindringlich-behutsame, von großer Belesenheit zeugende und stilistisch hervorragende Interpretationsversuche, Goethe als einen vom Christentum beeinflussten Dichter und Denker zu verstehen, sind von der Fachgermanistik nie gebührend gewürdigt worden. Der Pfad dieser Interpretation war erst zu beschreiten, wenn das vordergründig-prüde Sittenrichtertum aufhörte, das bisher allzu oft die katholische Annäherung an den Weimarer Dichterfürsten bestimmt oder besser: verhindert hatte. Die hohe Auffassung von der Natur, die Goethe hegte, wird von Muth gemäß seiner die Religion und Poesie verbindenden, die Poesie auf die gottgewollte Natur gründenden Auffassung interpretiert, also nicht auf Neuheidentum oder Pantheismus zurückgeführt. Mehr noch: Goethes hohes Lebensgefühl steht für Muth keineswegs im Gegensatz zu dem diese Welt angeblich nur in ihrer Vorläufigkeit und Sündhaftigkeit zulassenden christlichen Glauben. Goethe habe vielmehr das übertriebene, ihn wegen seiner Begegnung mit dem Pietismus in jungen Jahren belastende „Memento mori“ hinter sich gelassen und sich dem entgegengesetzten Pol christlichen Lebens genähert, dem aus der kraftvollen Überwindung des Leidens, der Entsagung und der Todesfurcht resultierenden Aufschwung zum „Memento vivere“, zum schließlichen Sieg des Lebens über den Tod. Goethe „wollte in der Religion als dem höchsten Leben schon hienieden keinen Glauben des Verzichts, sondern der Aneignung, der Bereicherung, der höchsten Bejahung sehen“. Damit erfasste er die „christliche Religion“ ihrer „großen Idee“ nach: Ist sie doch – „richtig verstanden – die Religion höchster Kraft, intensivsten Lebens, freudigster Zuversicht, rastlosen Wirkens, beglückender Lichtfülle“.17
Politische Diskussionen
In die Zeit der Weimarer Republik fiel das wohl bedeutsamste politische Engagement von Karl Muth. Es kam beispielhaft in einem programmatischen „Hochland“-Aufsatz zum Ausdruck, der den aufrüttelnden Titel „Res publica“ trug.18 Muth entwickelte hier nichts weniger als den Ehrgeiz, die deutschen Katholiken endgültig auf die Bahn der Aussöhnung mit der Republik und die Deutsche Zentrumspartei in die zukunftweisende Richtung der christlichen Demokratie zu lenken. Er bewegte sich damit im Rahmen konzeptioneller Erörterungen über miteinander konkurrierende Staatsdoktrinen, zu denen das „Hochland“ mehrmals Gelegenheit bot. So ließ es die Unterschiede zwischen einer liberal(istisch)en, sozialistischen und einer organisch oder thomistisch genannten Staatsidee in seinen Spalten diskutieren. Diese an das Verfahren von trial and error erinnernde Methode ist wohl aussagekräftiger für die politischen Vorstellungen der katholischen Zeitschrift als ein den Katholiken der Vor- und Zwischenkriegszeit unermüdlich von den Historikern unterstellter konservativer Korporativismus,19 der angeblich mitgeholfen habe, die Entwicklung zur Demokratie in Deutschland zu verbauen.
Erneut ging Muth nicht von einem separierenden, sondern von einem integrierenden Denkansatz aus. Er fasste – ohne Bewährtes zu verwerfen – ein allgemeines (Reform-)Ziel ins Auge. Ihm schwebte, zugleich mit der Erneuerung der Gesellschaft gemäß den Erfordernissen der gewandelten Nachkriegszeit, die Überwindung der seit 1918/19 latent drohenden Verfassungskrise der Republik vor. Dabei richtete er sein Wort zunächst an die weiter an der Kaiserzeit hängenden Konservativen, „die nichts gelernt und nur zu viel vergessen haben“, besonders aber an die unentschiedenen „Opportunisten“, die ebenfalls Distanz zum Weimarer Staat hielten. Die nach Versailles stark erregten nationalen Gefühle berücksichtigend, verwarf er das Vorbild der Dritten Republik Frankreichs, hatte sich hier doch ein unüberwindlicher Gegensatz zwischen der Partei der atheistischen Republikaner und den vereinigten Monarchisten und Klerikalen aufgetan; nicht zuletzt auf Grund dieser Polarisierung war der Staat dann zur Beute der Radikalrepublikaner geworden. Muth proklamierte vielmehr eine andere, eine auf der eigenen Vergangenheit beruhende Konsolidierung der deutschen Republik. Im Unterschied zum Frankreich der 1870er-Jahre, das zunächst noch die Wahl zwischen einer konservativen oder demokratischen Vorherrschaft gehabt hatte, war den Deutschen 1918 nur übrig geblieben, die neue Staatsform als unabwendbare Tatsache hinzunehmen; das nannte Muth aus einer vertieft christlichen Sicht sogar eine aus „Christenpflicht“ zu bejahende göttliche Fügung; an der Staatsform war danach eigentlich nicht mehr zu rütteln.
Was die Katholiken betraf, so hatte die Republik ihnen entscheidende Vorteile gebracht, ihnen die bisher im Prinzip vorenthaltenen „verfassungsmäßigen Freiheiten“ gewährt. Aber bedeuteten die neuen „Freiheiten“ nicht für alle Staatsbürger einen wesentlichen Fortschritt? Den kirchenpolitischen oder konfessionellen Ansatz überschreitend, forderte Muth die Besinnung auf die Freiheitstraditionen der deutschen Geschichte, auf die in deren „mittleren Zeiten“ herrschenden „jures, libertates et consuetudines“. An diese – gegen die unbeschränkte Souveränitätsdoktrin gerichteten – Freiheitsrechte sollte die deutsche Republik anknüpfen, sollte sie „ein den germanischen Freiheiten“, wie Muth in historisierender Diktion ausführte, „adäquates Gebilde“ werden.
Die „Freiheiten“ der modernen Welt sahen natürlich anders aus: Für Muth naheliegend waren es zunächst Religion, Wissenschaft und Kunst, die der republikanische Staat, anders als der Obrigkeitsstaat, als von ihm unabhängige Kräfte anerkennen sollte, dann die Werte der Persönlichkeit, der Ehe, der Familie, der familiengerechten „Kindererziehung“ und des „Berufsgedankens“. Diese gesellschaftlichen Grundkonstellationen sollte eine christliche Demokratie vor den Nivellierungen und „Verstaatlichungstendenzen“ einer „rein sozialistisch entwickelten Demokratie“ schützen. Die neue, zukunftweisende politische Kraft einer christlich inspirierten Demokratie sollte noch zwei andere politische Lager im Zaum halten: eine liberal-sozialistische Kulturkampfkoalition, deren Wiederaufleben nach den Vorgängen in Preußen 1919 anscheinend möglich schien, sowie die „unbelehrbaren reaktionären Elemente“. Dabei setzte Muth seine Hoffnung auf die „republikanische Bewegung“ unter dem Zentrumsführer und Reichskanzler Joseph Wirth und auf die Weiterentwicklung der erprobten volksparteilichen Konzeption der Deutschen Zentrumspartei.20 Die neue Gruppierung sollte sozial auf der Einigkeit des „Besitzbürgertums“, einschließlich der Bauern, mit dem bereits von der christlichen Gewerkschaftsbewegung erfassten „arbeitenden Volk des vierten Standes“ beruhen.
Konsequent maß Muth auch die Politik an den für die Literatur eingeführten Koordinaten: an der Verbindung von „Religion“ und „Freiheit“. Die tieferen Wurzeln der „staatsbürgerlichen Tugenden“, auf denen die Demokratie beruhte, allen voran Verantwortungsgefühl und Gewissen, fand er in den „Grundkräften des Christentums“ verankert. Muth deklamierte das nicht nur, sondern berief sich auf die Werke und historischen Forschungen ihm verwandter Geister, des Engländers Hilaire Belloc und des Spaniers Donoso Cortés. Ihnen hatte sich bei ihren Studien die Erkenntnis aufgedrängt, dass das allmähliche Verschwinden des aus der Antike überkommenen „Sklavenstaats“ auf eigentümliche Weise mit der Entwicklung der „christlichen Kultur“ zusammenhänge. Und auch jüngste kirchliche Entwicklungen schienen symbolisch zu bekräftigen, was nun auf dem weltlichen Gebiet gefordert war.
Die Ausrufung des Christkönigsfestes an Silvester 1925 in Rom wurde Muth zum Zeichen, dass nach dem soeben erlebten Sturz vieler weltlicher Königsthrone nur das Königtum des Gottessohnes noch wahre Gültigkeit beanspruchen könne, dieses nun verstanden als Symbol für jene sittliche Kraft, die sich gegen alle weltliche Despotie richte. Das aus „religiösen Grundsätzen“ abzuleitende Gebot, die irdischen, stets „bedingten Erscheinungen“ nicht „zu verabsolutieren“, bezog Muth auf die Monarchie. Das Verbot der Absolutsetzung historischer „Erscheinungen“ wurde diesem Katholiken und Anhänger der Zentrumspartei gerade nicht, wie öfters zumindest über seine Gesinnungsgenossen zu lesen, zum Argument der Relativierung der republikanischen Staatsform. Vielmehr hat er die Republik ausdrücklich als zeitgemäß begrüßt. Dabei half ihm die von Georg von Hertling schon 1911 in Bezug auf die USA formulierte staatstheoretische, aber moderne Mentalitätsphänomene einbeziehende Erkenntnis, dass in den Augen seiner Bürger auch die „Institution“ eines „Freistaats“ einen „geheiligten Charakter“ gewinnen könne – wie vordem der Royalist dem Königtum ein „religiöses Empfinden“ entgegengebracht habe. Die „demokratische Form“ allein reichte Muth nicht aus; die Aufgabe war, „das Demokratische mit den Grundkräften des Christentums“ zu „verbinden“, also die Vertiefung der Republik zur „Gesinnungsdemokratie“.
Muth schlug sich mit solchen Reflexionen auf die Seite erprobter Politiker der Zentrumspartei wie Hertling (der Anfang 1919 verstorben war) und Joseph Joos, 1920 bis 1933 Reichstagsmitglied der Zentrumspartei, seit 1927 Vorsitzender des Westdeutschen Verbands der Katholischen Arbeiterbewegung.21 Er bewahrte sich so den Blick für die politische Realität. Ohnehin glaubte er, dass nach 1918 eine „überparteiliche Politik“ ein Widerspruch in sich geworden sei. Demgegenüber ließen die Historiker Friedrich Fuchs und Philipp Funk, beide geschätzte Mitarbeiter am „Hochland“, eine gewisse Distanzierung vom politischen Katholizismus erkennen, wenn sie diesem nur eine Hilfsfunktion oder Vorreiterrolle in dem von ihnen als vorrangig erachteten Ringen um Fortschritt und Gleichberechtigung auf dem Gebiet des deutschen Kulturlebens zugestanden.22
Wege zum Widerstand
Die Bildungselite um die Zeitschrift „Hochland“ erlebte nach 1933 eine ganz andere „Volksgemeinschaft“, als Muth sie propagiert hatte. Während viele katholische Presseorgane, namentlich die Tageszeitungen mit ihrer vielfältigen landschaftlichen Verwurzelung, rasch unterdrückt, verkauft oder verboten wurden, erlebte das „Hochland“, wie das Gros der katholischen Zeitschriften überhaupt, bis zu seinem Verbot im Juni 1941 einen Aufschwung in Gestalt einer Auflagensteigerung. Diese fiel vor allem in die zweite Hälfte der 1930er-Jahre. Die Gründe dafür sind schwer nachweisbar. Zunächst einmal werden die Periodika von dem Verschwinden der katholischen Tagespresse profitiert haben. Speziell für das „Hochland“ dürfte zutreffen, dass sein hohes intellektuelles Niveau Verständnisschwierigkeiten mit sich brachte und darum der Zensur des Nationalsozialismus nicht so viele direkte Angriffsflächen und Anhaltspunkte bot. Dazu kam, dass die Monatsschrift eine Abonnentenschar in vielen Ländern der Welt besaß, im Ausland sehr angesehen war und ein Verbot dort allzu deutlich als Beispiel für die Unterdrückung der Geistesfreiheit in Deutschland hätte herangezogen werden können.
Auch entwickelte „Hochland“ unter den Bedingungen der Diktatur und gemäß den ausdrücklichen Vorgaben der Redaktion die Kunst, die ihm und seinen Lesern wichtigen Inhalte verdeckt und indirekt zu vermitteln. Einerseits musste die Gemeinschaft mit einem geistesverwandten Lesermilieu aufrechterhalten werden; andererseits war eine Form oder Verpackung zu wählen, die unauffällig und angepasst genug zu sein schien, um nicht offiziell Anstoß zu erregen.23 Dazu gehörte auch die Verwendung von Pseudonymen für die Autoren zeit- und regimekritischer Beiträge. Schließlich kam es in Einzelfällen doch zu einer Anpassung an die übermächtigen Zeitumstände. So verharmloste ein Artikel des angesehenen französischen Paläographen und Patristikers Dom Germain Morin den deutschen „Blitzkriegs“-Angriff auf Frankreich mit historischen Argumenten, wurde aber dennoch vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda abgelehnt.24 Das Genus dieser Widerstandsliteratur, das von plumpen Interpretationen verkannt wird, ist noch nicht genügend untersucht und gewürdigt.
Vor allem während der letzten Phase des Aufstiegs der „Hitlerbewegung“ publizierte das „Hochland“ allerdings eindeutig ablehnende Stellungnahmen. Sie wiesen über Tagesgesichtspunkte hinaus und enthielten bereits gültige Argumente für eine historische Analyse des Totalitarismus-Phänomens. Das traf vor allem für die Aufsätze des promovierten Juristen, Soziologen, Schriftstellers und politischen Kommentators russisch-jüdischer Herkunft, Elias Hurwicz,25 zu. Er war auch mit Analysen der russischen Revolution hervorgetreten, die er ablehnte, obwohl er für ihr Entstehen aus den in Russland herrschenden Zeitverhältnissen großes Verständnis zeigte. Hurwicz musste dann Deutschland verlassen. Aus der langen Lebenserfahrung des Zeitzeugen prangerte er die Marxismus-Renaissance nach 1945 als „Wiederkehr des Vorgestrigen“ an.26 Hurwicz fasste 1933 zunächst den übersteigerten Nationalismus als Bedingung für den Aufstieg des Nationalsozialismus in den Blick, kritisierte die Übertreibung national- und machtstaatlichen Denkens dieser – insofern nicht neuen – „Bewegung“. Weitere Bedingungen für den Erfolg des Nationalsozialismus sah er in dem bei den Deutschen verfangenden Personenkult, im ersatzreligiösen Auftreten der Bewegung sowie in der auf bloßen Stimmenfang berechneten, inkohärenten, „buntscheckigen“ Programmatik.
Die ideologische Auseinandersetzung des „Hochland“ mit dem Nationalsozialismus lässt sich summarisch drei Grundlinien zuordnen:27
1. Der „geistige Widerstand“ aus dem religiösen Bereich legte einem Staat, der die bürgerliche Ordnung hinter sich ließ, eine unzulässige Grenzüberschreitung zur Last, weil er sich über das Gewissen und die Freiheit der Kirche hinwegsetze und insofern eine Tendenz zur Totalität zeige. Autoren des „Hochland“ wollten aber die natürliche Ordnung – als eine Voraussetzung der Gnade – erhalten wissen. Sie verteidigten auch das von den Nationalsozialisten angegriffene Alte Testament als integrierenden Bestandteil des christlichen Glaubens und widersprachen dem Antisemitismus der nationalsozialistischen Rassenlehre. Sie bezeichneten ihn als widerchristlich, weil er unzulässige Schranken unter den Völkern aufrichte, die alle gleichermaßen zur Erlösung berufen seien.
2. Auf historischem Gebiet widersprach das „Hochland“ der Pervertierung des Reichsgedankens durch die nationalsozialistische Ideologie, der Erhebung des Zentralismus zum Entwicklungsziel der deutschen Geschichte, der biologisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung, der Verbiegung der Geschichtswissenschaft durch ihre Indienstnahme für politische Gegenwartsziele und der damit verbundenen Leugnung des historischen Objektivitätsgebots. Das außenpolitische Auftrumpfen des Nationalsozialismus geriet in die Kritik, wenn Muth – durch die Blume gesprochen – sich mit den „nationalegoistischen Instinkten“ des Kardinals Richelieu auseinandersetzte und dem nur von den eigenen Interessen geleiteten Vertreter des frühen Absolutismus in Frankreich das größere „europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl“ des habsburgischen Kaisers gegenüberstellte.28
3. Auf dem ihm ureigenen Gebiet der schönen Literatur trat die Zeitschrift der Verbreitung der Blut- und Boden-Ideologie entgegen, verwarf die einseitige Nationalisierung des universellen Kulturgutes der Kunst, bestand auf den Freiheiten und selbstgesetzten Zwecken jeder künstlerischen Betätigung. Die Selbstständigeit des Denkens und der künstlersichen Emotion, eine je eigene Auffassung des Lebens und der Wirklichkeit galten ihr nach wie vor als die allein angemessenen Grundlagen für jede geistige Produktivität. Der Abdruck klassischer Lyrik – von Emanuel Geibel, Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller – stellte gewissermaßen geistige Residuen der Normalität, Inseln der Zuflucht und des Trostes in persönlichen Bedrängnissen oder inmitten der sich allgemein verbreitenden Niedergeschlagenheit bereit.
Zwar stammten die meisten Widerstands-Artikel nicht aus der Feder von Karl Muth. Aber ihm und seinem letzten Schriftleiter Franz Josef Schöningh gebührt das Verdienst, inspirierend, lenkend und planend den widerständigen Kurs der Zeitschrift bestimmt zu haben. Muth betrat aber auch noch mit eigenen Beiträgen die politische Arena. So nahm er die falsche Traditionsanmaßung der Nationalsozialisten nicht hin. Deutlicher noch als in seinen Besprechungsartikeln über Richelieu bezeichnete er in einem klugen Essay über den Reichsgedanken den Kaiser als „Schützer des Rechts und Wahrer der Ordnung“ – nach außen wie im Innern des Alten Reiches – und scheute, sich auf Theodor Haecker berufend, auch nicht die deutlichen Worte in der Sache: Das „Dritte Reich“ konnte sich nicht als Erbe des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reiches ausgeben, da dessen „wahre Idee“ ihrem „Wesen nach“ dem Nationalsozialismus „zuwider sein muß“.29 Wenn die Zeitschrift die Machtübernahme des Nationalsozialismus mit klaren Abgrenzungen quittierte, so musste sich allerdings nach dessen Machtbefestigung der geistige Kampf mehr der indirekten Vermittlung, etwa der Diskussion über historische Komplexe und Analogien oder der Erzählung über unpolitische, aber aktuelle Schlussfolgerungen nahe legende Themen bedienen.
Nach dem Verbot seiner Zeitschrift arbeitete Muth mit der ihm eigenen Rastlosigkeit weiter und beschäftigte noch jüngere Mitarbeiter. Zu ihnen gehörte im Sommer 1942 Hans Scholl. Er half, Muths große Bibliothek zu katalogisieren. In den die Arbeit begleitenden Gesprächen bestärkte der erfahrene Publizist den jungen Mann in seiner Abwehrhaltung gegen den Nationalsozialismus. Die Meldung über die Hinrichtung des noch jugendlichen Widerstandskämpfers hat Muth tief erschüttert.30 Er selbst entging der Verhaftung, obwohl er eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste. Belastendes Material, so eine für Papst Pius XII. bestimmte Denkschrift über aktuelle deutsche Zustände, entging den Häschern. Am 15. November 1944 verstarb Karl Muth im Krankenhaus von Bad Reichenhall. Dorthin war er verlegt worden, nachdem sein Haus in Solln und die Münchener Klinik, die ihn aufgenommen hatte, zerstört worden waren. Bis zuletzt hegte er die Gewissheit, die er schon in den Anfangsjahren der NS-Diktatur gewonnen hatte, dass der Nationalsozialismus dem Untergang geweiht war.
Doch würde dies, wie er ebenfalls glaubte, nicht ohne außergewöhnliche Opfer abgehen. Muth war angesichts der Akzeptanz, die der Nationalsozialismus, kaum dass er zur Herrschaft gelangt war, in allen Bevölkerungsschichten erlangt hatte, früh der Meinung, dass dieses Unrechtsregime nur durch einen verlorenen Krieg zu beseitigen sein würde.31 Der Publizist, Essayist und Schriftsteller, eine Künstler- und Gelehrtennatur, gewann eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der nach 1933 eingetretenen Lage. Aus langjähriger politischer Erfahrung, aus der Beobachtung des geistigen und politischen Lebens wie aus einer weltanschaulichen Grundhaltung, die heute gern als „ontologisch“, spekulativ oder unwissenschaftlich abgetan wird, fand er zum Widerstand.
Schriften von Karl Muth: (Hg.:) Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur u. Kunst. Kempten/München 1903 – 1941 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Wem gehört die Zukunft? Ein Literaturbild der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1893 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage. Mainz 1898 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Die Litterarischen Aufgaben der Deutschen Katholiken. Gedanken über katholische Belletristik und litterarische Kritik. Zugleich eine Antwort an seine Kritiker. Mainz 1899 – Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens. Kempten/München 1909 – Schöpfer und Magier. Drei Essays. München 1935.
Sekundärliteratur: Konrad Ackermann: Der Widerstand der Monatsschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus. München 1965 – Winfried Becker: Muth, Carl Borromäus Johann Baptist. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Traugott Bautz. Bd. 6. Herzberg 1993, Sp. 396 – 402 – Walter Ferber: Carl Muth (1867 – 1944). In: Rudolf Morsey (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Bd. 1. Mainz 1973, 94 – 102, 301 f. – Maria Cristina Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im „Hochland“ (1903 – 1918). Paderborn 2008 – Anton Wilhelm Hüffer: Karl Muth als Literaturkritiker. Münster 1959 – Gilbert Merlio: Carl Muth et la revue Hochland. Entre catholicisme culturel et catholicisme politique. In: Michel Grunewald/Uwe Puschner in Zus.arb. m. Hans Manfred Bock (Hg.): Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963). Bern u. a. 2006, 191 – 208 – Wulfried C. Muth: Carl Muth und das Mittelalterbild des Hochland. München 1974 – Barbara Schüler: „Geistige Väter“ der „Weißen Rose“. Carl Muth und Theodor Haecker als Mentoren der Geschwister Scholl. In: Rudolf Lill/Klaus Eisele (Hg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“. Konstanz 1999, 101 – 128.
Annette Kolb (1870 – 1967)
Auf der Freitreppe
Annette Kolbs Katholizität
Hans-Rüdiger Schwab
„Was wollt ihr noch von ihr wissen?“ fragt die angesehene Autorin 1932 in einem „Befohlenen Selbstporträt für Quartaner“: „Sie ist katholisch. Seinen frühen Schulkatholizismus gibt jeder eines Tages preis. Dazu bedarf es nicht viel. Nachträglich ihn dennoch beizubehalten, bedingt einen weit schwierigeren geistigen Prozeß. Dafür nimmt man sich einige Reservatrechte heraus, die einem besonders von Convertiten als ketzerhaft bestritten werden. Aber das schadet nichts.“1
Selbstbehauptung und Ironie durchdringen einander in dieser Aussage. Beides ist kennzeichnend für Annette Kolb. Die „Convertiten“ (denen gegenüber sie wiederholt fremdelte) werden hier stellvertretend für bestimmte Verhaltensmuster erwähnt. Was ihr missfällt, ist eine teils selektive, teils gleichsam überbietende Fixierung von Glaubensinhalten.
Innerhalb des Panoramas katholischer Intellektualität während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt Annette Kolb in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Sie ist eine der wenigen, die ins Exil gingen, gleich zweimal sogar. Während man unter dem Vorzeichen „katholischen“ Denkens zur Zeit der Weimarer Republik vielfach Ordnungsvorstellungen von Reich und Nation anhing, mahnte die überzeugte Demokratin und Europäerin lakonisch: „Mehr als die Völker bedarf der Völkerbund des Schutzes.“2






