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Auch sonst bewegte sie sich jenseits „typischer“ Fragestellungen und Konfliktlinien. Der Richtungsstreit über „katholische“ Literatur etwa interessierte sie nicht. Ihre eigenen Arbeiten erschienen seit 1905 bei S. Fischer, einem der führenden deutschen Verlage. Annette Kolb verfügte über die geistige Souveränität der Einzelgängerin. Sie war klug, aufmerksam, tapfer, ein wenig dickköpfig und schrullig auch, aber das macht sie gerade sympathisch.
Vom Milieu und seinen Organisationsformen hielt Annette Kolb sich fern. Dafür stand sie im Kontakt mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten des kulturellen und politischen Lebens: von Thomas Mann und Romain Rolland über Carl Jacob Burckhardt bis hin zu Auguste Rodin, Claude Debussy oder Ferruccio Busoni. Früher als andere bewunderte sie Proust und Joyce, umgekehrt wurden ihre eigenen Texte etwa von Rilke oder Hofmannsthal gerühmt. Bei Max Scheler hörte sie schon, als er an seinen ersten Werken arbeitete. Zu denen, die sie privat aufsuchte, zählen so unterschiedliche Denker wie der Positivist Hippolyte Taine und der religiöse Existentialist Gabriel Marcel.
Für diejenigen, die sie kannten, stand ihre katholische Prägung außer Frage, die allerdings ungewöhnlich, ja fast heterogen amalgamiert war. Eine „begeistert katholische (...) Autorin“ nannte Hermann Kesten sie – was von dem jüdischen homme de lettres ins scheinbar Widersprüchliche hinein präzisiert wird: „Sie war erzkatholisch und antiklerikal und liberal.“3 Auch Luise Rinser rühmte an Annette Kolb einen Katholizismus „von südlich-lateinischer Weltoffenheit“. „Kaum ein Werk“, übertreibt sie nur ein bisschen, in dem nicht „vom Katholizismus“ die Rede sei: „doch meist nur so, wie eben ein Habitué der Kirche es tut: als über das Selbstverständliche“.4 Im „Hochland“ wurde immerhin schon (oder erst) Anfang der 30er-Jahre, wenn auch mit einem verräterischen Einschub, ihr „eigenes, sehr persönliches – zuweilen sicher auch etwas zu persönliches – Verhältnis zum Katholizismus“ anerkannt und sie, ihr ganz unangemessen pathetisch, als „Weggenossin aller ins Lichte drängenden jungen Dichtungsbewegung“ gewürdigt.5
Ein Jahrhundertleben
Von den Nachwirkungen des Kulturkampfs bis an die gesellschaftliche Zäsur Ende der 60er-Jahre reicht Annette Kolbs Leben. Geboren am 3. Februar 1870 in München, wächst sie dort in einer Atmosphäre auf, die sie mit den Begriffen „Weltbürgertum“ und „Weite“ des „Horizonts“ beschreibt.6 Sie selbst ist gleichsam Tochter zweier Nationen. Ihre Mutter, eine französische Konzertpianistin, unterhielt während deren Münchner Zeit „rege“ Beziehungen zu Cosima Wagner und wurde von Franz Liszt besucht.7 Der Vater, königlich-bayerischer Gartenbauinspektor, war als landsmannschaftlicher Partikularist ein entschiedener Gegner alles Preußischen, damit auch Protestantischen, dessen Doppel-Hegemonie bei der Gründung des Deutschen Reichs für ihn den Keim späteren „Unheils“ (W 10) in sich trug. Unter Verlängerung der Perspektive bis zum Zweiten Weltkrieg hat seine Tochter diese Haltung übernommen. „Die Schaukel“ (1934), der Roman ihrer Jugend, beschreibt mit Lust an der Differenz konfessionell unterschiedliche Sozialisationsfaktoren und Lebensstile sowie die daraus entstehenden wechselseitigen Reibereien. Das katholische Elternhaus ist fromm und großzügig zugleich. Neben Künstlern und Diplomaten verkehren dort auch höchste geistliche Würdenträger wie der apostolische Nuntius.
Zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr besucht Annette Kolb eine Schule der Salesianerinnen bei Hall in Tirol. Was sie später beschreibt, ist die erste katastrophal verlaufene Internatsgeschichte in der deutschen Literatur. Neben der Erfahrung von erzieherischen „Härten“ und seelischen „Schäden“, die „fürs Leben“ anhafteten (SB 14), wird ihr im „verhaßten“ Institut8 der Glaube gründlich verleidet. Rückblickend beklagt sie den „furchtbaren Klosterjargon (...), in dem das Transzendentale, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, ohne Unterlaß hereinbezogen wurde“9. Dass Heranwachsende „einem Glauben, in den sie auf solche Weise eingeweiht wurden, eines Tages den Rücken kehren, ist das Naheliegendste“ (SB 12), zumal wenn hinsichtlich ihrer eigenen religiösen Fragen nur die redselige Antwortlosigkeit herrscht.
Anfänglich schwankt Annette Kolb zwischen einer Laufbahn als Pianistin und als Schriftstellerin. Mit 29 Jahren lässt sie auf eigene Kosten ihr erstes Buch drucken: „Kurze Aufsätze“, die zum Teil bereits vorher erschienen waren. Es bildet den Auftakt eines sechseinhalb Jahrzehnte überspannenden Lebenswerks, dem drei Romane folgen, zahlreiche Erzählungen, Skizzen und Essays sowie drei Musiker-Biographien.
Auch über die politische und gesellschaftliche Situation Europas äußert sie sich von früh an, besonders mit Blick auf die wünschenswerte Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Aufgrund ihrer Kritik am Ersten Weltkrieg zieht sie es 1916 vor, in die Schweiz zu emigrieren. Sechs Jahre später lässt sie sich in Badenweiler nieder und baut neben dem Anwesen ihres elsässischen Schriftstellerfreundes René Schickele ihr eigenes Haus. Während der Weimarer Republik gilt sie als eine repräsentative Figur des kulturellen Lebens. Vor den Nazis flüchtet sie im Februar 1933 zunächst wiederum in die Schweiz. Im folgenden Jahr bezieht sie eine eigene Wohnung in Paris. 1936 erhält sie die französische Staatsbürgerschaft. Als vier Jahre später die deutschen Truppen auf Paris vorrücken, flieht sie nach Vichy und Genf. Von dort gelingt ihr über Spanien und Portugal die Emigration nach New York. Im Oktober 1945 kehrt Annette Kolb wieder nach Europa zurück und lebt an wechselnden Aufenthaltsorten – am längsten in Paris – ihr „Exil nach dem Exil“. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen flankieren den Lebensweg. 1961 übersiedelt sie wieder in ihre Geburtsstadt. Bis ins hohe Alter hinein bleibt Annette Kolb vielfältig aktiv. Im März 1967 unternimmt sie noch eine Reise nach Israel. Am 3. Dezember des gleichen Jahres stirbt sie in München.
Die Sache von „unbegrenzter Elastizität“
„Ihre Fühlung zum Christentum hatte zwar viele Wandlungen erfahren und ließ nie ab, sich umzugestalten und zu verschieben“, schreibt die Autorin, den späteren Gedanken der eingangs zitierten Auskunft variierend, bereits über die Heldin ihres Romans „Das Exemplar“ (1913): „Für nichts war ihr Auge so hart und geschärft wie für die Scheidungen, die hier zwischen Kern und Schale vorzunehmen sind.“ Weil sie vom Katholischen groß und eigenwillig denkt, fühlt sie sich in seiner realen Existenzform nicht immer beheimatet: „Auf ihren Katholizismus, der ihr von anderen Katholiken gern bestritten wurde, tat Mariclée sich nämlich viel zugute. Immer vorschnell hielt sie ihn für würdiger als den der anderen, die sich bescheiden wollten, während sie selbst den Gedanken, der ihn trug, so stark gefunden hatte, daß sie ihn, wie ein großes Kauffahrteischiff, mit allem befrachtete, was die Welt an geistigen Werten enthielt, und ihm außer den neun Musen con allegria den ganzen Olymp aufzuladen begehrte. Infolge ihrer hohen Meinung von der Tragfähigkeit jenes Gedankens war sie von einem geradezu uferlosen Liberalismus. Möglich, daß ein Körnchen Weisheit darin steckte.“10
Selbstironie macht sich natürlich auch hier wiederum geltend. Gleichwohl kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Begriff des Katholischen für Annette Kolb in beträchtlichem Maße inklusiv ist. Er fungiert als ein Passwort für Weite und Assimilationskraft, eine Arche des Geistes sozusagen. In einer bestimmten Glaubens- und Lebensform wirksam, übergreift er doch deren sichtbare Grenzen. Annette Kolb war nicht von Ängsten geplagt, dass Umrisse damit ins Unkenntliche verschwimmen. Fast Unvereinbares, nur scheinbar einander Ausschließendes miteinander zu verbinden, ja einzuschmelzen: darin besteht für sie der Kern des Katholischen, sein „tiefinnerstes Geheimnis“.11
Annette Kolb redet keiner Identitätssicherung durch klare Unterscheidung von Draußen und Drinnen das Wort. Synthesen und Adaptationen sind vielmehr ihre Leidenschaft: „Solche Katholiken aber frönen innerhalb des Credo quia absurdum einem Freidenkertum ohnegleichen.“12 Andererseits ist, mit einer vertrackten Formulierung, deswegen auch „so mancher (...) katholisch, ohne es zu wissen, und umgekehrt“ (M 306)13 – erst recht dann, wenn die Angelegenheit, wie oft bei ihr, nach dem „Temperament“ betrachtet wird (S 154). Diese Haltung verträgt sich auf das Sinnigste mit Annette Kolbs Übersetzung eines Buchs wie „Orthodoxie“ von Gilbert Keith Chesterton (1909), in dem die Apologie katholischer Rechtgläubigkeit sterile Vorstellungen von Rationalität ins Wanken bringt. Auch was Chesterton an seinem Gegenstand faszinierte, war dessen Koexistenz von Extremen.
Stets aufs Neue wendet Annette Kolb sich daher gegen das, was sie in ihrer religiösen Internatserziehung erstmals erlitt: die verbale Zementierung, das (womöglich noch autoritär verfügte) Einschließen des Göttlichen im Begriff, mit dem man es dingfest gemacht zu haben wähnt. Ganz abgesehen davon, dass damit eine Immunisierung sowohl gegen die Erfahrungen der Subjekte als auch der Geschichte ins Werk gesetzt wird. „Alle Wörtlichkeiten trieben sie die Wände hoch“ (D 32), heißt es, beispielhaft für weitere Stellen dieser Art, im Roman „Daphne Herbst“ (1928) von der Mutter der Protagonistin. Implizit richtet sich derlei natürlich gegen den kirchlicherseits als Antwort auf die Dynamisierung und Historisierung des modernen Bewusstseins aufgerichteten neuscholastischen Argumentationsrahmen; nicht minder gegen heute nachgerade grotesk wirkende Entscheidungen der Päpstlichen Bibelkommission zur Abwehr der historisch-kritischen Exegese, mit denen noch 1909 etwa die Geschichtlichkeit der biblischen Genesis-Erzählungen dekretiert wurde.14
Das Katholische, wie Annette Kolb es sieht, hält nicht geringe Herausforderungen bereit. Immer handelt es sich bei ihm auch um etwas Komplexes, Bewegliches, Schillerndes, und das durchaus im positiven Sinne: „In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu bleiben ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als über ein so verfängliches und verwirrendes Thema nachzudenken. Und ich begreife sie sehr wohl. Dem Geiste nach ist der Katholizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu Geheimes und zu Irisierendes.“ Ihn mit „Anachronismen“ (F 191) oder dem bloßen Rückzug auf dogmatische Gewissheiten domestizieren zu wollen, worin seine Leuchtkraft gerade für manche zeitgenössische Intellektuelle bestehe – ausdrücklich genannt wird Paul Claudels Neigung zu statischen Denkmodellen –, heißt ihn in jedem Falle zu verfehlen. Zugleich aber ist in der realen Gestalt der Kirche, wie defizitär im Einzelnen sie sein mag und von wie „sehr merkwürdigen“ Menschen auch immer bevölkert (F 189), der Kern unabgegoltener Verheißung lebendig, die Wesenstiefe und eine nach vorne gerichtete Dynamik miteinander verbindet. Deswegen solle man sich selbst in Zeiten offizieller Engführung des Katholizismus nicht beirren lassen: Hinter einer Gegenwart nämlich, der „wir doch sonst lieber heute als morgen davonliefen“, steht „das Rätsel (...), das wie eine noch ungehobene Monstranz weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann ausstrahlt.“ (F 194)
Das „Göttliche“ ist für Annette Kolb „jenseitig“ (SB 144). Aber es hat Spuren im Diesseits hinterlassen. Das katholische Verhältnis zum Irdischen ist daher „nicht nur tributär“ (D 78), sondern bejaht dessen „unendliche und transzendente Hintergründe“ (M 306). Modus solch doppelter Annäherung aber ist die Kunst. „Wozu wäre Kunst, wenn nicht, um zu umschreiben?“ (M 304), fragt Annette Kolb. Mit derjenigen der Antike beginnt für sie demzufolge der „elementare Auftakt der messianischen Zeit“: das Bewusstsein der Herausforderung des geistigen Menschen durch das Geheimnis Gottes, seine Hinordnung auf dieses. „Alle Künste (...) waren von jeher durch den Pulsschlag, oder den Gedanken eminent katholisch. Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer verdrängt, das Universalste zum Einschichtigen, die Sache, deren Schlagwort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge.“ (F 203 f.) Bloße Einforderung „korrekter“ Doktrin jedenfalls wird zur Selbstverhinderung: Darin besteht eine Kritik über die Zeit jener „antimodernistischen“ Defensive hinaus, der sich diese Zeilen verdanken.
Für Annette Kolb haben gerade die bildenden Künstler, die Dichter und die Musiker das „unrigorose Stichwort“ des Katholizismus „nie verkannt“ (M 306) – aber nicht die Ästhetik selbst, sondern das Mysterium steht hierbei im Vordergrund. Ein Bauwerk wie beispielsweise die Kathedrale von Chartres vermittle daher den „ethischen Eindruck einer aus Stein, Marmor und Glas formulierten Wahrheit, einer Vérité intrinsique, deren Zone jenseits aller Wörtlichkeit liegt“ (M 304). In der vereinseitigten Ratio- und Logozentrik, dem Überhandnehmen des Alltäglichen und Pädagogischen, der Verwandlung der Kirchen zu „Schulsälen“ und ihrer Ausleuchtung mit „Alltagslicht“ (M 305), besteht für Annette Kolb denn auch der eigentlich „leidige Bruch“, der mit der Reformation eintrat, denn, schreibt sie mit Großmut der vorreformatorischen Kirche gegenüber, „über die Notwendigkeit von Reformen war man sich ja einig“ (M 306).
Unter zukünftiger Perspektive jedenfalls bleiben Selbstkorrektur und Entwicklungsoffenheit unhintergehbar. Einmal spricht Annette Kolb von „einer ehrwürdigen und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden Feste“ (F 189). In jedem Falle bedarf es dafür der Geduld, „weil ja die Vorbedingungen noch nicht geschaffen“ sind (D 77, vgl. 86). Gleichwohl gilt: „Auch für den Katholizismus wird eine neue Stunde schlagen: die von Katharina von Siena so heiß ersehnte ,Reformation‘ steht immer noch aus.“ (M 306)
Neben und vor Bernard von Brentanos „Theodor Chindler“ (1936) ist Annette Kolbs „Daphne Herbst“ (1928) der katholische Familienroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie als ein bewusst gesetztes Zeichen für die Versöhnung der Gegensätze heiratet seine Heldin, dem Willen ihres Vaters zuwider handelnd, einen Protestanten. Obwohl sie selbst mit Begriffen des „Heidnischen“ in Verbindung gebracht wird (D 12, 63, 79) und trotz ihrer „Freigeistigkeit“ (D 88), erlebt Daphne tief reichende „religiöse Abenteuer“ (D 44). Sie spricht zwar nicht gern davon, glaubt aber doch „alles“, was das apostolische Bekenntnis fordert (D 87). „Strengste Zurückhaltung“ und „Intimität“ sind ihr wichtiger als öffentliches Zur-Schau-Stellen und ein damit verbundener „Jargon vom lieben Gott (...) und der ewigen Seligkeit“. Mit ihrer religiösen Befindlichkeit sieht die junge Frau sich auf einer Fährte „zur Freitreppe, von wo aus gesehen das Engste, Obskuranteste zum Vieldeutigsten und Kosmischen sich weitet“, das die sichtbare Realität überschreitet und in katholischer Frömmigkeit viele Bezugspunkte hat.
Eine weitere Spannung ist bezeichnend für die Psychologie und Dialektik eines von Annette Kolb bevorzugten Typus des intellektuell Katholischen angesichts der Moderne: „zu glauben und nicht zu glauben zugleich“ (D 88 f.). Dahinter verbirgt sich letztlich eine Ahnung jenes vielleicht höchsten Paradoxes, auf welches das religiöse Begriffsvermögen zuläuft: „Wer durfte das Recht des Glaubens beanspruchen, der dem anderen das Recht des Unglaubens bestritt?“ (D 78 f.) Unter diesem Blickwinkel ist wahre Religiosität immer größer selbst als ihre Negation, da sie diese einzubegreifen vermag.
Für ein in die Moderne hinein vermitteltes Christentum
Im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende setzen Annette Kolbs Bemühungen um eine neue Verhältnisbestimmung zu ihrem katholischen Erbteil ein. Die Heldin der 1905 entstandenen autobiographischen Erzählung „Torso“ hat ebenfalls eine problematische Schulzeit bei Nonnen hinter sich, die sie der Religion „zu sehr entfremdet“ hatte. Nach Umwegen findet sie am Ende wieder zu ihrem „verlorenen (...) Glauben“ zurück (WN 57) – auf einer neuen Ebene allerdings. Vor ihrem Auge gibt sich ein universaler „Mensch“ und „Gott“ zu erkennen, der „auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob“, weil ihm „nichts fremd war“ (WN 55) und „jede Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes“ zu ihm hin „gravitierte (...). Und von der überschwänglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: ,In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen‘ wurde sie wie von unendlichen Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.“ (WN 56)
Mit Emphase wird ein schöpferischer Entwicklungsprozess des Menschen beschworen, dessen „Apotheose“, im Einklang mit der Botschaft Christi, das Endziel der Geschichte ist. Unter christlichem Vorzeichen äußert sich hier ein dynamisches Weltbild von Möglichkeitsräumen, das an Henri Bergsons „Évolution creatrice“ (1907) gemahnt, einen Text, den Annette Kolb zur Vorbereitung eines durch Max Scheler mit dem französischen Philosophen vermittelten Treffens allerdings erst zwei Jahre später liest.
Während dieser Zeit geraten Vertreter dessen, was seitens der kirchlichen Autorität als „Modernismus“ angeprangert wird, in ihr Blickfeld. Es handelt sich dabei um durchaus verschiedene Bestrebungen, theologische Aussagen mit dem Erkenntnisstand der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie zu verbinden. In „Das Exemplar“ (dessen Handlung im Sommer 1909 in England spielt) kommt das Gespräch einmal auf den „kürzlich erfolgten“ Tod George Tyrrells (am 15. Juli diesen Jahres), wobei die Protagonistin „sich über die unversöhnliche Haltung des Klerus mächtig ereiferte“ (E 124). Der ehemalige Philosophieprofessor war seiner öffentlichen Kritik an Papst Pius’ X. antimodernistischer Enzyklika „Pascendi“ wegen exkommuniziert worden. Auf dem Totenbett erhielt er zwar bedingungsweise die Sterbesakramente, doch wurde ihm auf Betreiben höchster Stellen ein kirchliches Begräbnis verweigert, weil er keinen formellen Widerruf geleistet hatte.15 Annette Kolbs Mariclée empfindet dieses Vorgehen als skandalös.
Über die Bedeutung eines anderen Indizierten für sie hat die Autorin 1911 einen Essay verfasst, „Besuch bei Duchesne“ (den sie bis 1954 zweimal neu, teilweise modifiziert, veröffentlicht). Der hoch angesehene Kirchenhistoriker Louis Duchesne hatte den Exegeten Alfred Loisy beeinflusst, den Kopf der „modernistischen“ Strömung. Nicht nur in seiner „Histoire ancienne de l’Église“ (1906/11), die 1912 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde, war er selbst der kritischen Methode verpflichtet.
Annette Kolb beschreibt Duchesne als Leitfigur einer wünschenswerten katholischen Avantgarde, die mit Blick auf „den kommenden Umbau“ (F 190) Wege in die Zukunft zu weisen vermag: „Nicht mit den Unbedachten und den Fanatikern, die blindlings ein zerfallendes Gemäuer verteidigen, sondern weil er dessen unerschütterliche Basis ergründete, nur deshalb verharrte er standhaften Fußes inmitten des immer hastigeren Gerölles. Gar manche Werte, als unvergänglich ausgegeben, wird es ja als vergangene vor sich hintreiben.“ Dies aber, die Erkenntnis seiner Verhaftetheit auch an zeitbedingte Denkformen, ist die Voraussetzung, um „sich zu einem Katholizismus zu bekennen, von dem die düstere, unziemliche und abgenützte Wörtlichkeit sich endlich löste!“ (F 195) Annette Kolb fordert eine andere Hermeneutik, den Sinn für Unterscheidungen von geschichtlich Vermitteltem, das keine dauerhafte Geltung beanspruchen kann. Wenn sie sich feindselig gegen das zeitgenössische Reflexionsniveau einmauert, läuft die Kirche Gefahr, zur Ruinenbaumeisterin zu werden.
Die für das Selbstverständnis der Autorin nicht hoch genug einzuschätzende Begegnung (F 204) findet um 1903 in Rom statt. In einem langen Gespräch erläutert Annette Kolb Duchesne ihr Verständnis von der Wahrheit als einer „vieldeutigen Einheit“ des Inkommensurablen, die den Menschen deswegen besonders reizt, weil sie sich ihm permanent entzieht: „eine Einheit, die (...) die vielen Wohnungen auch wirklich in sich birgt, von welchen geschrieben steht“ (F 201 f.). Daher müsse es die Aufgabe einer Auseinandersetzung mit „den Dogmen“ sein, „den spekulativen Gedanken auf das äußerste anzuspornen“ (F 201). Duchesne, der „vielangefeindete“ große Gelehrte mit Hang zum Sarkasmus, gibt sich in dieser Situation zugleich „als ein heiliger Priester“ zu erkennen, der das Anliegen seines Gastes ins Recht setzt (F 204).
Auch nachdem wenige Jahre später „in den klerikalen Blättern jene berühmte Hetzjagd“ auf ihn eingesetzt hatte, „bei welcher er als ein Ketzer behandelt“ wurde (F 205) – worin Annette Kolb übrigens einen Bruch des Pontifikats von Pius X. mit dem seines Vorgängers Leo XIII. sieht –, wendet er sich trotz aller Verbitterung nicht von der Kirche ab. In dieser Situation besucht sie den „großen Katholiken“ (F 209) noch einmal, um ihn ihrer Verbundenheit zu versichern.
„Eine reformkatholische Heilige“
Das Verständnis der Heiligen als „eigentlichen Experten des Christentums“ begründet „ein übergreifendes ,modernistisches‘ Interesse an der Hagiographie“.16 Für zwei weitere Arbeiten Annette Kolbs dürfte dieser Kontext nicht außer Acht zu lassen sein. Ein kurzer Essay über das „Leben der Heiligen Walpurga“ (1911) stellt dabei Verbindungen zwischen dem Glauben und der „modernen“ Denkform eines „auf das verstandesmäßige Sehen verzichtleistenden Schauens“ her. Nach Bergson, auf den hier wahrscheinlich Bezug genommen wird, erschließt sich die Wahrheit nicht durch den Intellekt, sondern allein durch „Intuition“.17
Einen aktualisierenden Akzent anderer Art setzt Annette Kolb gleich zu Beginn des ergänzenden Essays zu ihrer Übersetzung der Briefe der „reformkatholischen Heiligen“18 Caterina von Siena 1906:19 „Denn wir sind heute so weit wie zuvor: Der Protestantismus wird seiner nicht mehr froh, und die Norm der Katholiken, durch zuviel gescheiterte Reformversuche eingeschüchtert, hat den Glauben an eine römisch-katholische Reformation verloren, jene Reformation, die Catharina nicht müde wird zu verkünden (...). Und wenn heute unsere katholischen Gesellschaften, Vereine usw. ihre fortschrittlichen Bestrebungen verheißen, so belächeln wir im voraus die kümmerlichen Resultate, die sie uns bringen werden. Da dringt denn zu guter Stunde die kühne Sprache Catharinas wie ein frischer Luftzug in eine verbrauchte Atmosphäre.“ (F 111)
Geheimer Mittelpunkt des Essays ist der Gedanke einer evolutionären Perspektive des Christentums, das sich erst allmählich zu seiner vollen Gestalt entfalte. So erklärt Annette Kolb die „extremen“ Selbstkasteiungen der Heiligen als Solidarität mit dem trauernden, nicht dem verklärten Christus angesichts einer Zeit der allgegenwärtigen „Leiden“ und „Grausamkeiten“ in Gesellschaft und Kirche (F 116 f.), „in welcher die Gemüter vom Geist des Christentums noch so wenig umbildet waren“ (F 118). Die eigene Epoche deutet sie als eine Inkubationsphase, einen Zustand jenseits dieser „Greuel“, aber noch nicht unter den „apollinischen Klängen“ des „rätselvollen Auferstehungstages“: „Es ist (...), als träte nunmehr die Welt in das Zeichen der Grablegung, und als dämmerte unsere Zeit, oder die nächstkommende, oder die kommenden Jahrhunderte dem beruhigten, ahnungsvollen Zauber der Kartage entgegen.“ (F 119)
Für Annette Kolb nimmt Caterinas „Mystik“ von Gott ihren Ausgang, „deren Ziel“ sei jedoch „die Menschheit“ (F 128). In diesem Zusammenhang wird das Jesuswort aus Joh 10, 34 von der Autorin mit einer besonderen anthropologisch-evolutionären Bedeutung aufgeladen: „Ihr seid Götter!“ (F 129) Noch anderswo kehrt es in ihren Arbeiten wieder. Sie sieht darin eine über den Menschen und seine individuellen wie geschichtlichen Entwicklungsmöglichkeiten kraft seines Ursprungs und der „Anrede“20 Gottes ausgesprochene Verheißung.
Einen weiteren Anknüpfungspunkt für die Gegenwart arbeitet Annette Kolb bei Caterina heraus: Sie „wäre uns heute so stumm wie viele ihrer heiligen Genossen, die im Kalender stehen, wäre sie nicht als Frau so unvergänglich – modern bis in die Fingerspitzen –, als ,Frauenrechtlerin‘ vielleicht die einzige, die ganz unserem Geschmack entspricht“, was sich etwa darin zeige, „wie sie (...) mit aller Konvention bricht“ (F 129). In der Theologie werden solche Aspekte bekanntlich erst in ferner Zukunft aufgenommen.






