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Max Scheler ist heute in erster Linie durch sein Hauptwerk „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ (1913/16) bekannt, in dem er als Kritiker einer formalistischen Ethik nach dem Modell Kants und als Vertreter eines ethischen Personalismus auftritt, sowie durch den kurz vor seinem Lebensende verfassten programmatischen Aufsatz „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928), heute ein klassischer Text der Philosophischen Anthropologie. Diese beiden Werke allein reichten aus, ihm einen unbestrittenen Platz im Kanon philosophischer Autoren zu sichern. Doch Scheler hatte prägenden Einfluss weit darüber hinaus: Er war eine Leitfigur der aufkeimenden phänomenologischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und hat diese entscheidend mitgeprägt. Auch auf dem Feld der damals jungen Wissenschaft der Soziologie hat Scheler mit seinen Schriften zur Wissenssoziologie wichtige Beiträge geleistet. Er befasste sich ausführlich mit Metaphysik, Erkenntnistheorie und Logik. Sozialkritisch setzte sich Scheler mit dem kapitalistischen Geist und der bürgerlichen Kultur seiner Zeit auseinander und trat für einen christlichen Sozialismus ein. Seine Untersuchungen zur philosophischen Bedeutung des Fühlens, die heute besonders an Aktualität wiedergewonnen haben, sind vor allem hervorzuheben. Dazu gehören seine Studie „Wesen und Formen der Sympathie“ (1923) und kleinere, zum Teil erst im Nachlass veröffentlichte Schriften wie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (1912), „Reue und Wiedergeburt“ (1917), „Über Scham und Schamgefühl“ (1913) und „Ordo Amoris“ (1914 – 16).
Schließlich erschloss er mit seinen Schriften zur Religion den durch den Kulturkampf nach der Reichsgründung geprägten Katholizismus, der seit Jahrzehnten einem engen Neuthomismus und Lagerdenken verhaftet war und den Anschluss an die aktuellen geistigen Diskussionen verloren hatte, der philosophischen Avantgarde. Diese Zeit seines Wirkens, die mit turbulenten Entwicklungen in seinem Privatleben zusammenfällt, wird als Schelers „katholische Phase“ betrachtet und soll im Zentrum dieses Aufsatzes stehen.
Zuvor jedoch noch ein Blick auf die Frage, warum man Scheler heutzutage trotz seines unbestrittenen Einflusses auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts wenig und oft nur oberflächlich kennt.
Ein beschwiegener Philosoph
Dass Schelers Philosophie im Unterschied zu derjenigen seiner Zeitgenossen Husserl und Heidegger, mit denen zusammen er das Dreigestirn der deutschen Philosophie der Zwischenkriegsjahre gebildet hatte, verblasste, lag nicht zuletzt an den politischen Zeitläuften.
Scheler erlitt gewissermaßen ein Emigrantenschicksal, ohne selbst Emigrant gewesen zu sein. Als er 1928 starb, war ein großer Teil seiner Schriften unveröffentlicht, und die Erwartungen an den Nachlass waren hoch, vor allem, da Scheler selbst immer wieder das baldige Erscheinen umfangreicher Werke angekündigt hatte. Unter der Führung Martin Heideggers fand sich ein Kreis von Kollegen und Freunden zusammen, um die Herausgabe der Nachlassschriften einzuleiten, darunter Paul Landsberg, Walter Otto, Adhemar Gelb, Alexander Koyré und Richard Oehler. Anfang 1933 konnte ein erster Band nachgelassener Aufsätze erscheinen. Nach der Machtübernahme der Nazi-Regierung jedoch gab es einen Einschnitt: Scheler war Halbjude. Seine Werke durften nicht neu aufgelegt werden, Forschungen zu Scheler wurden unterbunden, der Herausgeberkreis zersprengt: Sowohl Gelb als auch Landsberg, der zunächst nach Frankreich flüchtete, kamen in Konzentrationslagern um.2
Scheler konnte in Deutschland nur noch ohne Namensnennung zitiert werden, was zur Folge hatte, dass sein Werk anonymisiert wurde. Seine Ideen wurden in breiten Kreisen zwar weiterhin tradiert und rezipiert, doch geriet er in die Rolle eines verschwiegenen Philosophen, dessen Ideen als Steinbruch dienten, ohne dass ihre Herkunft offengelegt war.
Nach dem Krieg gelangte Schelers Werk im aktuellen philosophischen Diskurs der Nachkriegszeit nie mehr nachhaltig zur Geltung. Zudem gestaltete sich die Neuherausgabe seiner Werke schwierig, und das oft angekündigte Opus magnum,3 auf das seine Verehrer lange gewartet hatten, fand sich im Nachlass nicht.
Es gab schon zu Schelers Lebzeiten die Tendenz, seine philosophische Qualität zu unterschätzen und die für seine Texte typischen Merkmale, wie aphoristischer Schreibstil, plötzlicher Abbruch von Gedankengängen, Unvollständigkeit der Schriften, Abschweifungen, Mangel an exakten Definitionen, seine diversen philosophischen Kehrtwendungen, als Ausweis des Feuilletonismus seines Denkens zu interpretieren. Aus heutiger Sicht könnten diese Schwächen jedoch auch als Zeichen von dessen Aktualität gelesen werden – weniger als Indizien mangelnder Wissenschaftlichkeit, sondern als Spiegelungen der Fragmentierung der modernen Welt, als Dokument des geistigen Aufbruchs der Zwischenkriegszeit, von der man zu behaupten geneigt ist, sie sei überhaupt die einzig moderne Zeit des vergangenen Jahrhunderts gewesen.
Vieles spricht dafür, dass ein neugieriger Blick auf Scheler sich lohnt. Nicht nur, weil seine Werke nun komplett zugänglich sind – die Herausgabe der Gesammelten Werke inklusive der Nachlassschriften ist vollendet –, sondern weil auch seine Themen – Philosophische Anthropologie, Auseinandersetzung mit Wertfragen, Fragen nach dem Stellenwert des Fühlens für das menschliche Denken und Verhalten – an Aktualität gewonnen haben. Hier hat Scheler in vielen Punkten immer noch einen Denkvorsprung, der von der aktuellen Diskussion erst noch eingeholt werden muss.
„Ganz erfüllt von katholischen Ideen“
War Max Scheler ein katholischer Intellektueller? Er selbst hätte diese Etikettierung für sich vermutlich abgelehnt. In einem Brief an Ernst Troeltsch vom 6. Juli 1917, in dem es um die Frage eines möglichen „katholischen“ Lehrstuhls für ihn geht, distanziert er sich von diesem Gedanken: „Denn ich pflege, wie meine rein philosophischen Bücher klar zeigen, auf schärfste [!] den rein philosophischen und voraussetzungsfreien Standort der Vernunft von dem des Glaubens und Bekennens in meinen methodischen Intentionen und meist schon in der Form meiner Publikationen zu unterscheiden. Ich darf daher freundlich bitten, meine rein philosophischen und meine mehr oder weniger publizistisch gefärbten Veröffentlichungen auch in Lektüre und Aufnahme ebenso scharf zu scheiden, als ich es in der Produktion zu tun pflege.“4
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese strenge Trennung von den Rezipienten seiner Schriften nachvollzogen wurde. Fest steht, dass Scheler während der Kriegsjahre, spätestens ab 1915, nach der Veröffentlichung des Aufsatzes „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg“ in der Zeitschrift „Hochland“ als Exponent des Katholizismus galt. Nicht zuletzt aufgrund dieser Rolle wurde er von Kölns Bürgermeister Konrad Adenauer 1919 als Direktor an das Institut für Sozialwissenschaften geholt und erhielt endlich seine ersehnte Professur an der jungen Kölner Universität in Philosophie und Soziologie. Wenige Zeit später jedoch schon, um das Jahr 1923, erfolgte der Bruch Max Schelers mit der katholischen Kirche.
Von seinen Kritikern war Scheler immer wieder unterstellt worden, seine Identifikation mit der katholischen Kirche sei nur äußerlich und erfolge aus taktischen Gründen, um eine Professur zu erhalten. Tatsächlich war Max Scheler, obwohl getauft, nur kurze Zeit praktizierender Katholik. Doch schon vorher, so schreibt Edith Stein, die ihn um das Jahr 1910 im Phänomenologenkreis um Husserl in Göttingen kennenlernte, war er „ganz erfüllt (...) von katholischen Ideen“ und verstand es, „mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt für sie zu werben (...) Die Schranken der rationalistischen Vorurteile fielen (...) und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir“.5 Nicht nur Edith Stein, auch andere Personen seines Bekanntenkreises wie seine zweite Frau Märit Furtwängler, Dietrich von Hildebrand, Peter Wust und Otto Klemperer haben durch Scheler den Anstoß bekommen, zum katholischen Glauben zu konvertieren.
Wie ist dies nun vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Scheler selbst 1923 behauptete, dass er sich nach den „strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche (...) einen ,gläubigen Katholiken‘ zu keiner Zeit seines Lebens und seiner Entwicklung nennen durfte“?6 Sein engster Freund, Dietrich von Hildebrand, urteilte, Scheler sei selbst in seinen gläubigsten Phasen stets ein „Outsider“ geblieben, obwohl das „katholische Gedankengut, soweit es sich auf natürliche Fragen erstreckt“, stets der Angelpunkt seines Lebens und Denkens gewesen sei.7 Diese Befunde müssen vor dem Hintergrund von Schelers Biographie und seiner persönlichen und philosophischen Entwicklungen gelesen werden, stehen aber auch im Zusammenhang der politischen Ereignisse im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts.
Frühe Erfahrungen
Max Scheler stammte nicht aus einem katholischen Elternhaus, sondern besaß eine gemischt konfessionelle Herkunft. Er wurde am 22. August 1874 in München geboren. Sein Vater Gottlieb (1831 – 1900) war evangelisch, seine Mutter Sofie (1844 – 1915) orthodox jüdisch. Sie stammte aus der in München alteingesessenen jüdischen Familie Fürther. Auf ihr Drängen gab der als charakterschwach geschilderte Vater seine Stelle als Gutsverwalter auf Gut Hörlasreuth bei Bayreuth auf, um in die bayerische Hauptstadt zu ziehen. Dort wurde Max streng orthodox erzogen, im Sinne seines reichen Onkels Hermann Fürther, dessen Erbe er nach dem Willen seiner Mutter antreten sollte. Sie soll eine sehr schöne, aber auch strenge und gefühlskalte Frau gewesen sein.
Claire Goll, die Cousine Schelers, schildert in ihren autobiographischen Texten „Der gestohlene Himmel“ und „Ich verzeihe keinem“ das Familienklima der Fürthers als dominiert von Angst. Die kleinste Kleinigkeit genügte, um übermäßigen Strafen ausgesetzt zu werden. Sie berichtet von einer krankhaften Versessenheit ihrer Mutter auf körperliche Misshandlungen, was von der Familie gebilligt wurde. Sie selbst entfloh dieser Familie so bald wie möglich durch eine frühe Heirat.
Von Max Scheler weiß man, dass er als verwöhnter Sohn und Erbe erzogen wurde. Seiner von ihm heiß geliebten jüngeren Schwester Hermine jedoch stand seine Mutter abweisend gegenüber: Aufgrund der Familiengeschichte ist es gut möglich, dass sie eine ähnliche Kindheit zu erdulden hatte wie Claire Goll. Mit sechzehn Jahren nahm sie sich 1903 zusammen mit ihrem Verlobten das Leben. Wenngleich Scheler selbst wohl keinen Misshandlungen ausgesetzt war, so gibt es doch eine Art Missbrauch, der in der Luft liegt, der ihm sicher nicht entgangen ist, dem er aber als Kind wohl hilflos gegenüber stand. Die Schuld- und Unwertgefühle, die Scheler sein Leben lang verfolgten, deuten darauf hin. Dies könnte jedenfalls eine Erklärung für Schelers frühe Abwendung von seiner Mutter und seiner Familie und der in ihr praktizierten Religion bilden.
Offiziell wurde Scheler erst 1899 katholisch getauft, stand dem katholischen Glauben, der in seiner barocken bayerischen Ausprägung im damaligen München allgegenwärtig war, jedoch schon seit seiner Schulzeit nahe. Angeblich waren es Erfahrungen mit Maiandachten, in die ihn Dienstmädchen als Junge mitgenommen hatten, und das dort empfundene warme Gemeinschaftsgefühl, das ihn am katholischen Glaubensleben faszinierte. Dies mochte ihn vor dem Hintergrund der kühlen Familienatmosphäre besonders angezogen haben.
Er galt als begabter, aber fauler Schüler und schaffte mit Mühe 1894 das Abitur am Münchener Ludwigsgymnasium. Kurz danach lernte er auf einer Reise nach Tirol seine spätere Frau kennen, Amélie von Dewitz-Krebs. Sie war sieben Jahre älter als er, hatte eine siebenjährige Tochter und lebte schon längere Zeit von ihrem Mann getrennt. So studierte Scheler zwei Semester Medizin in München, folgte dann aber Amélie 1895 nach Berlin. Dort belegte er hauptsächlich Kurse bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Die Idee, Medizin zu studieren, entstammte wohl einem echten Interesse: Er befasste sich sein ganzes Leben lang vor allem mit Fragen der Psychopathologie, kannte viele Mediziner und Naturwissenschaftler persönlich und war gut über den Stand der biologischen und physikalischen Forschung seiner Zeit informiert.
1896 verließ Scheler Berlin, um in Jena bei Rudolf Eucken Philosophie zu studieren.8 Hier erfolgte eine erste produktive Phase seines philosophischen Schaffens. 1899 erschien in der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik“ (Bd. 11, 4/2) Schelers erste selbstständige Veröffentlichung, der Aufsatz „Arbeit und Ethik“. 1899 wurde seine Dissertation „Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien“ veröffentlicht, 1900 seine Habilitationsschrift „Die transzendentale und psychologische Methode“. Zentrale Problemkreise der Philosophie Schelers, die dazu führten, dass seine in der frühen Jugend begonnene Annäherung an die katholische Kirche für etliche Jahre mit seiner philosophischen Entwicklung zusammenfloss, lassen sich bis in diese Phase der Frühschriften zurückverfolgen.
Die Bedeutung der Liebe
Seine Philosophie war von dem Motiv bestimmt, Denken und Leben zu versöhnen, sowie die Eigenart des menschlichen Geistes sowohl hinsichtlich formalistischer Engführungen als auch psychologistischen Reduktionismen gegenüber zu bewahren. Mit Nietzsche, den er intensiv studiert hatte, glaubte Scheler nicht mehr, dass Rationalität sich rein aus sich selbst begründen könne, ohne in letzter Instanz irrational zu werden. Daher wollte er durch den Aufweis der Aporien einer rationalistischen Ethik die Inadäquatheit des zugrunde liegenden Konzepts menschlicher Rationalität zeigen. Es ging ihm um einen Vernunftbegriff, der alle ethischen Phänomene integrieren kann, ohne seine Rationalität um scheinbar notwendig a-rationale Lücken herum aufzubauen. Dass sowohl der Psychologismus als auch der Rationalismus Grundprobleme der Ethik nicht befriedigend lösen können, lag in Schelers Perspektive daran, dass sie die emotional-werthaften Phänomene menschlichen Erlebens nicht richtig integrieren.
Indem Scheler in späteren Schriften den Kern des Geistes als Liebe qualifizierte, erschien das Problem der Integration emotional-werthafter Konstituentien konzeptionell lösbar: Liebe ist ein Anderes als Erkennen, aber sie ist gleichzeitig auf das Erkennen bezogen, ja sogar die Bedingung der Möglichkeit einer wahrhaft objektiv sachbezogenen Stellung zur Welt überhaupt. Die heimliche Quelle der Achtung der Vernunft ist für Scheler die Fundierung des Verstehens in einer ethischen Stellungnahme. Sie beruht für ihn auf der untergründigen, stillschweigenden Voraussetzung, dass der wahren Ansicht der Dinge die respektvolle Erfassung des ihnen von sich selbst her zukommenden, auf sie selbst verweisenden Wertes vorhergehen muss.
Auch anthropologisch schrieb Scheler der Liebe zentrale Bedeutung zu. An die Stelle der Selbstinterpretation des Menschen als animal rationale, als durch rationale Reflexion spezifiziertes Lebewesen, trat seine Deutung als ens amans, als Wesen, das durch die Fähigkeit zu einer ethisch-liebenden Einstellung gekennzeichnet ist.
Scheler sah den Geist in der affektiv-ethischen Befähigung des Menschen fundiert, das Seiende distanziert in seinem Selbstwert und nicht nur unter der Rücksicht eines bestimmten Interesses wahrzunehmen. Für ihn konstituierte sich dadurch eine innere Würde der Vernunft.
Von daher war er bestrebt, den Begriff der Person von einem rein rationalen Begründungszusammenhang abzukoppeln und auf der Ebene ethischer Vollzüge zu verankern. Dazu bedurfte es eines integrativen Konzepts geistiger Fähigkeiten des Menschen, in dem auch außervernünftige Faktoren, wie z. B. Gefühle, ihr kognitives Recht erhalten, das aber nicht in Psychologie oder Biologie aufgeht.
Ein solches Konzept zu entwerfen war ein Grundanliegen von Schelers Philosophie, und hier traf er sich auf organische Weise mit dem von Hildebrand beschriebenen echt katholischen Gedankengut. „Es geht in keiner Weise an, das alles als ,Katholisieren‘ zu bezeichnen, als bloß gelegentliches Kreuzen mit katholischen Gedankengängen.“9 Für ihn und viele andere stellte Schelers Philosophie eine Wiedereroberung und Neugewinnung katholischer Glaubensinhalte dar, indem er zentrale Punkte der klassischen christlichen Ethik zum ersten Mal ausdrücklich philosophisch fasste. „Dinge, die für die aszetisch-mystische Literatur unserer heiligen Kirche längst selbstverständlich sind, denen man aber doch nie philosophisch ganz gerecht wurde.“10
Private Turbulenzen
Zurück zu Schelers weiterem Werdegang: Nach den ersten Veröffentlichungen begann er sich in Jena zu etablieren, und die von ihm angestrebte akademische Karriere schien so gesichert, dass er 1899 die nunmehr geschiedene Amélie heiratete. Kurz danach begann die Krise. Mindestens ein Sohn, vielleicht aber auch zwei Kinder aus dieser Ehe starben sehr früh, bevor 1905 der Sohn Wolfgang Heinrich geboren wurde. 1922 schrieb Amélie Dewitz-Krebs an Schelers zweite Frau, Märit Furtwängler, die die Kinder, die sie sich mit Scheler gewünscht hatte, nicht bekommen konnte: „Wie gut, daß nicht meine zwei anderen Kinder, die ich mit meinem Manne hatte, leben, wie gut, daß Sie keine Kinder haben, da ihr Gatte Lärm und sonstige Störungen, wie sie auch die besten Kinder mit sich bringen, nicht ertragen kann.“11
Vermutlich nicht zuletzt durch den Verlust zweier Kinder war das Nervenkostüm Amélies in der Jenaer Zeit zerrüttet bis zur Hysterie. Schließlich rief sie aus Eifersucht einen Eklat hervor, als sie die Frau des Verlegers Diederichs, die sie verdächtigte, ein Verhältnis mit ihrem Mann zu haben, auf einem Gesellschaftsabend öffentlich ohrfeigte. Amélie kam in psychiatrische Behandlung, und Scheler ließ sich mitten im Wintersemester 1905/06 zur Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten für ein Jahr beurlauben. Er knüpfte Kontakte nach München, und es gelang ihm, eine Umhabilitation zu erreichen. Amélie folgte Scheler mit dem Sohn nach München, doch eine Versöhnung scheiterte. 1907 reichte Scheler erstmals die Scheidung ein, zog sie aufgrund des angegriffenen Gesundheitszustandes seiner Frau aber wieder zurück. Ab 1908 lebte das Ehepaar getrennt.
In München vollzog sich Schelers Wandlung zum Phänomenologen. Scheler selbst nennt zwar als ausschlaggebend für seinen Weg in die Phänomenolgie seine erste Begegnung mit Husserl 1902 in Halle. Einflussreicher war aber wohl eher der Kontakt zu einem Schülerkreis von Theodor Lipps, der eine relativ eigenständige, eher gegenstandsorientierte Form der Phänomenologie entwickelte, später als „Münchener Phänomenologie“ bezeichnet.
Kaum hatte Scheler sich in München eingelebt, folgte die nächste Krise: 1908 wurde er Opfer einer Pressekampagne, die von Amélie und ihrer Mutter ausgelöst wurde. Amélie behauptete, er habe eine Frau in seiner Begleitung bei einem Kuraufenthalt als seine Ehefrau ausgegeben und er habe sich von einem Studenten Geld geliehen. Diese Vorwürfe wurden in der Presse aufgebauscht und als unvereinbar mit der Würde eines Professors dargestellt. Sie entbehrten zwar größtenteils der Grundlage, führten aber dennoch zum gesellschaftlichen Ruin. Mit der Absicht, sich in einem Prozess zu rehabilitieren, bat Scheler den Senat der Münchener Universität um Enthebung von seiner Stelle, um die Universität nicht mit hineinzuziehen. Er bekam diese Enthebung mit der Zusage, dass sie nach dem Prozess zurückgenommen werde.
In der Zwischenzeit hatte er aber seine neue Liebe Märit Furtwängler kennengelernt, deren Mutter das Verhältnis zu dem 17 Jahre älteren Mann sehr missbilligte. Um die in München sehr bekannte Familie Furtwängler nicht zu kompromittieren, verzichtete Scheler auf den Prozess. Die diffamierenden Behauptungen blieben in der Welt, und die Aufhebung der Venia legendi wurde nicht zurückgenommen. Nach seiner Heirat mit Märit 1912, die ihre hohe Mitgift Schelers erster Frau als Preis für die Einwilligung in die Scheidung überlassen musste, stand Scheler völlig mittellos da. Doch obwohl ihm nun der Weg einer akademischen Karriere verbaut schien, folgte eine sehr produktive Zeit. Er begann 1913 die Veröffentlichung seines Hauptwerks, der Ethik, wurde Mitherausgeber des von Husserl gegründeten „Jahrbuchs für Philosophie und Phänomenologische Forschung“, veröffentlichte Studien zum Sympathiegefühl, zum Ressentiment und andere Aufsätze.
Die antikapitalistische Mission der Kirche
Der Beginn des Ersten Weltkriegs läutete eine neue Phase der Beziehung Schelers zur katholischen Kirche ein. Zunächst entfachte dieses Ereignis in ihm, wie in vielen anderen deutschen Intellektuellen, ein unvermutetes patriotisches Feuer. Er veröffentlichte die Schrift „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ (1914), in der er im Krieg einen revolutionär kulturkritischen Wert freizulegen suchte. Die moralische Dekadenz Europas, bewirkt durch den kapitalistischen Geist und die ihm verfallenen Denk- und Gesellschaftsformen, sah er durch die Macht des Krieges entlarvt, den er als schrecklich genialische Möglichkeit verstand, erneuernde Kräfte zu entbinden.
Diese Schrift wurde von vielen seiner Berliner Bekannten wie Max Brod, Franz Werfel, Martin Buber und Arnold Zweig mit Entsetzen und scharfer Kritik aufgenommen. Gleichzeitig begründete sie schlagartig Schelers Ruhm als Publizist. Hatte er zwar vorher in der akademischen Welt mit seinen Arbeiten gewisse Spuren hinterlassen, so existierte Scheler jedoch für die meisten Deutschen vor der Veröffentlichung seiner Eulogie des Krieges nicht. Für viele Menschen der Kriegsgeneration war nunmehr diese Schrift Schelers der treffende Ausdruck des Geistes von 1914, des Taumels eines unverhofften Gemeinschaftsgefühls, dem sich die Deutschen größtenteils willenlos ergaben.
Neue Aufsätze Schelers wurden von der Öffentlichkeit von da an begierig erwartet, und sie wurde nicht enttäuscht. Es entstand eine Reihe national-pädagogischer Schriften wie „Die Ursachen des Deutschenhasses“, „Reue und Wiedergeburt“, „Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt“, „Vom kulturellen Wiederaufbau Europas“ usw. Nicht zuletzt war Scheler auch auf die Einnahmen seiner Kriegsschriften angewiesen, um sich finanziell über Wasser zu halten.
Tatsächlich hielt der Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate bei ihm nicht lange vor. Im Vorwort zur zweiten Auflage 1916 distanzierte er sich von seinem Werk, wollte es nur noch als Dokument „der Gesinnung und der Gedanken, die uns zu Beginn des großen Krieges beseelten“,12 gelten lassen. Die eigentliche Aufgabe bestand nun für ihn „in der Gewissenserforschung des deutschen Wesens über sich selbst und über die europäischen Geisteszustände, die zu diesem Kriege als dem moralisch furchtbarsten, blutigsten und schmerzensreichsten Ereignis aller uns bekannten europäischen Geschichte geführt haben“.13
Dieser Aufgabe widmete sich die kurz darauf erschienene Aufsatzsammlung „Krieg und Aufbau“ (1916). Nunmehr ließ das massenmörderische Geschehen für ihn keinen politisch und wirtschaftlich tieferen Sinn mehr erkennen, sondern rief nach einer gesamteuropäischen Revolution und Neuaufbruch. Alle kriegführenden Staaten müssten sich aufgrund des Krieges den Aufgaben der Läuterung, der Reue und Umkehr, der geistigen Erneuerung stellen.
Diese Aufgabe wies Scheler der katholischen Kirche zu. In ihr sah er die kulturellen Kräfte und Möglichkeiten, den Kapitalismus und seine Lebensformen, die letztendlich zum Krieg führten, zu bekämpfen, und er entwickelte die Idee eines christlichen Sozialismus als Antikapitalismus. Damit eröffnete er, als Außenstehender, den deutschen Katholiken Denkweisen und Handlungsoptionen, die sie selbst kaum zu formulieren gewagt hätten, und half damit dem deutschen Katholizismus aus der engen Position, in die ihn der Kulturkampf gebracht hatte, herauszuführen. In der unterdrückten, in die Enge getriebenen Kirche sah Scheler politisch oppositionelle Alternativen zum kapitalistischen Geist, womit er ihr eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung Europas zuwies.
Schelers Kernthese war, dass der kapitalistische Geist die Ursache der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei und nicht umgekehrt das kapitalistische System der ökonomischen Besitzverteilung die Ursache des kapitalistischen Denkens. Kapitalismus verkörperte für ihn an erster Stelle ein Lebens- und Kultursystem und erst an zweiter Stelle eine Form der ökonomischen Besitzverhältnisse. Im christlichen Sozialismus, in dessen Zentrum der Gedanke der wechselseitigen Solidarität aller für alle zu stehen habe, sah Scheler einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Da er den Protestantismus als zu sehr mit dem Geist des Kapitalismus verflochten verstand, war die katholische Kirche dazu berufen, diese Aufgabe zu leisten.






