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Zu Beginn des Krieges ging Scheler selbstverständlich davon aus, dass die kulturelle Erneuerung und die Verwirklichung seiner Ideen politisch durch einen Sieg der Mittelmächte verwirklicht würden, weswegen er von der Berliner Propagandastrategie im Sinne einer psychologischen Kriegführung eingespannt wurde – und sich dafür auch einspannen ließ.
Im Auftrag der Auswärtigen Amtes hielt er in neutralen Staaten, vor Kriegsgefangenen und vor allem in katholischen Kreisen, Vorträge, die der deutschen Seite Sympathiepunkte verschaffen sollten. Scheler war in diesen Jahren zum Sprecher katholischen Geistes innerhalb und außerhalb Deutschlands geworden.
Die Kriegsjahre führten jedoch auch zu einer Neubelebung seines religiös-praktischen Interesses. Trotz seiner Taufe 1899 war Scheler bis dahin kein praktizierender Katholik gewesen. Seit 1915 hatte er intensiven Kontakt zu den Benediktinerklöstern Beuron und Maria Laach und nahm dort am mönchischen Leben teil. Franz von Assisi war für ihn zu dieser Zeit die Vorbildgestalt des Heiligen, dem gegenüber der Philosoph an die zweite Stelle rücken musste. In Schelers Philosophie, in der das Erkennen durch Liebe fundiert ist, wurden die Grenzen zur christlichen Religion, die das Wesen Gottes als Liebe und die höchste Form religiöser Praxis als Mit-Lieben versteht, fließend. Es war die Phase in Schelers Philosophie, in der er mit seinen Ideen der katholischen Kirche am nächsten stand.
Zu Ostern 1916 legte er in Beuron die Beichte ab und ging zur Kommunion, womit seine Aufnahme in die katholische Gemeinschaft als praktizierender Gläubiger versinnbildlicht werden sollte. Auch seine Frau Märit trat in diesem Jahr zum katholischen Glauben über. Franz Xaver Münch, ein katholischer Geistlicher, mit dem Scheler in Köln befreundet war, schilderte ergriffen die religiöse Hingabe, zu der Scheler fähig war: „Gestern war ich mit ihm in Kevelaer, das heißt, er nahm mich mit. Er hat fast eine volle Stunde in tiefster, ergreifendster, kindlicher Hingabe vor dem Gnadenbild gelegen (...). Ich war ganz ergriffen und gedemütigt von einer so starken religiösen Leidenschaft.“14
Die Abwendung
Nach dem Krieg war Scheler eine bekannte Figur geworden, so dass die Auswirkungen des alten Münchener Skandals verblassten. Mit seiner Berufung nach Köln 1919 war Scheler akademisch praktisch rehabilitiert. Man mochte meinen, als stünde der von ihm ersehnten wohlsituierten, ruhigen Existenz als Universitätsprofessor nichts mehr im Weg. Es scheint jedoch ein fatales Muster in Schelers Leben zu geben, dass in dem Moment, in dem sein Leben endlich in ruhigeren Bahnen zu verlaufen sich anschickt, eine Krise eintritt, die sowohl sein persönliches Leben als auch seine philosophischen Einstellungen umwälzt.
Kurz nach dem Umzug der Familie nach Köln lernte Scheler bei einer Abendveranstaltung die 27-jährige Maria Scheu kennen, eine reizvolle junge Frau, und verliebte sich hoffnungslos in sie. Dennoch wollte er zunächst an seiner Ehe mit Märit festhalten. Er schlug ihr eine Ehe zu dritt vor, wobei Märit als Ehegenossin fungieren sollte und Maria als die Geliebte. Seine Zerrissenheit zwischen den beiden Frauen führte schließlich 1920 zu einem ersten Herzanfall. 1923 konnte Märit Schelers Entscheidungsunfähigkeit nicht mehr ertragen und verließ ihn. Die Ehe wurde noch im gleichen Jahr geschieden, und im Jahr darauf heiratete Max Scheler Maria Scheu. Zeitlebens blieb er jedoch mit Märit in engem brieflichen und persönlichen Kontakt.
Mit dieser nunmehr dritten Ehe war Scheler als Repräsentant des Katholizismus untragbar geworden. Der Erzbischof von Köln hatte Bedenken gegen diesen Moralisten, den er nicht mehr für geeignet hielt, seine Seminaristen an der Universität zu unterrichten. Scheler, zur Unterredung mit dem Bischof gebeten, wies diese Kritik mit den berühmten Worten ab: „Der Wegweiser geht selbst nicht an den Ort, zu dem er führt.“15
Es gärte in Scheler. Im Aufsatzband „Vom Ewigen im Menschen“ 1921 wurden zwar nochmals wesentliche Züge seiner Philosophie, die originär katholischem Gedankengut entsprachen, veröffentlicht: Die Philosophie steht in einem religiösen Rahmen, der personale Gott gilt als oberster Grund des Seins. Doch bald darauf entfernte sich Schelers Denken zunehmend von der katholischen Kirche. 1923, im Vorwort zur Neuherausgabe des Aufsatzes „Christentum und Gesellschaft in Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre“ sagte er sich quasi öffentlich von ihr los. Dieser Akt machte Scheler im katholischen Milieu viele Feinde. Nicht wenige, die erst unter dem Eindruck seiner Schriften katholisch geworden waren, wie zum Beispiel sein treuer Freund Dietrich von Hildebrand, distanzierten sich von ihm und fühlten sich verraten. Aus dieser Enttäuschung ist die teils polemische Kritik verstehbar, die Scheler von nun an häufig von katholischer Seite entgegengebracht wurde.
Doch Schelers Themen hatten sich verändert. In den Kölner Jahren gehörte sein Interesse zunehmend sozial- und naturwissenschaftlichen Studien, die er selbst letztlich als Vorarbeiten für eine groß angelegte Metaphysik und Anthropologie auffasste. Der Rahmen der katholischen Lehre wurde ihm dabei zwangsläufig zu eng. Bei aller Sympathie für katholisches Denken lag es nie in Schelers Natur, sich einer von ihm erwarteten Geisteshaltung zu unterwerfen, philosophisch ebenso wenig wie privat.
Scheler wandte sich vom Konfessionalismus der Kirche ab und positionierte sich nunmehr eindeutig außerhalb ihrer. 1928 formulierte Scheler, er halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die geistige Elite – und zu dieser zählte er sich zweifellos – „in strenger Übereinstimmung mit den Satzungen irgendeiner positiven Kirche stehen und gleichzeitig den Forderungen der Weltstunde gerecht werden kann“16, ohne diese Satzungen so zu verbiegen, dass der bloße Schein einer Übereinstimmung bestünde. Seine neue Überzeugung war, dass die Elite sich keiner positiven Kirche verschreiben dürfe. Dabei verstand Scheler sein eigenes Verhältnis zur Religion und seine eigene religiöse Position keineswegs als ungläubig, agnostizistisch oder atheistisch. Solche Einstellungen hielt er für pseudoreligiöse Surrogate.
Im Hintergrund steht vielmehr, dass für Scheler nun die Metaphysik an die Stelle der Religion getreten war. „Daß die falschen Glaubenssicherungen fielen, daß ich meine ernste, mutige, realistische und doch gläubige und hoffende Metaphysik gefunden – viel ernster wurde, wirklichkeitsnäher und entschlossener in Allem – des bin ich froh.“17
Nur in der durch sie vermittelten Idee eines göttlichen Weltgrundes, in dem die den Menschen und die Natur prägenden Gegensätze von Geist und Leben und Idee und Macht durch den Lauf der Weltgeschichte geeint werden können, war für Scheler eine Versöhnung der politisch-sozialen Gegensätze vorstellbar. Sein neuer Entwurf eines werdenden, leidenden Gottes, der in Abhängigkeit vom Menschen durch zunehmende gegenseitige Durchdringung von Drang und Geist zu sich selbst kommt, ergab ein eher düsteres Weltbild, dem die Gefahr des Scheiterns inhärent ist.
Dieser ernüchterte Blick entsprach den tiefgehenden Veränderungen im privaten Bereich, die Schelers Scheidung ausgelöst hatten. Er fand in seiner dritten Ehe nicht zur Ruhe und litt an starken Schuldgefühlen gegenüber Märit, was ihn psychisch stark belastete. Er ließ sich nun des Öfteren von seinen Lehrveranstaltungen beurlauben, war trotz seiner angegriffenen Gesundheit viel auf Reisen und versuchte, von Köln, dessen geistiges Klima ihm zu provinziell erschien, wegzukommen. Getrieben von dem Gedanken, sein Werk nicht vollenden zu können, arbeitete er an seiner Anthropologie und Metaphysik und veröffentlichte Schriften zur Wissenssoziologie und Erkenntnistheorie. 1928 erschien die „Stellung des Menschen im Kosmos“, eine dichte Zusammenfassung seiner anthropologischen und metaphysischen Gedanken. Im selben Jahr erhielt er einen Ruf nach Frankfurt als Professor für Soziologie und Philosophie. Scheler freute sich auf die Aufgabe, schöpfte neuen Mut. Er hoffte auf Kontakte mit Cassirer, Mannheim, Adorno und Rudolf Otto.
Doch bevor er seine Lehrveranstaltungen aufnehmen konnte, erlitt Scheler in Frankfurt einen Herzanfall. Zwei Tage vor seinem Tod erfuhr Scheler, dass seine Frau schwanger war. Er, der sich immer sehnlichst Kinder gewünscht hatte, sich seinem ersten Sohn Wolf entfremdet hatte, erlebte die Geburt des Sohnes Max Georg nicht mehr. Er starb am 19. Mai 1928 mit 54 Jahren.
Märit setzte es zusammen mit seinem ehemaligen Beichtvater Robert Grosche durch, dass er in Köln ein katholisches Begräbnis erhielt (an dem Maria Scheler, die gegenüber der katholischen Kirche verbittert war, nicht teilnahm). War dies in Schelers Sinne? Vermutlich schon. Der harte Bruch mit der Kirche als Institution wurde von Seiten katholischer Kreise hauptsächlich auf Schelers Verhältnis mit Maria Scheu und die nachfolgende Scheidung und Wiederverheiratung zurückgeführt. Die Veränderung seiner philosophischen Ansichten wurde von daher als „Rechtfertigungen seiner Fehler“ abgetan.
Scheler selbst sah dies so: „Meine ideelle Entwicklung vom Katholizismus weg – die ich so sehr bejahe – wäre auch ohne diese Verwirrungen möglich gewesen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß diese neue Entwicklung mit dem Mariaereignis verbunden sei. Glaube mir, es ist ein Irrtum. Der Grundvorgang war rein religiös und sehr tief – und ich gehe immer weiter in dieser Wandlung.“18
Schelers Leben war geprägt von Konflikten und Krisen. Dabei sehnte er sich lebenslang nach Harmonie und Ausgleich. Er selbst beklagte seine Triebhaftigkeit, „meine innere Gebrochenheit, die dunkle und häßliche Wildheit meiner Natur, (...) meine erotische Verquertheit“,19 gegen die er sich nicht wehren konnte. Er erlebte sie als schuldhafte und demütigende Exzesse seines Charakters. Diese bezogen sich jedoch nicht allein auf den sexuellen Bereich. Scheler rauchte weit über 40 Zigaretten täglich und trank gut drei Liter Bier am Tag. Obwohl er wusste, dass er damit seine Gesundheit ruinierte, schaffte er es trotz intensiver Bemühungen nicht, sich einzuschränken. Mit der gleichen Unmäßigkeit warf Scheler sich auf Menschen und Ideen und ließ sie hinter sich, wenn Neues ihn fesselte.
Die katholische Kirche bot ihm für eine gewisse Zeit Halt und die Hoffnung auf Versöhnung seiner innerlichen Zerrissenheit. Er hat sie im Gegenzug reich beschenkt, auch wenn sie ihm auf Dauer nicht zur Heimat werden konnte. Das Ringen um einen Ausgleich aber gab er nie auf, nicht nur in seinem persönlichen Leben, sondern auch in seinem Werk, das die Umbruchstimmung und Zerrissenheit einer Gesellschaft in der Krise der Moderne in einer ungewöhnlichen Offenheit dokumentiert. Seine private Tragik besteht darin, dass er stets kurz vor dem Ziel scheiterte.
Schriften von Max Scheler: Gesammelte Werke. Hg. v. Maria Scheler (†) u. Manfred S. Frings. 15 Bde. Bern/München/Bonn 1954 – 1997.
Sekundärliteratur: Ralf Becker/Christian Bermes/Heinz Leonardy (Hg.): Die Bildung der Gesellschaft. Schelers Sozialphilosophie im Kontext. Würzburg 2007 – Christian Bermes/Wolfhart Henckmann/Heinz Leonardy (Hg.): Denken des Ursprungs. Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena. Würzburg 1998 – Dies. (Hg.): Person und Wert. Schelers „Formalismus“ – Perspektiven und Wirkungen. Freiburg i. Br. 2000 – Dies. (Hg.): Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens. Würzburg 2003 – Dies. (Hg.): Solidarität. Person und Soziale Welt. Würzburg 2006 – Manfred S. Frings: The Mind of Max Scheler. Milwaukee 1997 – Paul Good (Hg.): Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie. Bern 1975 – Hans-Hermann Groothoff: Max Scheler. Philosophische Anthropologie und Pädagogik zwischen den Weltkriegen. Hamburg 2003 – Wolfhart Henckmann: Max Scheler. München 1998 – Wilhelm Mader: Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1980 – Jan H. Nota: Max Scheler. Der Mensch und seine Philosophie. Fridingen a. D. 1995 – Ernst Wolfgang Orth/Gerhard Pfafferott (Hg.): Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs. Freiburg i. Br./München 1994 – Gerhard Pfafferott (Hg.): Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft. Bonn 1997 – Angelika Sander: Mensch – Subjekt – Person. Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers. Bonn 1996 – Dies.: Max Scheler zur Einführung. Hamburg 2001 – John R Staude: Max Scheler. An intellectual Portrait. New York/London 1967.
Adolf ten Hompel (1874 – 1943)
Adolf ten Hompel
Vom „Modernisten“ zum Nationalsozialisten
Jan Dirk Busemann
Adolf ten Hompel wurde im Jahr 1874 in wohlhabende Verhältnisse hinein geboren: Sein Vater August (1849 – 1919) war der alleinige Vorstand der Wicking’schen Portland-Cement- und Wasserkalkwerke, seine Mutter Henriette (1849 – 1922) die Tochter des Unternehmensgründers Adolf Wicking.1 Nach seiner Schulzeit in Recklinghausen führte ihn das Studium nach Freiburg i. Br., Würzburg, Berlin und Göttingen, er schloss es 1897 mit einer juristischen Promotion ab. Aus der Ehe mit seiner Frau Maria, geborene Strunck, gingen fünf Kinder hervor. Dass sein Name weit über die Grenzen seiner westfälischen Heimat bekannt wurde, verdankte ten Hompel einer Initiative, die er mit Anfang 30 ins Leben gerufen hatte.
Das Münsteraner Bittschriftunternehmen
Im Jahr 1906 hatte sich in Münster um ten Hompel, mittlerweile Assessor am Landgericht, ein Kreis von Laien zusammengefunden, mit dem Ziel, eine Bittschrift an den Papst zu verfassen und diesen zur Modifikation der kirchlichen Büchergesetzgebung zu bewegen. Zum einen sollte eine von ten Hompel entworfene Petition an Pius X. (1903 – 1914) gerichtet werden, zum anderen strebte er an, die organisierten Unterzeichner mit der Görres-Gesellschaft zu fusionieren, beziehungsweise eine „Christliche Kulturgesellschaft für die Organisation des Laienapostolats im Dienste der christlichen Weltanschauung“ zu gründen, falls die gewünschte Fusion scheitern sollte.2 Hintergrund für das Bittschriftunternehmen war die Indizierung der Hauptwerke Herman Schells (1850 – 1906)3 im Dezember 1898. Der Dogmatiker wurde durch seine beiden Reformschriften „Der Katholicismus als Princip des Fortschritts“ (1897) und „Die neue Zeit und der alte Glaube“ (1898) zur Symbolfigur eines Katholizismus, der darauf drängte, kulturtragende Kraft zu sein, statt sich in ein konfessionelles Ghetto zurückzuziehen. Ähnliche Bestrebungen wurden in verschiedenen Feldern des gesellschaftlichen Lebens artikuliert: Julius Bachem (1845 – 1914) strebte eine Öffnung der Zentrumspartei an, Karl Muth (1867 – 1944) forderte und förderte eine stärkere Beteiligung der Katholiken am nationalen Kulturschaffen, Georg von Hertling (1843 – 1919) wollte das Defizit der Katholiken in den Wissenschaften überwinden. Besonders gebildete katholische Laien sehnten sich nach „Parität“ und wollten die protestantisch dominierte Gesellschaft mitgestalten. Mit diesen Integrationsbestrebungen ging eine Emanzipation vom unmittelbaren Einfluss der kirchlichen Hierarchie einher, allerdings ohne dass dem Katholizismus an sich sein gestalterisches Potenzial für die Gegenwart abgesprochen wurde.
Mit der Forderung, die katholische Buchzensur zu reformieren, und mit der Gründung einer Kulturgesellschaft traf ten Hompel den Nerv der Zeit. Bei vielen katholischen Intellektuellen galt der „Index der Verbotenen Bücher“ als Hindernis für Wissenschaften und Literatur und stand damit ihrem Bedürfnis entgegen, in diesen Bereichen die schmerzhaft empfundene „Inferiorität“ des katholischen Bevölkerungsteils zu überwinden.
Für die Unterzeichnung der Petition bemühte man sich, namhafte Repräsentanten des katholischen Deutschlands zu gewinnen, war darüber hinaus aber an einer internationalen Vernetzung interessiert. So wurde etwa über Karl Muth der Kontakt zum italienischen Autor Antonio Fogazzaro (1842 – 1911) hergestellt, dessen Roman „Il Santo“ (Der Heilige), ein internationaler Bestseller, der reformkatholische Ideen transportierte, im April 1906 auf den Index gesetzt wurde.4
Ziele und Argumentation der Münsteraner Liga
In der Bittschrift5 wurde keineswegs die völlige Abschaffung der kirchlichen Bücherzensur gefordert, sondern lediglich Milderungen und Modifikationen des geltenden Rechts erbeten.
Eine zentrale Bitte war die Beseitigung der namentlichen Verbote. Ein Buch konnte auf zweierlei Weise verboten sein: Entweder, indem es namentlich per Dekret verboten und dann in den Index aufgenommen wurde, oder es war verboten, weil es von einer der allgemeinen Indexregeln betroffen war. So waren zum Beispiel alle Werke der „Häresiarchen“ Luther, Calvin und Zwingli für Katholiken per se nicht erlaubt. Gleiches galt für diejenigen Bücher, die vermeintlich gegen den Glauben und die guten Sitten verstoßen.6
Die Index-Bittschrift schlug vor, statt einzelne Werke namentlich zu indizieren, sollten „im Vertrauen auch auf die aus eigener Kraft sich durchdringende, selbständig werbende Kraft der Wahrheit“7 nur noch die allgemeinen Indexregeln gelten und diese zeitgemäß umgestaltetet werden.
Wenn der Papst die Abschaffung der namentlichen Verbote nicht für möglich hielte, sollte doch wenigstens alles beseitigt werden, was „dem germanischen Volksgewissen aufs allertiefste widerspricht“: nämlich die Verurteilung ohne vorherige Anhörung des Angeklagten, die Geheimhaltung der Indizierungsgründe und die Verpflichtung des Verurteilten zum Schweigen, ohne dass eine Schweigepflicht für die Gegner des Verurteilten bestünde. Dem Autor sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sich schriftlich und mündlich zu verteidigen und vor der Indizierung sein Werk zurückzuziehen und beanstandete Stellen zu ändern.8 Mit Blick auf die Leser wurde eine Abschaffung der Exkommunikation als Indexstrafe angeregt.9 Ferner sollte der Beichtvater die Möglichkeit bekommen, den Dispens zur Lektüre verbotener Bücher auszustellen.10 Nach den bisherigen Regelungen lag diese Vollmacht bei den Bischöfen und den römischen Zensurbehörden.
An der bestehenden Zensurpraxis bemängelten die Autoren der Bittschrift, dass sie dem wissenschaftlichen Fortschritt im Weg stehe und die Kluft zwischen Wissenschaft und Glauben vergrößere.11 Die Werke „tiefgründiger Forscher und wahrhaft christlicher Vorkämpfer“ seien oft besonders gefährdet wegen der „Denunziationsbegier (...) kurzsichtiger Gemüter“.12 Dagegen würde „dem Mutternamen der Heiligen Kirche (...) eine liebevolle Beratung entsprechen, die geleitet wird von dem ruhigen Vertrauen, daß alle Wissenschaft notwendig schließlich doch im Brennpunkte der Wahrheit zusammenfließen muß“.13
Durch namentliche Indizierungen könne vor zensurwürdigen Publikationen wegen ihrer großen Zahl nicht wirksam geschützt werden. Hier werde vielmehr „selbstverantwortliches Handeln jedes einzelnen zur heiligen Pflicht“.14 Die notwendige Schulung der gebildeten Katholiken, um alles in Christus zu erneuern, sei nicht möglich, „wenn selbst unentbehrliche Werke, wie Kants Kritik der reinen Vernunft namentlich verboten werden, wenn also selbst inmitten der Geisterschlacht das geistige Fastengebot des Index gilt“.15
Dadurch, dass die Erlaubnis, verbotene Bücher lesen zu dürfen, bei der bischöflichen Behörde und nicht beim Beichtvater eingeholt werden müsse, habe der Index seine Funktion als Seelenführer eingebüßt. Er laufe Gefahr, zum Kampfmittel der Parteien und Strömungen zu werden und so der Wissenschaft zu schaden.16
Die Zensurprozesse wurden als unzeitgemäß empfunden, da sie nicht den modernen rechtsstaatlichen Standards entsprachen. Die Verteidigungsmöglichkeiten des Autors waren gering, und durch die nicht gewährte Akteneinsicht blieb der Autor über die Begründungen des Verbots seines Buches im Einzelnen meist im Unklaren.
Während Indexapologeten argumentierten, durch den Index schütze die Kirche ihre Kinder vor Irrtümern, stand in der Bittschrift: „Der Vater wird wohl dem unmündigen Kinde, nicht aber dem erwachsenen die Namen der Bücher vorschreiben, die gefahrbringend und bei Strafe zu meiden sind.“17 Formulierungen wie diese zeugen von einem neuen Selbstbewusstsein der Laien:18 Mit Hilfe der allgemeinen Indexregeln sollte der mündige Katholik selbst die Gewissensentscheidung fällen, welche Bücher er zu meiden habe.
Rückschläge und „Modernismus“-Vorwürfe
Bevor die zweite und letzte Korrekturphase der Petition im Juli 1907 abgeschlossen werden konnte,19 erlitt das Vorhaben drei schwere Rückschläge.
Zunächst begann die Front der Unterstützer zu bröckeln. Bei einem Gespräch im Frühling 1907 hatte der Gründungspräsident der Görres-Gesellschaft, Georg von Hertling,20 in Berlin seine Unterschrift für die Bittschrift zugesagt und offenbar auch eine Kooperation zwischen Görres-Gesellschaft und Bittschriftunternehmen nicht kategorisch abgelehnt.21 Als von Hertling dann im Juni seine Unterschrift aus Furcht um das Image der Görres-Gesellschaft zurückzog, war die Enttäuschung bei den Münsteranern groß. Neben von Hertling distanzierten sich mit Hermann Cardauns (1847 – 1925) und Julius Bachem weitere führende Mitglieder der Görres-Gesellschaft. Auch der Theologe Joseph Mausbach (1861 – 1939) zog sich von der Bewegung zurück.22 Der Professor für Apologetik und Moraltheologie erfreute sich im deutschen Katholizismus großer Beliebtheit, zumal er in den heftigen Kontroversen der Zeit oft um Vermittlung bemüht war. Er wäre daher ein prominentes Aushängeschild der Bewegung gewesen.23
Ein zweiter Dämpfer für die Münsteraner war das Belobigungsschreiben des Papstes an den Neuthomisten Ernst Commer (1847 – 1928).24 In der Auseinandersetzung um den 1906 verstorbenen Schell trat dessen vormaliger Freund Commer als sein schärfster Gegner hervor.25 Für sein Werk „Herman Schell und der fortschrittliche Katholizismus“26 erhielt er auf Anregung des Indexsekretärs Thomas Esser OP per Breve vom 14. Juni 1907 eine päpstliche Belobigung,27 die die ohnehin stark emotionalisierte Kontroverse weiter anheizte. Da die Indizierung Schells der Auslöser für das Bittschriftunternehmen war, traf die Belobigung des Schell-Gegners Commer zumindest indirekt auch den Kreis um ten Hompel.28
Ein weiterer Rückschlag aus Rom sollte folgen. Ein Exemplar des vertraulichen Bittschriftentwurfs und der Organisationsgrundlagen für die Kulturgesellschaft gelangte in die falschen Hände: Am 7. Juli 1907 druckte die „Corrispondenza Romana“ unter der Überschrift „Una lega segreta internazionale contro l’Indice e per la Cultura“ die bis dahin geheim gehaltenen Unterlagen in italienischer Übersetzung ab. Hinter der integralen „Corrispondenza Romana“ stand mit Umberto Benigni (1862 – 1934), Untersekretär im vatikanischen Staatssekretariat, „der prominenteste und vielleicht einflussreichste Antimodernist unter Pius X.“29 Im einleitenden Absatz der ungewöhnlich umfangreichen „Corrispondenza“-Ausgabe wurde zur „Indexbewegung und Kulturgesellschaft“ bemerkt, seit Bismarck bezeichne der Terminus „Kultur“ den Kampf gegen den traditionellen, integralen, römischen Katholizismus und werde vor allem von den Modernisten verwendet. Aus den geheimen Dokumenten spreche der Geist des indizierten Romans „Il Santo“ von Fogazzaro, der auf Deutsch im „Hochland“ erschienen und dessen Herausgeber Muth Teil der Index-Liga sei.
Die Veröffentlichung der im Entwurfsstadium befindlichen Dokumente löste ein breites Echo aus. Nachdem zunächst Zweifel an der Authentizität des Materials laut wurden,30 versuchte vor allem die Zentrumspresse die von der „Corrispondenza Romana“ aufgebauschte Angelegenheit herunterzuspielen.
Der Enthüllungsjournalismus der „Corrsipondenza Romana“ bekam Schützenhilfe durch den „Osservatore Romano“: Ab dem 9. Juli wurde dort in anonymen Artikeln gegen die vermeintliche internationale Geheimgesellschaft polemisiert.31 Abschaffung und moralische Vernichtung der Indexkongregation, einer lebensnotwendigen Funktion des kirchlichen Lehramtes und der kirchlichen Disziplin, würden angestrebt. Dabei sei der Index gerade in diesen glaubensfeindlichen Zeiten unentbehrlich.32 Angesichts der Masse an wissenschaftlichen und literarischen Publikationen und der rasanten Verbreitung von Ideen sei es notwendig, Glauben und Moral zu schützen. Sämtliche Reformanregungen der Bittschrift wurden zurückgewiesen. In einem weiteren Beitrag bemühte man sich, den Autoren der Bittschrift Unkenntnis der Verfahrensordnung für Buchzensurprozesse33 nachzuweisen. Der in der Petition artikulierten Bitte, dem Autor die Möglichkeit zur Verteidigung einzuräumen, wurde entgegengehalten, dass die Verfahrensordnung angesehenen Autoren das Recht gewähre, angehört zu werden, freilich eine Bestimmung, die in der Praxis nur selten umgesetzt wurde; tatsächlich trat die Kongregation oft erst dann mit den Autoren in Kontakt, wenn das Urteil über ihre Schriften bereits gefällt war.34 In zwei weiteren Artikeln schließlich wurde die Münsteraner Initiative mit dem Modernismus in Verbindung gebracht:35 Der Geist des Individualismus, der Kult des „Ich“ werde der hierarchisch verfassten Autorität und dem Lehramt der Kirche entgegengestellt.






