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Das nächste Wasserschloss auf meinem Weg ist Schloss Dyck, eine wuchtige Anlage mit neunhundertjähriger Geschichte. Aus der einst einfachen Befestigungsanlage ist heute ein Zentrum für Gartenkunst und Landschaftskultur geworden – das eigentliche Schloss ist leider teilweise eingerüstet. Dafür bekomme ich im Besucherbistro Kaffee und Kuchen und kann mir Gedanken über meinen geschwollenen, schmerzenden rechten Fuß machen. Vielleicht sind die Wanderschuhe, die ich für diese Tour gewählt hatte doch nicht gut geeignet. Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern und so gehe ich weiter nach Grevenbroich, das sich »Bundeshauptstadt der Energie« nennt. Hier liegen einige der riesigen Kraftwerke des rheinischen Braunkohlereviers, deren Kühltürme ich schon von weitem sehen konnte. Standesgemäß ziert den Ortseingang ein großes Laufrad einer Dampfturbine. Zum Verweilen lädt der Ort nicht gerade ein und so gehe ich weiter, auf Fuß- und Radwegen und, so will es mir erscheinen, stundenlang an einem Aluminiumwerk entlang. Da sehe ich einen Jungen zu einer Bushaltestelle eilen. Weil ich heute schon 23 Kilometer gegangen bin und keine Übernachtungsmöglichkeit sehe, gehe ich auch schnell zur Haltestelle, und wenige Minuten später sitze ich im Bus nach Rommerskirchen. Ich ärgere mich etwas, als der Bus nach nur etwa einem Kilometer an einem großen Landhotel vorbei fährt – bis dahin hätte ich ja noch locker gehen können! In Rommerskirchen frage ich einen Taxifahrer nach Hotels. Er erwähnt als Erstes dieses Landhotel, meint aber, das sei immer ausgebucht durch die vielen Monteure, die in den Kraftwerken arbeiten. Mein Ärger verfliegt und ich mache mich gemeinsam mit dem Taxifahrer auf Hotelsuche, die bald von Erfolg gekrönt ist. Nach meiner Ankunft in Hotels oder Gasthäusern spule ich inzwischen immer die gleiche Prozedur ab:
Duschen,
Hinlegen und die Beine ausstrecken oder vorher noch die Sehenswürdigkeiten des Ortes aufsuchen,
Abendessen so spät wie möglich, um den Abend zu verkürzen,
Frühstücken, in der Regel zwischen sechs und sieben Uhr
Abmarsch deshalb zwischen sieben und acht Uhr
Meinen Rucksack packe ich schon vor dem Frühstück, sodass ich immer schnell abmarschbereit bin. Tagsüber esse ich nichts, sofern ich nicht zufällig an einem Café vorbeikomme. Mein Trinkvorrat besteht lediglich aus knapp einem halben Liter Leitungswasser. Das erscheint wenig, aber ich bin daran gewöhnt und gehe davon aus, meine Trinkflasche bei Bedarf nachfüllen zu können (was sich schon früh als Irrtum erweisen sollte). Der Vorteil ist, dass ich nicht so viel tragen muss.
Der Weiterweg nach Köln verläuft zwischen Feldern, mit ständigem Blick auf die Kraftwerke und auf Hügel, die etwa zweihundert Meter hoch sind und hier nicht mehr »Berg« sondern »Höhe« heißen. Zu Siegfrieds und Kriemhilds Zeit gab es diese »Höhen« noch nicht, denn es handelt sich um Abraumhalden des Braunkohletagebaus.
Bald schon sehe ich in der Ferne die Türme des Kölner Doms und die Windmühle von Stommeln. Und dann taucht der Kirchturm von Brauweiler auf.
Brauweiler liegt gewissermaßen schon vor den Toren Kölns. Die Nikolauskirche, die ich schon von weitem gesehen hatte, gilt als einer der »bedeutendsten Bauten der rheinmaasländischen Romanik«. Die danebengelegene ehemalige Benediktinerabtei muss sich nicht dahinter verstecken, wurde sie doch bereits 1024 gegründet. Mit ihrer Auflösung unter Napoleon begann eine wechselvolle Geschichte als Bettleranstalt, Arbeitsanstalt, KZ und Gestapogefängnis und psychiatrisches Landeskrankenhaus. Heute ist sie Sitz verschiedener Landesbehörden. Unbeeindruckt davon wuchert im Abteipark seit angeblich mehr als tausend Jahren ein Maulbeerbaum. Mir waren Maulbeerbäume bislang nur als Futter für Seidenraupen bekannt, aber dieser Baum ist wohl nur wegen seiner Früchte angebaut worden. Bei dem Wort »Baum« erwartet man eigentlich ein Gewächs mit einem ordentlichen, aufrechten Stamm, aber nicht so der Brauweiler Maulbeerbaum: schlangenartig kriecht sein Stamm nahe am Boden. Es hat für mich fast den Anschein, als wäre der ihn umgebende Metallzaun nur dazu da, ihn daran zu hindern, von Brauweiler fortzukriechen. Zu meinem Leidwesen hindert mich dieser Zaun daran, den Stamm zu berühren. So wie andere Menschen das Bedürfnis haben Tiere zu streicheln, habe ich das Verlangen, besondere Bäume anzufassen. Paolo Coelho beschreibt in seinem Buch Auf dem Jakobsweg, dass ausgewachsene Bäume imstande sind, Harmonie auf den Menschen zu übertragen. Er lehnte sich deshalb erschöpft mit nacktem Oberkörper an einen Baum und fühlte sich schon nach wenigen Minuten besser. Das musste ich natürlich auch einmal ausprobieren. Geeignetes Versuchsobjekt war vor einigen Jahren eine etwa dreitausend Jahre alte Zypresse im tiefsten Süden Algeriens. Das Ergebnis meines Experiments waren verständnisloses Kopfschütteln der Reisegruppe und ein heftiger Juckreiz am Rücken. Mehr war nicht. Aber vielleicht befand ich mich mental nicht auf der richtigen Ebene. Daheim hat ein Versuch mit einer alten Fichte zu einem besseren Ergebnis geführt.
Ich mache es mir gegenüber der Abtei in einem Eiscafé gemütlich und rufe bei meiner Tochter in Köln an, um mich abholen zu lassen. Ich hätte auch den Vorortbus nehmen können, aber als Vater kann ich auch einmal Ansprüche stellen, und sei es nur eine kurze Fahrt nach Köln.
Als Siegfried und Kriemhild nach Köln kamen, war die Römerherrschaft am Rhein bereits beendet, lediglich Köln war noch so etwas wie eine römische Enklave. Aber auch nicht so richtig, denn seit Mitte des 4. Jahrhunderts wechselten sich Franken und Römer in der Stadtherrschaft ab. Es war möglicherweise diese wechselhafte Geschichte, die den Kölschen Klüngel hervorbrachte, den Konrad Adenauer sehr präzise definierte: »Mer kennt sisch, mer hilft sisch.« Egal welche Partei gerade das Sagen hat.
Anfang des 5. Jahrhunderts gab es in Köln bereits Märtyrerkirchen, eine davon die der Heiligen Ursula. Zu Siegfrieds und Kriemhilds Zeit aber waren es erst elf Jungfrauen, die zusammen mit Ursula den Märtyrertod erlitten hatten. Erst später wurde daraus die unvorstellbare Zahl von Elftausend Jungfrauen, als deren Mörder man im Laufe der Jahrhunderte die Hunnen und sogar Attila (Etzel) persönlich verantwortlich machte. Zwar waren weder die Hunnen und schon gar nicht Attila jemals in Köln, aber für ein derartiges Massaker gaben sie die idealen Sündenböcke ab.
Mit der inflationären Zunahme der Zahl der getöteten Jungfrauen, deren Gedenktag der 21. Oktober ist, stieg auch deren Verehrung in den katholischen Ländern Europas. Als Magellan 1520 in Südamerika die Einfahrt zu der später nach ihm benannten Meeresstraße erreichte, schrieb man gerade den 21. Oktober. Deshalb gab Magellan der dort gelegenen Landzunge den Namen »Cabo Virgenes«, also »Kap der Jungfrauen«. So wurden die elftausend Kölner Jungfrauen zu Namenspatroninnen eines einsamen Kaps im fernen Feuerland.
Siegfried und Kriemhild haben Köln wegen der hier herrschenden, unklaren Machtverhältnisse vielleicht gar nicht betreten, sondern sind westlich davon vorbei geritten. Dort, wo heute der Ortsteil Weiden ist, in den auch ich komme. Dabei haben die beiden möglicherweise einige Kilometer vor dem Westtor Kölns die Reste eines römischen Gutshofes gesehen, von dem heute noch eines der kuriosesten römischen Bodendenkmäler erhalten ist: die Grabkammer von Weiden. Kurios wegen der Art und Weise, wie man hineinkommt. Ich klingle am Haus Aachener Straße 1328, und gegen den Eintrittspreis von einem Euro wird mir der Zugang zur Grabkammer aufgeschlossen (mein dringender Rat: aktuelle Öffnungszeiten im Internet nachsehen). Ich steige hinab in den düsteren Raum, der Verkehrslärm verebbt und ich bin allein mit den Seelen verstorbener Römer, den Marmorbüsten, den Steinsesseln und dem wuchtigen Sarkophag aus Marmor. Alles noch original! Als Weintrinker gefällt mir besonders die Kelterszene an der Vorderseite des Sarkophags, auf der drei Eroten in einem Trog Weintrauben einstampfen. Pralles Leben im Angesicht des Todes!
Ich kehre zurück ans Tageslicht, melde mich bei der Kustodin im Haus 1328 ab und »eines der bedeutendsten Denkmäler römischer Zeit in Europa nördlich der Alpen«, so Rudolf Pörtner in seinem Buch Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit, versinkt hinter mir wieder in seinen Dornröschenschlaf an der Aachener Straße.
So endet ein fauler Tag mit nur 15 Kilometer Fußmarsch, drei Eroten und einem Grillabend in Köln-Weiden.
AUF DEM RHEINHÖHENWEG NACH BINGEN
Den Weg von Köln nach Bingen zu finden, ist eigentlich ganz einfach: immer am Rhein entlang. Ich könnte aber auch in die entgegengesetzte Richtung nach Leverkusen gehen und dabei meine Reise gleichzeitig erheblich abkürzen. Dazu müsste ich mir nur die Theorie von Heinz Ritter-Schaumburg zu eigen machen. Dieser Publizist siedelt die Nibelungen nicht in Worms, sondern westlich von Bonn nahe Zülpich an und lässt sie dann über Leverkusen und Altenberg im Bergischen Land bis nach Soest ziehen, wo sie schließlich ihr Ende finden. Bis dorthin wäre das nur noch eine Woche Fußwanderung. Ritter-Schaumburg beruft sich bei seinen Überlegungen auf die Thidrekssaga, die er für einen Tatsachenbericht hält. Auf dieser Basis konstruiert er eine lückenlose Indizienkette und liefert auch eine Begründung dafür, warum Siegfried tatsächlich die Sprache der Vögel verstanden haben kann. Ich brauche mich allerdings mit der Theorie von Ritter-Schaumburg nicht auseinanderzusetzen, da ich ja auf der Basis des Nibelungenlieds wandern will. Also muss ich zunächst weiter nach Bad Godesberg. Dorthin lasse ich mich von Köln-Weiden aus von meiner Tochter mit dem Auto bringen, bevor ich meine Fußwanderung wieder aufnehme. Wie schon bei der Strecke Xanten – Köln wähle ich nicht die Rheinuferstrecke, sondern Wege auf den Höhenzügen westlich des Rheins. Etwa dort, wo früher auch die Fernstraßen bzw. Handelswege liefen. Es ist dabei für mich sehr hilfreich, dass es zwischen Bonn und Mainz den markierten linksrheinischen Höhenweg gibt. Ich hatte mir hierüber bei der Vorbereitung der Tour einen Wanderführer gekauft, dem ich folgen will. Das Navi erweist sich aber bald schon als gute Hilfe, denn der linksrheinische Höhenweg ist teilweise äußerst dürftig markiert. Da ist es von Vorteil, dass mich auf der ersten Tagesstrecke ab Bad Godesberg meine Tochter und ihr Ehemann begleiten, denn sechs Augen sehen mehr als zwei. Trotzdem müssen wir öfters den Weg suchen oder nach ihm fragen.
Wir parken das Auto am Bahnhof von Bad Godesberg und gehen von dort auf zunehmend steilen Straßen hinauf auf den Höhenzug oberhalb des Rheins, wo wir nach einigem Suchen endlich den Rheinhöhenweg finden. Dieser erste Anstieg lässt mich erahnen, was in den nächsten Tagen auf mich zukommen wird. Auf schönen Waldwegen kommen wir zum Heinrichsblick, von wo aus wir einen wunderbaren Blick über den Rhein auf den Drachenfels und das Siebengebirge haben. Für zum Tode Verurteilte war dies früher einmal der letzte Blick auf Erden, denn es handelt sich hier um eine historische Richtstätte.
Bald darauf erreichen wir den beliebten Aussichtspunkt »Rolandbogen«, den Rest einer Burgruine aus dem 12. Jahrhundert. Diese Ruine ist auf allen Bildern als efeuumrankter, malerischer Bogen zu sehen, jetzt aber ist es nur nacktes Mauerwerk. Der Rolandbogen war nämlich einsturzgefährdet, und bei der Sanierung vor einem Jahr musste der Bewuchs entfernt werden. Es wäre nicht der erste Einsturz gewesen, denn der Rolandbogen ist schon einmal in sich zusammengefallen, nämlich 1839. Beim Wiederaufbau hat man dann das Bauwerk so gedreht, dass man nicht mehr auf die Insel Nonnenwerth sondern auf den Drachenfels schaut. Das ist eigentlich schade, denn um Rolandbogen und Nonnenwerth dreht sich eine romantische Sage, in der sich schließlich der Ritter Roland im Fensterbogen erhängt. Ein überaus starkes Finale.
Wir machen auf der Terrasse Mittagspause, die durch starken Wind etwas getrübt wird. Für den Wind kann das Personal nichts, für den miserablen Service ist es allerdings voll verantwortlich.
Nach etlichen Auf- und Abstiegen auf waldreichen Wegen gehen wir schließlich zwischen ehemaligen Weinbergen einen steilen Fußpfad hinunter nach Oberwinter. Dort stellt sich heraus, dass es hier im Ort kein freies Hotelzimmer gibt. Man empfiehlt mir ein Hotel zwei Kilometer weiter in Richtung Remagen. Ich verabschiede mich von meinen zwei Begleitern und gehe allein weiter zum Hotel in Unkelbach. Unterwegs komme ich an einem knallroten Haus mit B&B, ungarischem (!) Essen und Live-Musik vorbei. Das wäre eigentlich die richtige Absteige für mich als Vorbereitung auf Ungarn gewesen! Aber das gewählte Hotel ist auch nicht schlecht: Es wurde nämlich vollkommen renoviert, und ich bin der erste Gast in einem völlig neuen Zimmer.
Der Ausblick auf Unkel in der Abendsonne ist schließlich der ideale Abschluss eines Tages, an dem ich zwanzig Kilometer gegangen bin mit insgesamt achthundert Höhenmetern Anstieg.
Ab heute bin ich wieder allein auf der Jagd nach dem schwarzen »R« auf weißem Grund – der Markierung des linksrheinischen Höhenweges.
Da ich nun den Weg ohne Hilfe finden muss, programmiere ich mein Navi mit mehreren Wegpunkten entlang des linksrheinischen Höhenwegs, und tatsächlich führt mich das Gerät fast ausschließlich auf diesem Wanderweg. Offenbar ist er irgendwo auf der digitalen Karte hinterlegt. Nach einem mehr oder weniger steilen Anstieg auf Straßen wandere ich durch schöne, einsame Wälder. Ein Ort, wo ich mich so richtig wohlfühle. Das mag an meiner Kindheit liegen, in der unser Spielplatz die dunklen Wälder Oberfrankens waren. Wald flößt mir keinerlei Angst ein, auch nicht bei Dunkelheit. Mich begleitet Vogelgezwitscher, das jetzt in den Morgenstunden besonders intensiv ist. Es raschelt hin und wieder im Gestrüpp, und in der Nähe schreckt ein Rehbock, was einem Hundegebell entfernt ähnlich klingt. Der Wald bleibt auch grün, als die Buchen zunehmend von Fichten abgelöst werden, denn deren Stämme sind fast ausschließlich mit Efeu umrankt. Ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen für den Zustand des Waldes ist, weiß ich nicht. Es sieht jedenfalls schön aus.
In einem Talgrund komme ich am Schloss Calmuth vorbei, das weniger wie ein Schloss als vielmehr wie ein großes Jagdhaus aussieht. Es wird derzeit renoviert, und der Bautafel entnehme ich, dass es einem bekannten Unternehmer der Solarbranche gehört. Ich gönne ihm dieses Schlösschen, denn schließlich steckt er viel Geld in seine Erhaltung.
Nicht weit danach treffe ich eine Wanderin mit Hund, die den Eindruck erweckt, als suche sie den rechten Weg. Ich vermute richtig: Die Frau sucht das berühmte schwarze »R« auf weißem Grund. Schnell stellt sich heraus, dass es eine Holländerin ist, die zusammen mit ihrem Hund auf dem Weg von Amsterdam nach Rom ist. Keine Pilgerin, sondern eine Weitwanderin. Der Hund hat zwei Packtaschen umhängen, in denen er sein eigenes Futter tragen muss – bei vollen Taschen immerhin fünf Kilogramm. Und dabei handelt es sich um einen eher schwächlich aussehenden Jagdhund, nämlich einen recht seltenen ungarischen Drahthaar-Vizsla.
Während wir uns unterhalten, entdecke ich hinter dem Rücken der Holländerin die Markierung, versteckt im dichten Gestrüpp. Wir gehen los, und kurz darauf finden wir ein »R« nach dem anderen. Es ist wie beim Pilze suchen: Hat man endlich den ersten Pilz gefunden, dann findet man bald weitere und zwar auch dort, wo vorher keine zu sehen waren.
Die Frau benutzt für ihren Weg durch Deutschland den Europäischen Fernwanderweg E8, der in diesem Bereich mit dem Rheinhöhenweg identisch ist. Sie hat wegen mangelnder Deutschkenntnisse Probleme, den deutschen Wanderwegführer zu verstehen und fragt mich, was der Unterschied zwischen Weg, Wanderweg, Pfad, Fußpfad und Steig sei – alles Ausdrücke aus ihrem Büchlein. Ihr erkläre ihr kurz und bündig: »Everything is a trail«. Wir haben uns nämlich darauf geeinigt, miteinander Englisch zu sprechen.
Der Hund scheint froh zu sein, endlich einmal eine weitere Begleitperson zu sehen und versucht mit mir zu spielen. Es sieht ausgesprochen lustig und unbeholfen aus, wie er vor mir, mit seinen Packtaschen behängt, hin und her springt. Sein Frauchen sagt, dass sie ihm schon oft erklärt habe, seine Kräfte zu sparen, weil der Weg nach Rom noch weit sei. Er scheint es aber nicht zu verstehen.
Oberhalb der Kirche St. Apollinaris machen wir Rast auf einer Bank mit schönem Blick auf Remagen. Als wir wieder aufbrechen wollen, ist der Hund plötzlich von völliger Taubheit befallen. Er schaut konzentriert in eine andere Richtung und reagiert überhaupt nicht. Offenbar versucht er auf diese Weise die Pause zu verlängern. Schließlich zieht ihn die Holländerin hoch und schon kehrt sein Gehör wieder zurück.
Nach der Apollinariskirche geht es wieder bergan und bergab nach Bad Bodendorf, einem menschenleeren, netten Fachwerkdorf, aus irgendeinem Grund beflaggt. Es ist gerade Mittagszeit und es gibt ein Café. Und zwar eines mit einer derart großen Kuchenauswahl, wie ich sie fast noch nie gesehen habe. Hier scheint der ganze Landkreis versorgt zu werden. Auf meine Empfehlung hin nehmen wir beide Eissplittertorte. Die Holländerin kennt sie nicht, aber bei mir hat diese Torte Tradition. Mit einer Eissplittertorte begann eine langjährige Freundschaft, die heute noch andauert, auch wenn wir längst nicht mehr miteinander Torte essen. Die Bekanntschaft mit der Holländerin allerdings endet bald darauf in Sinzig, von wo aus sie wegen Erkrankung ihres Vaters mit dem Zug vorübergehend nach Hause fahren muss.
Auf dem Weg durch Sinzig komme ich am Sinziger Schloss vorbei, dann an einem Denkmal für Kaiser Barbarossa und am »Sinziger Löwe«, einem Ehrenmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege. Das »Highlight« von Sinzig ist aber die romanische Kirche St. Peter aus der Stauferzeit. Außen wie innen ein Schmuckstück.
Beim Weiterweg treffe ich auf einen alten Meilenstein aus der Zeit, als das Rheinland preußisch und die Rheintrasse ausgebaut wurden. Demnach ist Mainz noch 16 ½ Meilen entfernt, wobei die preußische Meile 7,5 Kilometer entspricht. Also noch etwa 124 Kilometer und zwar entlang des Rheins. Auf dem Rheinhöhenweg sind es allerdings deutlich mehr. Der führt mich wieder steil bergauf, bis ich das Höhenplateau erreiche und durch herrliche Buchen- und Eichenwälder wandere. Schon die Kelten hatten sich hier oben wohlgefühlt und eine Höhensiedlung errichtet, die durch eine ausführliche Infotafel erläutert wird. Von der Anlage jedoch ist praktisch nichts zu sehen.
Mitten im Wald mache ich auf einer Bank Rast und esse, passend zu dem mich umgebenden Eichenwald, ein Stück Speck vom »Eichelschwein«. Dies ist eine fränkische Spezialität von Schweinen, die frei in Eichenwäldern auf Futtersuche herumlaufen dürfen. Das Stück Speck ist ein Geschenk meiner Schwester für meine Wanderung. Nachdem es aufgebraucht war, habe ich mich mit keinem Proviant mehr bepackt. Lieber habe ich tagsüber nichts zu essen, als etwas zusätzlich tragen zu müssen.
Am späten Nachmittag geht es in steilen Serpentinen, mit Blick auf Schloss Arenfels, hinunter nach Bad Breisig, wo ich mich in einem Hotel einquartiere, dessen Inhaberin aus Budapest stammt. Sie ist deshalb mit meinem Zielort Esztergom sehr vertraut und weiß, welche weite Strecke noch vor mir liegt.
Am Morgen, wie könnte es anders sein, wieder ein steiler Anstieg. Sehr bald finde ich die Markierung nicht mehr und gehe einfach auf einem gut gepflegten Waldweg in Serpentinen bergan. Ich mache mir zunächst keine Gedanken darüber, warum viele Bäume Nummern tragen. Erst als an etlichen Bäumen auch Namensschilder befestigt sind, geht mir ein Licht auf: Ich befinde mich in einem Friedwald, also einem Wald, in dem Urnen bestattet sind. Mithilfe von zwei Spaziergängern finde ich wieder zurück zu der Stelle, an der ich die Markierung verloren hatte. Diesmal aber prangt sie unübersehbar an einem Baum. Irgendwie muss sie sich vorher versteckt haben, was mich nicht nur eine dreiviertel Stunde Umweg, sondern auch einen unnötigen Aufstieg zum Hochplateau gekostet hat. Jetzt muss ich wieder hinunter ins enge Vinxtbachtal gehen, wo mich die Markierung auf die Straße hinauf zur Burg Rheineck führt. Diese ist eine der ältesten Burgen des Rheinlandes. Da sie bereits 1151 zum ersten Mal zerstört wurde, war sie auch die erste Burgruine am Rhein. Heute ist sie in Privatbesitz.
Im nächsten Taleinschnitt liegt Brohl. Als man vor vielen Jahrhunderten noch nicht am Rheinufer entlang reisen konnte, mussten diese steil abfallenden Täler ein großes Hindernis gewesen sein. Für mich sind sie es heute noch. Da hilft es wenig, dass von Brohl hinauf der Pfad an einer Stelle sogar mit Stahlseilen versehen ist, mehr als Aufstiegshilfe denn als Absturzsicherung. Der Ausblick vom »Gipfel« auf Brohl mit Schloss Augustaburg und über das Rheintal lohnt die Mühe, und selbstverständlich ist außer mir niemand unterwegs. In einem dunklen Waldstück liegt ein historischer Steinbruch, der von der Römerzeit bis in die Neuzeit hinein benutzt war. An mehreren Steinblöcken kann man noch Kerben sehen, die geschlagen wurden, um den Stein zu spalten. Das Ganze ist gespickt mit Infotafeln über die Arbeit im Steinbruch und über Vulkanismus. Wer alle Tafeln lesen und verstehen will, sollte dafür reichlich Zeit einplanen.
Die vielen Aufstiege haben mir Durst gemacht, und meine Wasserflasche ist inzwischen leer. An einem Gehöft bitte ich eine Frau, sie aufzufüllen. Dergleichen scheint sie schon zu kennen, denn sie meint, dass ihr gewöhnlich wesentlich größere Trinkflaschen gereicht werden.
Das Hochplateau ist eine äußerst reizvolle grüne Landschaft durchbrochen von hellbraunen Äckern und gelben Rapsfeldern. Als Folge der staatlich geförderten Biokraftstoffe wird in Deutschland immer mehr Raps angebaut, was in der Blütezeit sehr schön aussieht. Fängt der Raps dann aber an zu reifen, nimmt er eine schmutzig braune, unschöne Farbe an. Gut, dass ich so früh im Jahr unterwegs bin.
Vor dem Abstieg ins Rheintal stoße ich auf drei wunderliche Wegweiser, die alle nach Andernach weisen, allerdings in drei verschiedene Richtungen: Nach links, nach rechts und geradeaus. Ich wähle letztere und liege damit richtig. Bevor ich ein Hotel suche, besichtige ich den spätromanischen Mariendom »Liebfrauenkirche« mit dem sogenannten »Ungarnkreuz«. Dieses Gabelkreuz aus dem frühen 14. Jahrhundert wurde angeblich von Pilgern aus dem Donauraum gestiftet, die auf der alle sieben Jahre stattfindenden Wallfahrt nach Aachen hier Station machten und versorgt wurden. Ich stelle mit Erstaunen fest, wie oft ich schon jetzt Kontakt mit etwas Ungarischem hatte: ein ungarisches Restaurant, ein ungarischer Hund, eine ungarische Wirtin und jetzt ein ungarisches Kreuz. Und dabei bin ich noch so weit weg von Ungarn.
Nach Besichtigung der Kirche quartiere ich mich in einem historischen Gebäude ein, welches 1677 als Ratsherrn- und Gerichtsschreiberhaus errichtet und erst ab 1980 zu einem Hotel umgebaut wurde. Aus irgendeinem Grunde bekomme ich einen Preisnachlass. Vielleicht wirke ich als Wanderer nicht zahlungskräftig genug. Anschließend durchstreife ich den historischen Ortskern und informiere mich über den Geysir. Man darf nicht vergessen, dass dieser Teil Deutschlands geologisch gesehen noch sehr jung ist, und wer hier wohnt, wohnt auf einem Vulkan. Das beredte Beispiel dafür ist ein Geysir, welcher circa sechzig Meter hoch spritzt und damit der höchste Kaltwassergeysir der Welt ist. Es ist gewissermaßen ein Sprudelwasserstrahl, denn ihn treibt Kohlensäure an. Leider ist es für mich schon zu spät, das vor zwei Jahren entstandene Geysir-Erlebniszentrum samt Geysir zu besuchen.
Die heutige Wanderung war mit etwas mehr als 16 Kilometer ein sehr kurzes Teilstück, aber ich habe heute in der Summe 990 Höhenmeter zurückgelegt – bergauf, wohlgemerkt!
Da Andernach im Neuwieder Becken liegt, habe ich vorerst mit keinen großen Steigungen mehr zu rechnen. Gleichbleibend schlecht ist aber die Markierung des Rheinhöhenwegs, die ich im Ort Miesenheim verliere. Deshalb verlasse ich mich auf mein Navi, dessen gespeicherte topografische Karte (angeblich die aktuellste Version von Deutschland) mich zu einem Weg führt, den es nicht (mehr) gibt. Ich gehe deshalb nur noch nach Kompass und gelange letztlich wieder auf den markierten Weg. Schon bald sehe ich das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich, genauer gesagt dessen Kühlturm. Dieses 1986 in Betrieb genommene Kernkraftwerk wurde nach nur zwei Jahren auf richterlichen Beschluss hin still gelegt, weil es in einem Erdbebengebiet liegt. Auf dieses Erdbeben wartet man inzwischen seit über zwanzig Jahren – dafür wurden etwa vier Milliarden Euro in den Sand gesetzt.






