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Dass im Neuwieder Becken Erdbeben nicht unwahrscheinlich sind, zeigt der latente Vulkanismus in dieser Gegend. Zeugen dafür sind die bekannten, meist nach Schwefel riechenden Mineralwasserquellen, die stets aus dem Laacher See aufsteigenden Gasblasen und natürlich der Geysir von Andernach. Mich wundert nur, dass die Bevölkerung hier in Häusern lebt und arbeitet, die in meinen Augen nicht unbedingt erdbebensicher sind. Gelten etwa für die eigene Sicherheit andere Maßstäbe als bei Kernkraftwerken?
In wenigen Jahren soll das Kraftwerk vollständig rückgebaut sein und dann wird der dominante Kühlturm Geschichte sein. Nicht aber die Erdbebengefahr.
Das Höhenplateau ist Ort ausgedehnter Obstplantagen, allerdings habe ich nicht damit gerechnet, hier eine Holunderplantage zu sehen. Eine Bäuerin, die gerade vorbei fährt, sagt mir, dass das hier die größte Holunderplantage sei. Der Holunderstrauch oder -baum gehört zu den häufigsten Straucharten in Europa und deshalb bin ich bislang davon ausgegangen, dass seine Produkte von Wildpflanzen stammen. Er ist äußerst vielfältig als Nahrungsmittel zu verwenden. Das fängt schon mit den Blüten an, aus denen Küchlein gebacken werden können oder die man zu Sirup oder Holunder»Sekt« verarbeiten kann. Auch gibt es leckeren Holunderlikör aus Blüten, und die Früchte werden zu Marmelade oder Getränken verarbeitet. Nur roh essen sollte man sie nicht. Auf alten, absterbenden Holunderbäumen wachsen schließlich essbare Pilze, die Judasohren. Das sind violett gefärbte, an abgeschnittene Ohren erinnernde muschelförmige Pilze, die eigentlich keinen Eigengeschmack haben. Trocknet man sie, dann schrumpfen sie auf einen Bruchteil der ursprünglichen Größe. Ich mische getrocknete Judasohren, die sich in einem geschlossenen Behältnis lange halten, gerne Suppen oder Soßen bei, in denen sie sich mit der Brühe vollsaugen und so wieder zur ursprünglichen Größe anschwellen. Sie haben dann den Geschmack der Brühe angenommen und verleihen dem Gericht optisch eine chinesische Note.
Da ich keine Lust habe, durch die Industriegebiete vor Koblenz zu wandern, fahre ich von Mühlheim-Kärlich mit dem Bus zum Koblenzer Hauptbahnhof und lasse mir in der Tourist Information ein Hotelzimmer besorgen. Ich habe die Wahl zwischen einem Hotel ganz in der Nähe oder etwa zweieinhalb Kilometer entfernt beim Deutschen Eck. Da ich heute nicht weit gegangen bin, entscheide ich mich für letzteres und ziehe los. Auf halbem Weg stoße ich auf das bekannte »Weindorf Koblenz«, ein großes Gaststättenareal, in das ich zunächst einkehre. Da erst früher Nachmittag ist, gönne ich mir nur einen kleinen Imbiss zu einem Glas Riesling. Vor dem Weitermarsch zum Hotel probiere ich dann, gewissermaßen als Nachtisch, einen Riesling-Perlwein, einen Secco Antonio. Er beflügelt meine letzten Schritte zum Hotel.
Von dort aus gehe ich zum nahe gelegenen Deutschen Eck, dem deutschesten aller deutschen Ecke. Es wird überragt vom Denkmal von Kaiser Wilhelm I. Ich hatte fast während meines gesamten Berufslebens regelmäßig in Koblenz zu tun und hatte anfangs selbstverständlich auch das Deutsche Eck besucht. Später natürlich nicht mehr. Deshalb war es mit völlig entgangen, dass das nach 1945 wegen seiner Kriegsschäden abgebaute Denkmal 1993 nach einer privaten Schenkung wieder hergestellt werden konnte. Hoch zu Ross sitzt da der Kaiser in Begleitung eines Siegesengels. In Erinnerung an den Krieg 1870/71 war das verständlich, auch wenn nicht der Kaiser sondern die Soldaten den Krieg ausgefochten haben.
Ich verlasse Koblenz mit dem Taxi, das mich bis zum sogenannten Rittersturz bringt, einem Aussichtspunkt südlich von Koblenz. So vermeide ich einen öden Marsch durch die Stadt und erspare mir gleichzeitig einen Aufstieg.
Der Aussichtspunkt Rittersturz hat seinen Namen von einer Legende, nach der sich ein Ritter aus Liebeskummer von dem Felsen hinabgestürzt haben soll. Was war nur mit den rheinischen Rittern los? Erst erhängt sich einer im Rolandsbogen und jetzt stürzt sich ein anderer von einem Felsen!
Am Rittersturz beginnt wieder der markierte Rheinhöhenweg, diesmal mit gut sichtbarer, neuer Markierung. Diese Markierung weist aber in eine andere Richtung, als auf der Karte verzeichnet, und so folge ich lieber dem bisherigen Weg. Dort wurde zwar das Markierungs-»R« von den Baumstämmen geschabt, zurück blieb aber ein gut sichtbares »R« in der Rinde. Hier im Koblenzer Stadtwald verläuft auch eine Römerstraße, auf die ich irgendwann stoße und auf der ich entlang gehe. Aus ihr ist inzwischen eine asphaltierte Landstraße geworden. Einmal treffe ich auf eine größere Ausflugsgruppe, die nicht so recht weiß, welches der richtige Weg sei. Einige sind ziemlich skeptisch, als ich mithilfe des Navis den Weg vorgebe, aber dann folgen sie mir doch und gelangen mit mir zu den Resten eines römischen Tempels, welcher Rosmerta und Merkur geweiht war. Danach erreiche ich die offene Hügellandschaft, sehe in der Ferne die berühmte Marksburg und wandere zwischen blühenden Rapsfeldern und durch Buchen- und Eichenwälder, die mich immer wieder begeistern. Es muss hier offenbar einen Künstler geben, der aus Baumstämmen Skulpturen schnitzt, die am Wegesrand stehen. Besonders gut gefällt mir eine aus einem liegenden Baumstamm herausgearbeitete, liegende Frau, die ein Buch liest. Nach weiteren romantischen Ausblicken auf Täler und Höhen komme ich zum vielgepriesenen Vierseenblick, wo man allerdings keine Seen sieht, sondern eine Rheinschleife. Der Blick hinab ist dabei mehrfach unterbrochen, so dass man den Eindruck haben könnte, vier Seen zu sehen. Das ist eher ein Touristengag und hat vielleicht damit zu tun, dass es hier ein Ausflugslokal gibt, welches etwas Besonderes bieten will. Ich mache Pause bei Kaffee und Kuchen und wenig später kann ich am Gedeonseck die Rheinschleife bei Boppard ohne störende Unterbrechungen sehen, was mir viel besser gefällt. Und ich sehe ein Schild »Sessellift 200 m«. Die Existenz dieses Sesselliftes hat mir der Rheinhöhenweg-Wanderführer verschwiegen. Deshalb ist meine Freude umso größer und statt den Serpentinenweg nach Boppard hinunterzustolpern, schwebe ich auf einem Sessel zu Tal. Ich quartiere mich in einem Weinhaus ein, welches vorzügliche Rieslingweine aus eigenen Steillagen hat. Mir haben es die trockenen Spätlesen dieses Winzers angetan. Da ich heute recht wenig gelaufen bin, bleibt mir genügend Zeit und Energie in Boppard die gut erhaltenen Reste des römischen Kastells Boudobrica anzuschauen.
Abends mache ich mir Gedanken über die weitere Route für die kommenden drei Tage. Von Boppard nach Oberwesel sind es laut Wanderführer fast dreißig Kilometer, und dann folgt eine Etappe, die nach 22 Kilometern im Wald ohne Übernachtungsmöglichkeit und ohne öffentliche Verkehrsmittel endet. Die darauffolgende Etappe beginnt dann wieder an derselben Stelle. Keine realistische Wegführung! Ich brüte deshalb eine neue Route aus: Von Boppard mit der Bahn nach Oberwesel und von dort abweichend vom Rheinhöhenweg tiefer in den Hunsrück hinein, wo es eine Übernachtungsmöglichkeit geben soll. Anschließend Richtung Bingen, wobei ich zwischendurch wieder auf den Rheinhöhenweg stoßen müsste. Die Grundlagen meiner Routenplanung sind die Generalkarte 1 : 200 000, die im Navi gespeicherte topografische Karte 1 : 25 000 von Deutschland, der Wanderführer Rheinhöhenweg und mein Logbuch. Das Logbuch habe ich vor Antritt der Reise geschrieben. In einem A5-Heft habe ich die wesentlichen Orte notiert, durch die ich auf der Wanderung kommen müsste und was ich mir dort anschauen sollte. Außerdem habe ich Hinweise auf Hotels und Pensionen eingetragen, allerdings ohne Anschrift oder Telefonnummer, denn das passt nicht zum Charakter einer solchen Tour. Ein wenig Abenteuer sollte schon noch dabei sein, und wenn es nur die Suche nach einer Unterkunft ist. Das Logbuch schreibe ich jetzt täglich als Tagebuch weiter.

Rheinschleife bei Boppard
Der neue Routenplan erfordert, dass ich mir an einem Automaten der Deutschen Bahn eine Fahrkarte kaufe, wozu in meinem bisherigen Leben als eingefleischter Autofahrer keine Notwendigkeit bestand. Deshalb gehe ich hinüber zum Bahnhof und vertiefe mich in die Bedienung eines Kartenautomaten. Erfreut stelle ich fest, dass es selbst einem mäßig begabten Senior nach zwei Vierteln Riesling möglich ist, eine Fahrkarte für einen gewünschten Bestimmungsort zu erwerben. Beruhigt und weinselig gehe ich zu Bett.
Planmäßig bringt mich die Bahn nach Oberwesel, und mit Elan beginne ich den Aufstieg zur Burg Schönburg hoch über dem Rheintal. Als ich durchschwitzt die Hochebene erreiche, habe ich schon circa 350 Höhenmeter geschafft. Von hier oben habe ich einen schönen Blick über die steilen Weinberge hinab zum Rhein mit der fernen Pfalz bei Kaub im Morgendunst. Der Wanderführer hat dafür die Bezeichnung »Tiefblick«.
An einem Bauernhaus lerne ich die dort verewigten Wetterregeln für den Weinbau:
Sind im Januar die Bäche klein, gibt im Herbst es guten Wein Pfingstregen – Weinsegen
Mariä Himmelfahrt Sonnenschein, bringt uns viel und guten Wein Wenn gedeihen soll der Wein, muss der Juli trocken sein
Einer Traub’ und einer Geiß, wird’s im September nie zu heiß
(anstelle einer Geiß zeigt die zugehörige Zeichnung allerdings eine Bäuerin)
Überaus störend sind heute Schwärme von kleinen, schwarzen Fliegen um mich herum, die sich, wenig angenehm, in Nase und Ohren niederlassen.
Ich wandere auf einsamen Asphaltstraßen. Keine Autos – nur ein Reh kreuzt in der Mittagshitze den Weg. In Erbach mache ich Rast bei einem Springbrunnen. Ein kühlender Wind macht die Sonne erträglich und ich schlafe kurz ein. Das ist genau die richtige Art zu wandern.
Als ich in den Ort namens Dichtelbach erreiche, gehe ich einfach in Richtung Kirche und komme dadurch direkt zu einer Pension, deren Wirtin gerade vor der Tür steht. So bekomme ich schon am frühen Nachmittag eines der wenigen freien Zimmer. Bis hierhin hat sich also mein neuer Routenplan bewährt.
Ich unterhalte mich mit der Wirtin über den Räuber Johannes Bückler alias Schinderhannes, der im Hunsrück bei vielen Menschen noch allgegenwärtig ist. Die gute Frau hat eine sehr abgeklärte Meinung über diesen Räuber, der ihrer Ansicht nach den Armen gar nicht geholfen hat, sondern eben nur ein ganz gemeiner Verbrecher war. Geköpft wurde er übrigens am 21. November 1803 in Mainz. Wer seine Biografie liest, wird feststellen, dass es ein überaus grausiges Ende war.
Beim Frühstück sitzen am Tisch gegenüber fünf junge Männer in Arbeitskleidung und unterhalten sich in einer mir unbekannten Sprache. Sie verabschieden sich beim Gehen höflich von der Wirtin, und ich frage sie anschließend nach der Herkunft dieser Männer. Es sind Letten, die in einer Fabrik in der Nähe arbeiten und hier wohnen. Sie kennt jeden mit Namen, und da sie offenbar stets die selbe Sitzordnung einnehmen, geht die Wirtin von Stuhl zu Stuhl und sagt: »Hier sitzt der … und hier der …«. So hat jeder leere Stuhl einen Namen. Ich komme mir vor wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen. Die fünf Letten sind bei dieser Wirtin sicherlich gut aufgehoben.
Sie berichtet mir auch, dass es im Hunsrück – wie auch in Bayern – immer schwieriger wird, der zunehmenden Anzahl von Wildschweinen Herr zu werden. Sie finden in den Wäldern genügend Eicheln, und im Sommer machen sie sich in den Maisfeldern breit. Vor die Flinte geraten sie deshalb immer seltener, und so gibt es die auf der Speisekarte aufgeführte Wildschweinsülze schon seit längerem nicht mehr.
Meinen Weiterweg habe ich im Navi programmiert, nur endet der auf der topografischen Karte verzeichnete Pfad, auf dem ich zahlreiche Wildschweinfährten sehe, irgendwann im Nichts. Da ich nicht wieder zurückgehen will, muss ich mich durch dichten, weglosen Fichtenwald kämpfen. Mit Hilfe des Navis und seines Kompasses komme ich schließlich auf einen guten Waldweg und bald auf eine Anhöhe mit weitem Rundblick. Irgendwo zwischen den Hügeln fließt der Rhein, von hier aus unsichtbar. An einer Wegkreuzung stehen zwei Wegweiser mit insgesamt elf Richtungsschildern. Darunter glücklicherweise eines, das zu meiner Zwischenstation zeigt, der Lauschhütte. Dort informiert eine große Tafel über das »Ökosystem Freileitungstrasse«. Der Binger Wald wird hier nämlich von Hochspannungsleitungen durchschnitten. Der zuständige Energieversorger hat dies zum Anlass genommen, darüber zu informieren, dass eine solche Trasse das Ökosystem nicht etwa zerstört, sondern dass die Natur sich hier ein neues Ökosystem geschaffen hat. Natürlich ist das Ganze sehr positiv dargestellt. Andererseits wird aber anhand einfacher Beispiel aufgezeigt, dass sich notwendige Infrastrukturbauten mit der Umwelt in Einklang bringen lassen. Ich halte diese Form der Unterrichtung der Allgemeinheit für eine gute Idee und ein nachahmenswertes Beispiel.
Kurze Zeit später komme ich zum Salzkopf mit einem beeindruckenden Aussichtsturm, ganz aus Holzbalken gebaut. Er bietet einen Panoramablick über die Baumwipfel hinweg bis zur Eifel und zum Taunus. Auch ein Stück vom Rhein ist tief unten zu sehen.
Das ist das Besondere am Rheinhöhenweg: Man geht Stunden lang durch tiefe Laubwälder und stößt dann immer wieder auf unerwartete, schöne Aus- und Fernblicke. Über die öfters unzulängliche Markierung muss ich nicht meckern, denn schließlich ist es mein primäres Ziel, den Weg der Nibelungen nachzugehen. Dass ich dabei den Rheinhöhenweg benutze ist reine Bequemlichkeit, denn sonst hätte ich eine eigene Route ausfindig machen müssen, die vielleicht nicht viel anders gewesen wäre.
Wie ich da oben auf dem Turm stehe, fällt mir auch ein, wie leichtsinnig es eigentlich ist, meinen Rucksack mit allen Wertsachen unten liegen zu lassen. Jeder, der vorbeikommt, könnte mit ihm davonlaufen, und ich müsste von oben herab hilflos zusehen. Aber es gibt hier keine Räuber. Es gibt nicht einmal Wanderer, denn ich habe schon seit Tagen unterwegs keinen Menschen mehr getroffen.
Der Wald wird hier offenbar stark forstwirtschaftlich genutzt, aber verrottende Eichenstämme am Wegesrand sollten es nicht sein! Mir will sich der volkswirtschaftliche Nutzen nicht erschließen, der darin liegen soll, stattliche Eichen zu fällen, die Äste zu entfernen, die Stämme aus dem Wald herauszuschaffen und auf gleiche Länge zu sägen, nur um sie anschließend auf einem Stapel verfaulen zu lassen. Hinzu kommt, dass Holz beim Verfaulen ebensoviel CO2 frei setzt wie der Baum in seinem Leben aus der Atmosphäre gebunden hat. Da hätte man die Eichen gleich verbrennen und die dabei entstehende Hitze nutzen können.
Mein Gedankengang wird durch eine Bronzetafel an einem Findling unterbrochen, die zum Andenken an einen Waidmann vor über einhundert Jahren hier angebracht wurde. Woran mag der Jäger wohl gestorben sein? Ich verkürze mir die Zeit damit, mir verschiedene Todesarten auszudenken und beschließe endlich, dass der Jäger von einem waidwunden Hirsch zu Tode geforkelt wurde. Ich bin richtig stolz auf diesen Einfall, auf den Ludwig Ganghofer wahrscheinlich neidisch gewesen wäre. Wer Ganghofer nicht kennt: Der lebte in der Zeit, in der dieser Waidmann hier zu Tode kam, und hinterließ der Menschheit so bedeutsame Werke wie Der Edelweißkönig, Der Jäger von Fall oder Der Dorfapostel, um nur einige zu nennen.
Vor dem Abstieg nach Bingen gibt es eine weitere Gedenktafel für einen Jäger. Diesmal ist die Todesursache angegeben: Er wurde 1920 »durch ruchlose Hand erschossen«. Das erspart mir, erneut eine Todesart erfinden zu müssen.
In Sichtweite der tausendjährigen Drususbrücke überquere ich die Nahe und gelange so nach Bingen, wo ich direkt am Rhein ein Hotelzimmer bekomme. Da die Geschäfte noch offen haben, beschließe ich, mir bei einem Friseur einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt verpassen zu lassen. Als ich bezahle und der jungen Friseurin ein Trinkgeld gebe, bedankt sie sich zu meiner Verblüffung mit einem Knicks. Noch nie hatte eine Frau vor mir einen Knicks gemacht! In gehobener Stimmung verlasse ich das Geschäft und suche mir ein Gasthaus für ein frühes Abendessen.
Ich bin jetzt zwölf Tage unterwegs. Eigentlich kein Grund, darauf besonders hinzuweisen. Wenn es nicht die Zahl Zwölf wäre, denn die kommt im Nibelungenlied so oft vor, dass es kein Zufall sein kann. So sieht es für mich jedenfalls auf den ersten Blick aus.
Fast alle Strecken wurden innerhalb von zwölf Tagen zurückgelegt, sei es die Fahrt nach Island oder der Ritt von Pöchlarn nach Worms durch Rüdiger von Bechelaren. Und jeweils zwölf Recken begleiteten Siegfried und Dietrich von Bern. Also eine versteckte Zahlensymbolik im Nibelungenlied? Bei den zwölf Begleitern lässt sich das sofort verneinen. Man denke nur an die zwölf Apostel, die zwölf Liktoren, welche die römischen Konsuln begleitet haben, oder an Karl den Großen mit seinen zwölf Paladinen.
Mit den Zeitangaben ist es auch einfach, denn die kann man ja überprüfen. Von Pöchlarn nach Worms sind es etwa siebenhundert Kilometer, was bei zwölf Tagen einen Tagesdurchschnitt von 58 Kilometern macht. Das wäre laut Norbert Ohler Reisen im Mittelalter die Tagesleistung eines sehr eiligen Reiters. Könnte man also gelten lassen. Wenn ich das Nibelungenlied richtig verstehe, haben Wärbel und Swemmel sogar die gesamte Strecke von Esztergom bis Worms in zwölf Tagen geschafft – das wären mehr als eintausend Kilometer. Joachim Fernau kommentiert dies in seinem Buch Disteln für Hagen ironisch mit den Worten: »Schade, dass diese Pferderasse ausgestorben ist.«
Fußgänger kommen im Nibelungenlied nicht vor, wenn man von dem Kaplan absieht. Da muss ich schon auf die Sage von Walther und Hildegund zurückgreifen, die von Attilas Hof geflohen und zu Fuß unterwegs waren. Die Gegend um Worms erreichten sie nach vierzig Tagen, was einer Tagesleistung von knapp 27 Kilometern entspricht. Das ist sehr stramm aber nicht unmöglich, besonders wenn man von hunnischen Häschern verfolgt wird. Mal sehen, wie lange ich brauchen werde. (Ich kann es an dieser Stelle schon verraten: Ich habe 51 Tage gebraucht, musste aber auch nicht um mein Leben rennen)
Fazit: Im Nibelungenlied scheint sich keine Zahlensymbolik zu verbergen, und ich kann mich an meinem zwölften Wandertag ohne schwerwiegende Gedanken zur Ruhe begeben.
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