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Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der gesamten Schrift sind die dort auftretenden Personen. Die schillerndste Gestalt ist zweifellos der einzige, frei erfundene Charakter: Raphael Hythlodaeus. Ein erster Zugang erschließt sich über seinen Nachnamen. Dieser nämlich enthält – wie schon die Utopia-Wortschöpfung – zwei griechische Begriffe: „hýthlos“ heißt Posse oder Geschwätz; bei dem Wort „dáios“ ist allerdings die Betonung entscheidend: dāios (mit langem a) heißt „feindlich“, demzufolge wäre Raphael der Feind des Geschwätzes oder eben: der inhaltsschwere, weise Philosoph. Liest man jedoch dăios (mit kurzem a), wie es die meisten Interpreten tun, dann erhält man Raphael, den Schwätzer und Possenerzähler, denn das Wort bedeutet so viel wie „erfahren“ oder „kundig“.40 Dass allein damit das Vorzeichen der gesamten Utopia-Schilderung wechselt, liegt auf der Hand. Doch nicht einmal das ist wirklich eindeutig: Selbst bei einer unzweideutigen Übersetzbarkeit könnte der Name im Sinne humanistischer Satire noch immer ironisch gemeint sein.
Im Text wird Hythlodaeus zunächst vorgestellt als ein ehemaliger Reisebegleiter des Amerigo Vespucci. Morus hält ihn deshalb anfänglich für einen Seemann, doch Gilles entgegnet ihm: „Weit gefehlt! (…) Jedenfalls fährt er nicht zur See wie Palinurus, sondern wie Odysseus oder, besser gesagt, wie Platon.“ 41 Der Platon-Vergleich, die Seefahrt und die Weltentdeckung sind unverkennbar Hinweise und Metaphern für philosophische Wahrheitssuche. Der Verweis auf Platon bereitet zudem Raphaels Thema vor: die Frage nach dem „besten“ Staat. Konzipiert ist die Figur als deutliche Kontrastfolie zu den übrigen Personen der Erzählung. Im Gegensatz zu Morus und Gilles kennt Raphael weder private noch berufliche Pflichten. Auch sein gesamtes Vermögen hat er bereits zu Lebzeiten seinen nächsten Verwandten vererbt, um sich auf diese Weise von jeder sozialen Verantwortung freizukaufen.
Darüber hinaus ist Raphael ein großer Vereinfacher. Ablesen lässt sich das an seinem Diktum, wonach alle Besitzenden unnütz und frevelhaft seien, Arme und Besitzlose dagegen prinzipiell bescheiden und gut. Mit der Abschaffung des Geldes, so Raphael, werde auch die Geldgier verschwinden und damit zugleich Betrug, Raub, Mord, Streit, Furcht und Sorgen.42 Hythlodaeus verkürzt nicht nur gern, bisweilen verfängt er sich sogar in groteske Widersprüche. So entwirft ausgerechnet er – die Losgelöstheit in Menschengestalt – das Bild eines Gemeinwesens, in dem das Kollektivinteresse über jede individuelle Selbstbestimmung triumphiert. Ferner besitzt Raphael eine besondere Vorliebe und Gabe, um von politischen Einrichtungen fremder Länder zu berichten. Auf der Insel Utopia gelten Diskussionen über Politik, außerhalb von Senat und Volksversammlungen, allerdings als Hochverrat.43 Raphael ist zudem ein Weitgereister; in Utopia aber muss man sich für jedes Verlassen des Wohnbezirks einen Erlaubnisschein holen und reist im Normalfall in der Gruppe. Außerdem besteht Raphael während seiner Ausführungen explizit darauf, nur von den „Einrichtungen zu berichten, nicht aber diese zu rechtfertigen.“ 44 Gegen Ende seiner Rede formuliert er jedoch ein derart flammendes Plädoyer für die Utopier, dass er seine angeblich neutrale Haltung damit völlig ad absurdum führt.45 Fast noch kurioser ist die Diskussion um die Todesstrafe: Im ersten Buch der Utopia begründet Hythlodaeus seine Ablehnung, selbst Diebe zum Tode zu verurteilen, mit so grundsätzlichen, christlich-humanistischen Argumenten, dass eine Revision seines Standpunkts nicht mehr möglich scheint: „Gott hat verboten zu töten, und wir töten so leicht wegen eines entwendeten Groschens (…). Nun hat uns Gott aber nicht nur die Verfügung über das fremde, sondern auch über das eigene Leben entzogen.“ 46 Nur kurz darauf lobt Raphael allerdings beim Volk der Polyleriten, und später dann auch bei den Utopiern selbst, die dort praktizierte Todesstrafe.47 Überdies kennen die Utopier sogar die staatlich erlaubte, ja geförderte Euthanasie.
Die gesamte Utopia würde man indes kräftig missverstehen, wollte man Hythlodaeus nur als eine literarische Karikatur interpretieren. Trotz all der unübersehbaren Widersprüche, weisen ihn seine Argumentationen bisweilen als höchst kompetenten Beobachter und Kritiker aus. Seine Kenntnisse der englischen Verhältnisse um 1500 und die unterbreiteten Lösungsvorschläge sind zum Teil von solcher Ernsthaftigkeit und so hohem Realitätssinn, dass man in Raphael nicht einfach die Parodie eines selbstgerechten Menschentyps sehen darf. „Schafft diese verderblichen Seuchen aus der Welt!“, so fordert Hythlodaeus: „Schränkt diese Ankäufe der Reichen ein und die Möglichkeit, sie wie ein Monopol zu handhaben! Laßt nicht so viele vom Müßiggang leben! Stellt die Landwirtschaft wieder her! Belebt die Wollspinnerei! Somit hättet ihr ein ehrliches Gewerbe, in dem sich diese müßige Schar nützlich betätigen könnte: einmal die Leute, die die Not bisher zu Dieben machte, dann auch die, die jetzt als Landstreicher oder faulenzende Dienstleute herumlungern, beides zweifellos künftige Diebe.“ 48 Anflüge von Ironie sind dabei nicht erkennbar. Zudem hatte Raphael bereits im ersten Buch eine Theorie des guten Herrschers entwickelt, die sich vollkommen und nachweislich mit Morus’ persönlichen Ansichten deckt.49 Raphael mag phasenweise wie ein verbohrter und wirklichkeitsfremder Idealist erscheinen; bisweilen fungiert er jedoch unzweifelhaft als das Sprachrohr des Morus. In der Figur des Hythlodaeus liegt im Grunde der gesamte Reiz des Utopia-Projekts verborgen. Der gleiche Raphael, der sich in so viele Widersprüche verfängt, trägt auch die harsche Sozialkritik sowie alle in der Utopia entwickelten Reformperspektiven vor. Hieraus leitet sich seine zentrale Funktion für das gesamte Werk ab, weil der Leser jederzeit zur Vorsicht und zur Prüfung des Vorgetragenen aufgerufen bleibt.
Eine ähnliche Stellung kommt auch der Morus-Figur der Erzählung zu. Diese formuliert über weite Strecken Positionen des Autors, etwa wenn Morus im Streit um die Fürstenberatung Vorbehalte gegenüber der weltfremden „Schulphilosophie“ des Hythlodaeus erhebt oder wenn er bezweifelt, dass die Abschaffung von Geld und Privateigentum zu öffentlichem Reichtum führt.50 Der fiktive Morus wendet sich gegen zentrale Einrichtungen des utopischen Staates und ist damit als Korrektiv zu Hythlodaeus’ Erzählung von nicht unwesentlicher Bedeutung. Trotzdem bleibt Vorsicht geboten. Die Dialogfigur ist beispielsweise nicht in der Lage, die sprechenden Namen der Personen und Orte zu deuten. Ferner wird in der Schlussszene zu Bedenken gegeben, dass durch die Einrichtung des Kollektiveigentums doch „aller Adel, alle Erhabenheit, aller Glanz, alle Würde, alles, was nach allgemeiner Ansicht den wahren Schmuck und die wahre Zierde eines Staatswesens ausmacht, vollständig ausgeschaltet“ werde.51 Wenn Morus seine Zweifel allerdings nicht mit der „eigenen“, sondern mit der „allgemeinen Ansicht“ begründet, dann mag die Satire durchaus erkennbar sein, vor allem, wenn man halbwegs mit Morus’ Haltung gegenüber der Prunksucht an den europäischen Fürstenhöfen vertraut ist. An dieser Stelle spricht nicht der Autor, er hat vielmehr seiner Dialogfigur die Maske der „öffentlichen Meinung“ aufgesetzt und diese wird ganz offensichtlich selbst das Opfer einer Täuschung. Man kann Morus hier ein ähnliches Vorgehen unterstellen, wie es die von ihm geschätzten römischen Satiriker Horaz und Juvenal praktizierten. Auch diese werden in den eigenen Werken bisweilen zu Reingefallenen und machten sich selbst zur Zielscheibe des Spotts.52
Zusammengefasst heißt das: Keine der Figuren der Utopia ist eine eindeutige und geschlossene Gestalt. Im Laufe des Dialogs widersprechen sich die Figuren nicht nur gegenseitig, sondern mitunter sogar sich selbst. Auch trägt die formale Struktur dazu bei, dass keine Person eine argumentative Überlegenheit gewinnt. Bereits Hubertus Schulte Herbrüggen hat daher mit Recht darauf verwiesen, dass die Frage, welche der beiden Figuren die Ansicht des Verfassers repräsentiert, falsch gestellt ist. Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Ansicht spricht aus dem Zusammen- und Gegenspiel der beiden Erzähler?53 Die spielerische Komplexität der Utopia erschließt sich also keineswegs auf Anhieb. Was beim ersten Lesen für leicht verständlich, eindeutig und unmittelbar einsehbar erscheint, das beginnt seine Wirkung oft erst zu entfalten, wenn man die Einzelteile des Werkes in Beziehung setzt und als Leser in einen „infiniten Prozeß des Auslegens, des Kombinierens und Abwägens hineingezogen wird.“ 54 Dieses diskursive Anliegen kennt gleichwohl einen roten Faden, der im Folgenden näher verdeutlicht werden soll.
2.3Das Experiment: Vernunft als Staatsprinzip
Man kann die Utopia als ein höchst ambivalentes „Lob der Vernunft“ auffassen. In enger und wohl auch durchaus gewollter Analogie zum Lob der Torheit seines Freundes Erasmus55 ist das Werk in gewisser Weise sogar eine Art Komplementärschrift. Sie lobt aber nicht wie Erasmus’ „Torheit“ – mal ernst, mal ironisch – die menschlichen Affekte und Leidenschaften, sondern ihren Widerpart: die Vernunft. Nichts existiert in Utopia, das nicht ausdrücklich rational erklärt wird oder sich zumindest rational erklären ließe. Bei genauerer Betrachtung wird zudem offenbar, dass es sich um eine ganz bestimmte Qualität der Vernunft handelt. Nicht weniger häufig, wie eine Einrichtung oder Sitte als vernünftig gelobt wird, ist zu hören, sie sei nützlich. Und für vernünftig halten die Utopier vor allem, was den Gesamtnutzen des Gemeinwesens maximiert. Die Utopia erprobt die utilitaristische Rationalität in allen gesellschaftlichen Bereichen – mit allen positiven, aber auch, was gerne übersehen wird, mit allen negativen Konsequenzen.
Voraussetzung für das Vernunftexperiment ist zunächst die Isolation des Gegenstandes. Gleich zu Beginn des zweiten Buches berichtet Raphael deshalb, dass der Gründungsfürst Utopos vor 1760 Jahren die Halbinsel Abraxa vom Festland durch einen 15 Meilen breiten Graben abtrennen ließ.56 Zudem ist die Insel durch natürliche Hindernisse sowie künstliche Verteidigungsanlagen bestens geschützt. Um die Möglichkeit des experimentellen Erkundens zu gewährleisten und um die wirkenden Kräfte mit ihren kausalen Folgen beschreiben zu können, bedarf es offenbar einer Versuchsanordnung, die das Funktionieren des Systems von störenden Fremdeinflüssen isoliert.
Der genaue geografische Ort der Insel bleibt ungeklärt. Man erfährt lediglich, dass Utopia jenseits der unwirtlichen Äquatorlinie und in der Nähe des neuen Kontinents liegt. Die eher begrenzten natürlichen Ressourcen sorgen bei den Utopiern für ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zur Natur, das ganz auf ihre Verwertbarkeit gerichtet ist: Es dokumentiert sich beispielsweise darin, dass ganze Wälder von Menschenhand abgeholzt und mit Blick auf Ertrag und Transportverhältnisse an anderer Stelle wieder aufgeforstet werden.57 Auch die gesamte Infrastruktur betont die Funktionalität. Die Städte liegen nie weiter als einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Die „Straßen sind zweckmäßig angelegt“, die Gehöfte auf dem Lande sind „planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt“ und das „Ackerland ist den Städten (…) zweckmäßig zugeteilt.“58 Die Hauptstadt Amaurotum heißt übersetzt so viel wie „Nebelstadt“ und ist damit eine deutliche Anspielung auf London. Doch mit den zeitgenössischen Städten hat Amaurotum nicht viel gemeinsam: Waren die historisch gewachsenen, frühneuzeitlichen Städte mit ihren verwinkelten Gassen und dicht an dicht gebauten Häusern stets ein Hort der Brandgefahr, des Schmutzes und der Epidemien, so verkörpern die utopischen Städte nachgerade das exakte Gegenteil: Die langen, ausladenden Straßen, die ausgebaute Trinkwasserversorgung und nicht zuletzt die geschilderten Glasfenster, anstelle der im 16. Jahrhundert üblichen Öl- und Wachstücher – all dies vermittelt nicht nur symbolisch ein Bild der Helligkeit und Fürsorge, sondern ist insbesondere Ausdruck eines ungebremsten Zutrauens in die Leistungsfähigkeit einer technisch-planerischen Vernunft. Es ist zudem ein deutliches Indiz für politische Modernität: Denn soziale Ordnung und politische Herrschaft gelten in Utopia ausschließlich als Menschenwerk; und wie sehr gerade die Insel Utopia ein menschliches „Kunstprodukt“ ist, das zeigt sich schon daran, dass sich ihre Existenz erst dem Abtragen gigantischer Landmassen verdankt.
Im Bereich von Bildung, Erziehung und Wissenschaft drückt sich die Betonung des Rationalen zunächst in der hohen Wertschätzung alles Geistigen aus. Unermüdlich, so erzählt Raphael, seien die Utopier auf geistigem Gebiet. Während Würfel- und Kartenspiele, Faulenzerei und Ausschweifungen verpönt oder gar unbekannt sind, erfreuen sich die morgendlichen Vorlesungen stets einer großen Zahl von Zuhörern. Das Volk verrichtet körperliche Arbeit zwar grundsätzlich mit „der nötigen Ausdauer“ 59, doch zielt letztlich alles in Utopia darauf ab, dass so viel Zeit wie möglich für die geistige Bildung verbleibt. Denn darin, so heißt es, liegt „nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.“ 60 Anders als später bei Francis Bacon, der die Wissenschaft vollständig dem Primat praktischer Verwertbarkeit unterwirft, trägt die Beschäftigung mit geistigen Dingen in Utopia Züge eines selbstzweckhaften Ideals und verlässt damit sichtlich die rein instrumentelle Perspektive. Gleichwohl bestehen die pädagogischen Institutionen nicht allein um ihrer selbst willen. Allen voran leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensprävention. „Wenn ihr nämlich zulaßt“, so hatte Raphael bereits im ersten Buch kritisiert, „daß die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anderes, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“ 61 In Utopia hat man solchen staatspolitischen Dummheiten längst Abhilfe verschafft. Raphaels Schilderung vermittelt vor allem das Bild, wonach die Menschen nicht von Natur zum Bösen bestimmt, sondern vielmehr durch schlechte Normen, schlechten Umgang und falsche Erziehung erst zu Kriminellen gemacht werden.
Einem ausgesprochen positiven Vernunftbegriff folgt auch die Ethik der Utopier. Anders als später in der modernen Naturrechtslehre stehen allerdings nicht menschliche Würde oder vorstaatliche Rechte im Mittelpunkt, sondern die Frage, worauf „das Glück des Menschen“ beruhe. Die Antwort qualifiziert das ethische Konzept als ein weitgehend eudämonistisches Modell, denn ausdrücklich ist es die „Lust“, in der die Utopier „das menschliche Glück überhaupt oder doch dessen entscheidendsten Grund sehen.“ 62 Freilich ist das Glücks- und Luststreben keine wahllose Suche nach immer neuer und möglichst häufiger Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Plakativ formuliert: Morus’ Utopier sind Eudämonisten, nicht Hedonisten. Die falschen Bedürfnisse sollen den wahren Freuden nicht im Wege stehen. Als ein solch falsches Bedürfnis gelten den Utopiern zum Beispiel die Gier, sich wegen persönlichen Reichtums mit „eitlen und sinnlosen Ehrenbezeigungen“ 63 bewundern zu lassen. Was die Mehrzahl der Menschen für gewöhnlich begehrt – Schmuck, Kleider, Edelsteine, Ehre, Adel – all das hat nach Ansicht der Utopier mit dem wahren Wert der Dinge nichts gemein. Die Orientierung an der utilitaristischen Rationalität übertragen die Utopier daher auch auf die Wertigkeit natürlicher Ressourcen. „Nur (…) die Torheit der Menschen (hat) der Seltenheit einen besonderen Wert beigemessen. Die Natur dagegen hat wie eine gütige Mutter gerade das Beste am zugänglichsten gemacht: die Luft, das Wasser, den Ackerboden“ 64. Zur Gänze unbegreiflich ist den Utopiern folglich, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“ 65. Für diese verquere Logik haben die Utopier kaum mehr als Spott und Verachtung übrig. Bezeichnenderweise machen sie aus ihren Goldbeständen Ketten für die Gefangenen und Nachtgeschirr.66
Das deutlichste Beispiel einer dezidiert utilitaristischen Ethik liefert schließlich das Institut der Euthanasie: Wenn dem menschlichen Leben keine Freude mehr abzugewinnen und die Nutzlosigkeit des Weiterexistierens für alle Beteiligten offenkundig geworden sei, dann soll der Betreffende ohne Furcht, aber voller Hoffnung aus dem Leben treten.67 Das ethische Fundament der Utopier ist folglich kein christlicher, sondern ein ausschließlich vernünftiger Moralkodex. Auffallend ist jedoch zugleich, dass die geschilderten Vernunftkonzeptionen in den Bereichen Ethik und Landesplanung nicht vorbehaltlos in ein widerspruchsfreies Bild zu fügen sind: Das Verhalten, mittels Vernunft die Natur zu kontrollieren und sie den eigenen Nützlichkeitsvorstellungen gemäß zu beherrschen, verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Auffassung, sich vollkommen in die natürliche Ordnung zu integrieren und die Stimme der Natur dabei als Weisung der Tugend und Vernunft gleichermaßen zu deuten.
Wie kaum ein anderer Lebensbereich ist schließlich die Wirtschafts- und Sozialordnung unter die Bedingung einer gemeinwohlorientierten Nutzenmaximierung gestellt. Dem weitgehenden Luxusverzicht steht ein Überfluss an notwendigen Gütern der Grundversorgung gegenüber. Es herrscht allgemeine Arbeitspflicht – für Männer wie Frauen. Essen gibt es nur gegen geleistete Arbeit und so kennen die Utopier weder Tagediebe noch Bettler, weder untätige Großgrundbesitzer noch faule Ordensbrüder. Eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden reicht aus, „um alles das bereitzustellen, was unentbehrlich oder nützlich“ ist.68 Der eklatante Gegensatz zu den von Raphael im ersten Buch geschilderten Zuständen in Europa ist kein Zufall; der Kontrast ist zweifellos gewollt. Das beständige Insistieren auf die allgemeine Nützlichkeit wird schließlich bis zur Absurdität gesteigert: Ist ein Utopier auf Reisen, so muss er spätestens am zweiten Tag bei einem Kollegen seinem Beruf nachgehen, will er etwas zu essen erhalten. Das ist eine Forderung, die sich in der Realität so wenig umsetzen lässt, dass sie beinahe unvernünftig anmutet. Auch besitzen die Utopier Brutmaschinen zum Zwecke der Hühnerzucht. Mögen dies auch hocheffiziente Mittel sein, so waren doch derartige Dinge für Morus’ Zeitgenossen noch so fremd, dass man sie als reine (nutzenmaximierende) Fantasiekonstruktionen auffassen musste. Darüber hinaus ziehen die Utopier Ochsen den Pferden vor, denn zum einen seien sie ausdauernder, zweitens weniger anfällig für Krankheiten, drittens sei ihr Unterhalt billiger, und viertens könne man sie am Ende noch verspeisen.69 Vergleichbare Ironiesignale und satirisches Spiel gibt es in der Utopia zuhauf. Sie schaffen immer wieder eine kritische, zur Reflexion auffordernde Distanz. Dieses Muster ist ferner eine häufige Quelle des Humors: Mag sich das Verhalten auch für überzogen oder absurd ausnehmen, es folgt ohne Einschränkung einer konsequenten Grundhaltung.
Neben dem Nützlichkeitsdenken ist es der Kollektivismus, der im Bereich von Ökonomie und Gesellschaft konsequent verwirklicht scheint. So praktizieren die Utopier alle zehn Jahre einen Wechsel ihrer Häuser, deren Türen sich jederzeit von jedermann öffnen lassen: „so gibt es keinerlei Privatbereich.“ 70 Auch Privateigentum ist den Utopiern fremd: Produktion, Güterverteilung und Arbeitsorganisation basieren nicht auf der Realisierung individuellen Gewinnstrebens, sondern auf kollektiver Planung. Im Gegensatz zu Platon, der die Gütergemeinschaft zum Privileg der obersten Stände erklärte, gilt der Kommunismus in Utopia für alle.71
Raphaels flammendes Plädoyer für das Gemeineigentum der Utopier war häufig Anlass zur Vermutung, Morus habe mit seiner Utopia eine dezidiert kommunistische Weltanschauung propagieren wollen. In Wahrheit hat Morus aber rechtmäßig erworbenes Eigentum nicht nur mehrfach verteidigt, sondern auch in einer Spätschrift dem Reformator und englischen Bibelübersetzer William Tyndale „schreckliche Häresien“ vorgeworfen, weil dieser behauptet habe, die von Gott gegebenen Güter und das Land müssten dem Evangelium zufolge allen Menschen gemeinsam gehören.72 Auch in der Utopia selbst widerspricht der Dialog-Morus dem Kommunismus an zwei Stellen des Textes und macht sich dabei das traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Argument gegen den platonischen Kommunismus zu eigen: Neben der Schlussszene 73 gibt er schon im ersten Buch zu bedenken: „Mir dagegen (…) scheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“ 74 Raphael begegnet diesem Einwand lediglich mit der paradoxen Bemerkung: Morus hätte mit ihm in Utopia sein sollen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Den Zweifel kontert Raphael also weder mit einer Erklärung, geschweige denn mit einem einzigen Argument. Vielmehr antwortet er mit dem Verweis auf die Existenz Utopias, von der der Leser weiß, dass sie nur im Kopf des Autors existiert. Raphaels radikale Position scheint damit weitgehend als wirklichkeitsfremd entlarvt. So wenig der konsequente Produktions- und Güterkommunismus mit Morus’ persönlichen Ansichten vereinbart scheint, so sehr fügt er sich doch in das Porträt der strikt kollektiven Lebensweise der Utopier.
Mit Blick auf die sozialen Strukturen der Utopier ist zunächst auffallend, wie sehr der Familienverband die Keimzelle des gesamten gesellschaftlichen Lebens ist. Ehepartner wegen körperlicher Gebrechen oder Krankheit zu verstoßen, zieht lebenslanges Heiratsverbot nach sich. Ehebrechern droht Zwangsarbeit, im Wiederholungsfall wartet sogar die Todesstrafe. Dennoch praktizieren die Utopier ein vergleichsweise liberales Eherecht, das dem christlichen Sakramentsgedanken stracks zuwiderläuft. Scheidung und Wiederverheiratung ist prinzipiell erlaubt, sofern beide Partner und der Senat ihr Einverständnis erklären. Satirisch überzeichnet ist dagegen eine andere Sitte: Die heiratswilligen Utopier werden vor der Hochzeit einander nackt präsentiert, um zu verhindern, dass sich später Enttäuschung breit macht, schließlich würde man selbst „beim Kauf eines elenden Gauls“ nicht anders verfahren.75 Insgesamt ist die große Bedeutung von Ehe und Familie zweifellos ein konservatives und traditionalistisches Element, das über weite Strecken mit christlich-mittelalterlichen und auch mit Morus’ eigenen Wertmaßstäben in Einklang steht. Wenn Raphael dann allerdings schildert, dass die durchschnittliche Familie in den Städten Utopias zehn bis 16 erwachsene Mitglieder zählt und dass bei Überschreiten der Höchstzahl Kinder an kleinere Familienverbände abgegeben werden,76 dann prallen zwei völlig unterschiedliche Vernunftkonzeptionen aufeinander. Die staatliche Direktive, Kinder aus ihren Familien zu reißen, nur weil die Quantitäten nicht dem staatlich verfügten Optimum entsprechen, kommt einem Generalangriff auf alle natürlich gewachsenen Sozialstrukturen gleich. Die Maßnahme mag als rigide Überzeichnung politisch-administrativer Lenkungsmethoden des Staates gelten. Und das berechtigt zu dem Schluss, dass hier offensichtlich erneut nicht eine ernst gemeinte Reformperspektive vorgetragen, sondern vielmehr die Konsequenz eines gedanklichen Prinzips ausgemalt wird.
Aus der mathematisch-geometrischen Familien- und Landesstruktur geht auch das politische System im engeren Sinn hervor: Je 30 Familien wählen sich jährlich einen Syphogranten; je zehn dieser Vorstände einen Traniboren. Alle Syphogranten, 200 an der Zahl, wählen in geheimer Abstimmung einen von vier, durch das Volk nominierten Kandidaten zum Oberhaupt einer Stadt. Dieser Wahlmonarch amtiert für gewöhnlich lebenslang; sofern er jedoch tyrannische Züge entwickelt, kann er abgesetzt werden. Die Traniboren, für jeweils ein Jahr gewählt, bilden den Senat, der zudem die höchste richterliche Instanz verkörpert. Schließlich kennen die Utopier noch einen „Rat der gesamten Insel“, über den aber kaum etwas ausgesagt wird, außer dass er sich einmal jährlich aus jeweils drei erfahrenen Bürgern der 54 Städte zusammensetzt. Auffallend ist, dass auch von anderen überregionalen Staatsorganen keine Rede ist. Es scheint, als würden die Utopier hauptsächlich von städtischen Senatsversammlungen regiert. Dass es noch einen König gibt, analog zum Verfassungsgeber Utopos, ist höchst unwahrscheinlich. Morus begnügt sich mit der Schilderung der lokalen Verwaltungspraxis. Obwohl die utopischen Städte in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollkommen übereinstimmen, basiert ihr politisches System auf einer ausgeprägten föderalen Struktur.