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Hervorgegangen sind alle Institutionen aus den Prinzipien der Wahl und der Repräsentation. Die Bezeichnung „liberale Demokratie“ würde allerdings in die Irre führen, denn es gibt keine erklärte Privat-, geschweige denn eine kodifizierte Sphäre von Grund- oder Bürgerrechten. Aufgabe der politischen Institutionen ist nicht die Ausführung eines erklärten Bürgerwillens, sondern weit mehr Überwachung und Kontrolle: So ist eine zentrale Funktion der Syphogranten, dafür Sorge zu tragen, dass niemand müßig herumsitzt. Die Syphogranten sind darüber hinaus die einzige Gruppe, die nicht zwingend jener Gelehrtenkaste – den 500 von der Arbeit freigestellten Wissenschaftlern einer Stadt – angehören, aus der sich ansonsten das politische Führungspersonal rekrutiert. Die Regierungsform qualifiziert sich insofern als Mischung aus Gelehrtenaristokratie und Demokratie und es scheint, als habe hier die Idee der platonischen Philosophenherrschaft zumindest teilweise Pate gestanden. Nicht zuletzt aber ist die politische Ordnung das Konstrukt einer strikt rationalen Herrschaftspraxis. Der Politikbegriff ist kein rein politischer, sondern soziologisch universal: Wirtschaft, Arbeit, Erziehung, Kultur und Herrschaft bedingen und stabilisieren sich gegenseitig. Exemplarisch zeigt sich das am Rechtssystem: Weil die Utopier infolge ihrer vorbildlichen Erziehungseinrichtungen den moralischen Normen aus innerem Antrieb folgen, ist übermäßiger Zwang von außen nicht erforderlich. Die Utopier bedürfen nur wenig der Gesetze und Gerichte, sie hegen Abscheu gegen Regulierungswut und spitzfindige Juristerei und halten grundsätzlich die einfachste Auslegung der Rechtstexte für die richtige.77
Das alles dominierende Prinzip ist allerdings auch in der Strafrechtspraxis der Zweckrationalismus. Generell gilt der Vorrang der Zwangsarbeit vor der Todesstrafe. „Denn einmal nutzen sie durch ihre Arbeit mehr als durch ihren Tod und dann schrecken sie durch ihr warnendes Beispiel andere länger vor einer ähnlichen Missetat ab.“ Die Todesstrafe kennen die Utopier allerdings neben wiederholtem Ehebruch noch bei einem weiteren Vergehen: Wenn Häftlinge sich „widerspenstig und aufsässig verhalten, dann freilich werden sie wie wilde Tiere, die Käfig und Ketten nicht zu bändigen vermögen, totgeschlagen.“ 78 So brutal diese Praxis anmutet, sie ist nicht allein zynischer Natur. Das Vorgehen erscheint noch immer humaner als die von Raphael im ersten Buch so heftig attackierte Behandlung der Bettler und Diebe in Europa. Für die rationalen Prinzipien der Utopier markiert die Todesstrafe auch kein ethisch-systematisches Problem; für die europäischen Christen hingegen, die weitaus häufiger zu diesem Mittel greifen, müsste eigentlich schon die Überzeugung, wonach Gott allein das Leben gibt und nimmt, einer derartigen Praxis vorbeugen. Wenn die Europäer in dieser Frage aber noch deutlich unerbittlicher zu Werke gehen, dann trifft sie die Kritik zweifellos doppelt.
Kein wirklich anderes Bild zeigt sich zunächst auch in Sachen utopischer Außen- und Kriegspolitik – und doch ist in diesem Bereich die Diskussion um die Vernunft auf dramatische Weise zugespitzt. Obwohl gleich zu Beginn des Abschnitts mitgeteilt wird, dass die Utopier den Krieg als etwas Bestialisches verabscheuen, kennen sie eine erstaunlich weit gefasste Skala an Gründen, die einen Krieg rechtfertigen. Sie führen zwar niemals Angriffskriege, doch als zulässig erachten sie: den Verteidigungskrieg, sowohl in eigener Sache wie zugunsten ihrer Freunde; den Befreiungskrieg gegen Tyrannen unterdrückter Völker; den Vergeltungsfeldzug für ihre Verbündeten, der kurioserweise meist aus kapitalistischen Handelstreitigkeiten ihrer Freunde resultiert.79 Und schließlich erscheint ihnen auch noch der Krieg zum Zwecke der Bodennutzung auf fremdem Territorium für legitim. Die Parallelen sind schwerlich zu übersehen: Wie die europäischen Herrscher, so wenden sich auch die Utopier lauthals gegen den Krieg, beschwören ihre Friedensliebe und finden dann allerlei Gründe, um doch zu kämpfen.
Dieses satirische Vorgehen setzt sich in gleicher Weise bei den Praktiken der Kriegsführung fort. Als Maßnahmen bevorzugen die Utopier zum Beispiel Feinde mit Geld zu bestechen, sie zum Verrat in eigener Sache anzustiften und das feindliche Volk durch innere Zwietracht zu zermürben. Ritterliche Tugenden wird man den Utopiern dabei kaum nachsagen wollen, auch wenn ihre Methoden zumindest geeignet scheinen, das Blutvergießen in Grenzen halten. Spätestens wenn jede List versagt, endet aber auch bei den Utopiern der Rekurs auf den humanitären Zweck. Es werden dann – um den eigenen Blutzoll zu vermeiden – fremde Völker in den Kampf gehetzt und Söldner gemietet. Die Söldnertruppen entstammen vor allem dem Volk der „Zapoleten“ und die Beschreibung von Heimat und Lebensweise dieses Volkes lässt nur den Schluss zu, dass es sich um eine ziemlich unzweideutige Anspielung auf die Schweizer Söldnerheere handelt, die seinerzeit in fast allen Armeen Europas kämpften.80 Über die Motivation, sich gerade der Zapoleten zu bedienen, erklärt Raphael: „Denn so gern sich die Utopier die Dienste guter Leute zunutze machen, so gern ziehen sie diese grundschlechten heran, um sie auszunützen. (…) Es kümmert sie nämlich nicht, wie viele von ihnen sie zugrunde richten; vielmehr sind sie überzeugt, dass sie sich den größten Dank des menschlichen Geschlechtes verdienten, wenn sie den Erdball von diesem Abschaum der Menschheit, von diesem ganzen abscheulichen und verruchten Volke reinigen könnten.“ 81
Hier nun gerät man endgültig ins Staunen: Vom Geist der Humanität, von dem an anderer Stelle beschworenen, „natürlichen Band“ zwischen den Menschen, ist kein Funke mehr zu spüren.82 Die Vernunft schlägt gänzlich in ihr inhumanes Gegenteil um. Nicht blanke Unvernunft aber spricht aus den Methoden und Zielen ihrer Kriegsführung. Vielmehr dominiert eine spezielle, bis ins äußerste Extrem gesteigerte Seite der Vernunft, nämlich das allein effiziente Nutzenkalkül, das dem kollektiven Eigeninteresse alle Handlungsoptionen unterordnet. Mehr noch: Mit zynischer Rechtfertigung beweihräuchern sich die Utopier selbst, wenn sie ein ganzes Volk zum Abschaum erklären und dieses im angeblichen Dienst für die Menschheit der Vernichtung preisgeben. Man steht damit endgültig vor den Ambivalenzen der Vernunft. Diese ist – so muss man das Experiment der Utopia verstehen – ein höchst zweischneidiges Schwert: Führte die Vernunft bisher in der überwiegenden Zahl der Fälle zu gesunden und sympathischen Wertvorstellungen, zu effizienten Institutionen und ebenso menschlichen wie nützlichen Sitten, so lässt sich Gleiches über die kalte Brutalität der Kriegspolitik nicht mehr behaupten. Hier sind die Utopier sogar schlimmer als die Europäer. Wie in einem satirischen Spiegelbild können die „christlichen“ Regenten Europas am Verhalten der Utopier ihre eigene Verwerflichkeit – in deutlich zugespitzter Form – besichtigen. Der Effizienzgedanke ist in einer Weise auf die Spitze getrieben, dass ziemlich unzweideutig die Warnung vor einer Rolle der Vernunft ausgesprochen wird, die sich selbst absolut und damit ins Unrecht setzt.
Auch der letzte Abschnitt ist eine Diskussion menschlicher Vernunft. Mit dem Kapitel zur utopischen Religion werden allerdings nicht mehr Ausprägungen in einzelnen Teilbereichen erörtert, vielmehr steht die Vernunft als Ganzes auf dem Prüfstand. Indem das Verhältnis zum Glauben ausgelotet wird, geht es um Rolle und Funktion, Leistungsfähigkeit wie -grenzen menschlicher Rationalität insgesamt. Auffallend ist zunächst, wie sehr die Vernunft eine tolerante Grundhaltung gebietet. Auf der Insel gilt grundsätzlich, „daß jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren, dürfe er nur insoweit versuchen, daß er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege“ 83. Die Religionsfreiheit hat eine erstaunliche Fülle unterschiedlicher Sitten, Kulte und Traditionen zur Folge, die von der Verehrung der Sonne, des Mondes, verschiedener Planeten bis hin zur Huldigung eines bestimmten Menschen als höchste Gottheit reicht. Eine Einheitsreligion kennen die Utopier demnach nicht, und doch findet der Glaubenspluralismus in der Vernunft gewissermaßen eine Grenze; denn sie sorgt tendenziell dafür, dass die Utopier sich zunehmend von abergläubischen Vorstellungen abwenden und sich jener Religion anschließen, „die die anderen an Vernünftigkeit zu übertreffen scheint.“ 84 Diese rationale Fundierung des Glaubens hat einen einfachen Grund: „Das ist ihre Auffassung von Tugend und Lust“, so war bereits im Abschnitt über die ethischen Grundsätze zu lesen, „und sie sind der Ansicht, es lasse sich mit menschlicher Vernunft keine richtigere ergründen, es sei denn, eine himmlische Offenbarung gebe dem Menschen eine erhabenere ein.“ 85 Die Utopier entbehren also der Gnade göttlicher Offenbarung. Die Passage ist von weitreichender Bedeutung, weil sie den wohl zentralsten christlichen Glaubenssatz der damaligen Zeit berührt. Dieser wurzelt in Thomas von Aquins Lehre vom Natürlichen und Übernatürlichen, und seine Kernaussage lautet: „Ferner war es zu allem hin, was menschliche Vernunft bezüglich Gottes erkunden kann, doch notwendig, daß der Mensch auch durch göttliche Offenbarung unterrichtet wurde.“ 86 Von den beiden Wegen der Glaubenserkenntnis – menschliche Vernunft (humana ratio) und göttliche Offenbarung (caelitus immissa religio) – verfügen die Utopier aber lediglich über das erstgenannte Prinzip. Und damit sind sie eindeutig als Heiden im Sinne des genannten Glaubenssatzes gekennzeichnet.
Insofern ist interessant zu sehen, zu welch religiösen Einsichten die Utopier nun ausschließlich mit Hilfe der Vernunft gelangen. Auch hier liefert die Utopia eine klare Antwort: „Der bei weitem größte und der weitaus vernünftigste Teil (…) glaubt (…) an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die menschliche Fassungskraft übersteigt“ 87. Sowohl Monotheismus wie Unendlichkeit Gottes, seine Unfassbarkeit, Vollkommenheit und Güte ergeben sich demnach aus der reinen Vernunfterkenntnis. Das hat sogar zur Folge, dass Atheisten und Materialisten von den Utopiern nicht zu ihren Staatsbürgern gezählt werden, ja „nicht einmal unter die Menschen“ 88. Bemerkenswert ist, dass auch Thomas von Aquin zu der analogen Überzeugung gelangt war, dass das „Dasein Gottes (…) durch die natürliche Vernunft (…) bekannt sein kann“ 89 und dass jeder vernünftige Mensch guten Willens zu erkennen vermag, dass Gott eins ist, vollkommen, unendlich, ewig und gut. Klar scheint damit, dass Morus im Religionskapitel der Utopia vor allem eine zentrale theologische Grundsatzfrage seiner Zeit erörtert hat, wobei die Kernaussagen weitgehend auf dem Boden der thomistischen Lehre stehen.
Beim Blick auf die utopische Religion ist man letztlich also weit mehr geneigt, die erstaunlichen, allein rational ermittelten Übereinstimmungen zu christlichen Glaubensinhalten zu bestaunen, weniger hingegen die unvereinbaren Gegensätze. Gleichwohl sind und bleiben die Utopier – mangels Offenbarung – Heiden im streng theologischen Sinn des genannten Glaubensgrundsatzes; und natürlich hat sich der Christ Morus keinen heidnischen Staat als Ideal erträumt. Auch zahlreiche Praktiken, etwa das Frauenpriesteramt, die Euthanasie-Erlaubnis oder die Heirat der Priester sind letztlich inkompatibel mit dem Katholizismus. Der Sinn dieser Konstruktion lässt sich jedoch einigermaßen vollständig klären. Unterstellt man, dass Morus erstens den Verhältnissen im christlichen Europa einen kritischen Spiegel vorzuhalten versuchte, und dass er zweitens mit der Utopia diskutierte, wie weit die Vernunfterkenntnis selbst noch in Glaubensfragen trägt, dann ergibt sich daraus eine weitere Einsicht: Die Utopia ist ganz absichtsvoll heidnisch konzipiert, denn zum einen wäre das Vernunftexperiment angesichts vorbildlicher Christen überhaupt nicht mehr durchführbar gewesen; zum Zweiten gewinnt die Kritik fraglos an Deutlichkeit, wenn die Utopier gerade ohne die Gnade göttlicher Offenbarung in vielfacher Weise zu besseren Einrichtungen gelangen als die europäischen Christen. In diesem Sinn ist auffallend, dass auch der kritische Geist der Utopia selbst vor der zeitgenössischen Praxis der christlichen Religion nicht haltmacht. So heißt es – und dieser Schlag trifft mit Gewissheit die Geistlichen Europas: Die Priester Utopias seien allesamt frei gewählt, ausgesprochen fromm und durchweg hoch angesehen, sie besäßen außer ihrer ehrenvollen Stellung keinerlei Machtbefugnisse und daher gebe es in Utopia auch nur sehr wenige.90
Der Sinn, der aus der Beschreibung der vernünftigen Religion der Utopier hervorgeht, lässt sich daher kaum mit blanker Unernsthaftigkeit erklären, geschweige denn mit dem Ideal eines Autors in einer heidnischen Lebensphase. Das Rätsel, das späteren Rezensenten eine scheinbar unlösbare Aufgabe hinterlassen hat, dient vielmehr den zentralen Intentionen der Schrift: der Kritik, dem rationalen Experiment und dem diskursiven Anliegen.
2.4Zum Utopiebegriff der Utopia
Wenngleich der Abschnitt zur Religion der Utopier die Struktur des Gedankenexperiments hinreichend deutlich macht, so ist damit eine letzte Frage noch nicht geklärt. Das abschließende Kapitel wird deshalb versuchen, zentrale Aspekte und Konsequenzen für ein Utopieverständnis abzuleiten, wie es sich allein aus Morus’ Prototyp erschließt. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass dieser Bedeutungshorizont der einzig mögliche ist, aber es scheint doch von beträchtlichem Interesse, was „Utopie“ im Sinne ihres Namensgebers meint, oder anders formuliert: was sich aus der Schrift hierzu gerade nicht herleiten lässt.
Die erste Frage richtet sich an ein gängiges Problem üblicher Utopiedefinitionen. Die Rede ist von der verbreiteten Tendenz, die Utopie im Kern als eine Idealstaatsschilderung des Autors zu kennzeichnen. In diesem Sinn ist Morus’ Utopia kein Idealstaat. Bei der dort vorherrschenden Religion handelt es sich, wie gezeigt, um einen rein vernunftbegründeten Glauben. Der heidnische Staat bleibt unvereinbar mit der christlichen Grundüberzeugung des Autors. Das zweite Missverständnis besteht in der Fehldeutung des utopischen Kriegswesens als Muster vorbildlicher, ja imperialistischer Machtpolitik.91 In Wahrheit intendiert das Kapitel schlicht das Gegenteil: Es ist eine Satire auf geheuchelte Friedensbekenntnisse, ein bissig-ironischer Kommentar zu einer tragenden Säule zeitgenössischer Machtpolitik: dem gewerbsmäßigen Söldnerwesen, und eine vernichtende Kritik verbreiteter Kriegspraktiken, wie sie Morus unter den christlichen Völkern und Fürsten beinahe täglich um sich herum beobachten konnte. Die dritte große Missdeutung liegt darin, Morus als den Propheten des modernen Kommunismus, als ersten großen Kritiker kapitalistischer Ausbeutung und seine Utopia als erste vorwissenschaftliche Theorie sozialistischen Gemeineigentums zu interpretieren.92 Auch hier ist Morus’ Position eindeutig: In der erwähnten Spätschrift hat Morus nicht nur kommunistischen Gemeinbesitz strikt abgelehnt, sondern überdies legitim erworbenen Reichtum auch mehrfach verteidigt.93 Ausgerechnet die Grundlage der gesamten sozioökonomischen Ordnung Utopias wird demnach von ihrem Verfasser als verallgemeinerungsfähiges staatspolitisches Prinzip nicht geteilt.
Das heißt freilich nicht, Morus’ Schrift ist eine Art Dystopie, ein abschreckend gemeintes Beispiel, das Morus seinen Zeitgenossen warnend vor Augen halten will. Der Text ist auch keine großangelegte Satire auf die Vernunft. Morus’ Ironie hat nicht zu bedeuten, man müsse nur alle Aussagen ins Gegenteil verkehren, um sodann den wahren Sinn zu erhalten. Dann nämlich müsste man konsequenterweise auch unterstellen, Morus befürwortet Preistreiberei, Ämterkauf, Wucher und das Elend weiter Bevölkerungsschichten. Es ist schlechterdings unmöglich, den zuweilen vorbildhaften Charakter, vor allem aber die kritische Intention der Schrift bei der Bewertung zu übergehen. Man darf getrost unterstellen, dass sich Morus in vielen Dingen des Staates, der Gesellschaft, gar der Religion, ein Denken und Handeln wünscht, das mehr von vernünftigen und nützlichen Überlegungen und weniger von irrationaler Geltungssucht und ehrgeizigem Egoismus geleitet wird. Die utilitaristische Rationalität, das insistierende Fragen nach dem Nutzen für das Gemeinwesen, dient Morus stets als oberste Leitlinie seiner kritischen Analyse der Gegenwart. So gesehen entspricht letztlich weder die einseitige Interpretation als geistreicher Witz noch die entgegengesetzte Deutung als idealstaatliche Schilderung dem Charakter der Utopia.94
Der genannte Streit lässt sich nun aber – mit Blick auf seine Relevanz für den Utopiebegriff – auf einer neutralen Ebene überspringen: Der Idealstaat ist nur das Thema, die Idee der Erzählung, nicht aber der Gehalt der Utopia selbst. Die Schrift entwirft gewiss einen Maßstab, nämlich das fiktive Bild einer durch und durch rationalen Gesellschaftsordnung. Der Entwurf selbst ist aber nicht der wahre Maßstab des Morus. Die simple Bewertung nach Gut oder Böse, nach wünschenswert oder nicht, ist für die Utopia sogar in den seltensten Fällen das letztentscheidende Kriterium. Für den Utopiebegriff der Utopia hat das zur Folge, dass die Frage nach Wunsch- oder Furchtbild überhaupt nicht die zentrale Kategorie ist. Ob ein utopischer Entwurf als absolutes Ideal des Verfassers zu gelten hat oder nicht, das muss sich stets am jeweiligen Einzelfall erweisen. Für einen an Morus angelehnten Utopiebegriff wird man deshalb festhalten müssen: Wichtiger ist der Utopie zunächst, was sie nicht will. Die Kritik ist zentraler und dem Wesen der Utopie näher als die vermeintlich erträumte Wunschwelt.
Auch die zweite Diskussion konzentriert sich auf eine gängige Charakterisierung von Utopie. Fast immer wird unterstellt, die Utopie sei vom Verfasser als Vorbild zur praktischen Umsetzung intendiert; der Glaube an ihre Realisierbarkeit, wenigstens aber der Wunsch nach Verwirklichung sei gerade das, was den Autor zum Utopisten macht.95 Auch in diesem Punkt fällt die Diagnose bei Morus gegenteilig aus. Die Antwort ergibt sich im Grunde schon aus dem Vorhergesagten: Wo kein Ideal geschildert wird, erübrigt sich der Verwirklichungswille fast von selbst. Gleichwohl beinhaltet die Utopia mancherlei bedenkenswerte und praktische Vorschläge. An einigen Stellen kommt sie dem Charakter einer Reformschrift sogar verdächtig nahe. Was die Realisierungsdimension des Gesamtentwurfs betrifft, so ist die Antwort der Schrift allerdings eindeutig: Ein fast untrügliches Indiz ist die Tatsache, dass Morus ausgerechnet Raphael die Beschreibung des Gemeinwesens überlässt, denn dieser hatte sich in der vorausgehenden Auseinandersetzung gerade für den Rückzug des Philosophen aus der Politik ausgesprochen. Das Utopische steht somit ausdrücklich nicht auf Seiten unmittelbarer Handlungspraxis, sehr wohl aber ist es mit der Aufforderung verbunden, die bestehenden Einrichtungen auf den Prüfstand zu stellen. Der Geltungsanspruch von Morus’ Utopie versteht sich nicht als Vorlage zur innerweltlichen Beseitigung aller Missstände; die Utopia formuliert kein politisches Aktionsprogramm. Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt. Gerade diese Konstruktion ist letztlich aber, was die Utopia zur Utopie im ursprünglichen Wortsinn macht: Sie ist der voraussetzungsfreie Entwurf einer Gesellschaft ohne Vermittlungsinstanz, das heißt ohne eine Realisierungsdimension aufzuzeigen und ohne diese aufzeigen zu wollen.
Dies vorausgesetzt, lassen sich abschließend nun für die Utopia anhand der vier Ebenen – Form, Inhalt, Intention und Funktion – zentrale Charakteristika festhalten, die zugleich als Orientierungsrahmen für den nachstehenden Überblick dienen können. (1.) Formal betrachtet ist die Utopia konzipiert als eine kontrafaktische Fiktion, als universelle Beschreibung eines imaginären Gemeinwesens, das in eine literarischnarrative Rahmenhandlung gekleidet ist. Sie verknüpft dabei zahlreiche literarische Formtypen und Stilelemente wie die politische Reformschrift mit der Reiseerzählung, den philosophischen Traktat mit der Satire, die Ironie mit der Dialogstruktur. (2.) Auf inhaltlicher Ebene lassen sich dem Entwurf als zentrale Strukturprinzipien entnehmen: Isolation, Statik, soziale Harmonie und Gemeineigentum, Kollektivismus, Rationalität und Nützlichkeitsdenken. Die Elemente repräsentieren freilich nicht den Forderungskatalog des Autors, sondern verdichten sich lediglich zum materialen Bild seiner Utopie. Gleichwohl können diese Merkmale als eine Art Abfrageraster bei der Analyse späterer Utopieentwürfe dienen. (3.) Morus’ Intention verbindet schließlich Sozialkritik mit dem Anliegen, einen Anstoß zur Diskussion über die Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens zu leisten und qualifiziert sich damit zugleich als normatives Politikanliegen. (4.) Methodisch umgesetzt ist dieses Vorhaben auf dem Wege eines gedankenexperimentellen Erkundens der Vernunft. Daraus resultiert funktional betrachtet eine prinzipielle Relativierung des Bestehenden, weil die existente Wirklichkeit zu einer möglichen unter vielen herabgestuft wird. Diese Funktion deckt sich, zumindest in ihrem Ursprungskontext, auch vollkommen mit der intendierten Wirkung. Darüber hinaus – und das lag nicht mehr in Morus’ Hand – hätte die Utopia in kaum größerem Maße Wirkung entfalten können, als mit der Begründung einer neuzeitlichen Denktradition, die diese Motivation und Funktion in vielfacher Weise weiter trägt.
Von den Besonderheiten der Utopia, die im zurückliegenden Kapitel beschrieben worden sind, müssen aber zumindest zwei Elemente als derart strukturbildend gelten, dass an ihnen keine Begriffsbestimmung vorbei kommt, ohne in Widerspruch mit Morus’ Urtypus zu geraten: zum einen das soziopolitische Gegenbild, also die Notwendigkeit einer ausgemalten gesellschaftlichen Alternative; zum anderen die kritische Intention. Und von hier aus, so die Vermutung, gewinnen letztlich alle Utopien ein zentrales, sie verbindendes Moment.
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