Von Eltern mit Migrationshintergrund lernen (E-Book)

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Damit der Transfer in die Praxis erleichtert wird, haben wir die Anregungen zur Reflexion mit Umsetzungsideen ergänzt. Diese sind teilweise aus unseren Erfahrungen entstanden und teilweise von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Praxisweiterbildungen oder Vorträgen entwickelt worden. Immer wieder werden in diesen Umsetzungsideen spezifische Altersstufen in den Blick genommen, was jedoch die Anpassung an andere Stufen nicht ausschliesst.
Der gesamte Abschnitt richtet sich, wie auch das gesamte Buch, einerseits an Mitarbeitende, andererseits an Leitungen und Träger von pädagogischen Einrichtungen. Auch Eltern mit und ohne Migrationshintergrund werden das Buch mit Interesse und Gewinn lesen, sich darin wiederfinden und zu weiterführenden Gedanken angeregt werden. Da im institutionellen Kontext alle Ebenen der Organisation an der Entwicklung der Zusammenarbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund beteiligt sind, haben wir sie in den Denkanstössen und den Anregungen für die Praxis entsprechend berücksichtigt. Selbstverständlich sind weder die genannten Reflexionsfragen noch die aufgeführten Umsetzungsideen damit erschöpfend behandelt. Gerne laden wir Sie ein, weitere Ideen zu entwickeln.
Expertenkommentar
Für die Expertinnen- bzw. Expertenmeinung haben wir Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis gebeten, einen kurzen Kommentar zum jeweiligen Themenfeld zu verfassen. Damit werden die Sichtweisen der befragten Eltern mit einer weiteren Sichtweise, sozusagen einer Aussenperspektive, ergänzt. Manche der Expertinnen und Experten haben selbst einen Migrationshintergrund und damit Erfahrungen aus zwei Perspektiven. Andere wiederum arbeiten seit vielen Jahren in einschlägigen Arbeitsfeldern und bringen ihre Erfahrungen mit ein.
Literatur
Am Ende des Buches finden Sie eine Literaturliste. Für diejenigen, die es genau wissen wollen, gibt es hier Hintergrundinformationen zum jeweiligen Themenfeld und auch weiterführende Literaturhinweise.
Dank
Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die Mitwirkung vieler Menschen, ihnen allen möchten wir von Herzen danken. An erster Stelle gilt unser besonderer Dank allen Eltern, die sich für ein Interview zur Verfügung gestellt und offen Auskunft über ihre Erfahrungen und Gedanken gegeben haben. Die Mitglieder unserer Begleitgruppe im Forschungsprojekt: Usama Al Shahmani, Sonja Bischoff, Monica Ganhao, Mahir Mustafa, Rehan Neziri, Selin Öndül, Lisa Radman, Priska Reichmuth, Janine Rüdisüli, Emine Sariaslan, Rahel Siegenthaler, Rudolf Tobler, Sultan Uzunova. Sie haben sich interessiert und engagiert mit unserem Projekt auseinandergesetzt und uns einen wichtigen Reflexionsraum zur Verfügung gestellt. Hoch engagierte Studierende der Pädagogischen Hochschule Thurgau (Schweiz) haben im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten in den Studiengängen «Master Frühe Kindheit», «Kindergarten», «Primarstufe» und «Sekundarstufe 1» Eltern mit Migrationshintergrund rekrutiert und die Interviews erhoben: Sevdie Aliu, Sabine Auchter, Mirjam Brühwiler, Julia Feitscher, Lena Fuchs, Romina Glanzer, Maja Glaubitz, Anja Jäggi, Virginia Menghini, Katja Nura, Nesrin Ramadani, Nicole Röschli, Nina Rutishauser, Yanek Schiavone, Nicole Schumann, Carolin Schweikart und Jasmin Signer. Ihnen gilt unser herzlicher Dank, ohne sie wäre unsere weitere Arbeit mit dem Interviewmaterial nicht möglich gewesen. Darüber hinaus waren weitere Personen am Forschungsprojekt als Grundlage dieses Buches beteiligt: Inga Oberzaucher-Tölke hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin in unserem Forschungsprojekt konzeptionell mitgearbeitet und viele wichtige Aufgaben kompetent übernommen und Sabrina Rohde hat sich im Rahmen eines Praktikums engagiert eingebracht. Die Stiftung Mercator Schweiz hat in dankenswerter Weise unser Forschungsprojekt finanziell unterstützt und begleitet. Auch der Kanton Thurgau und die Pädagogische Hochschule Thurgau haben uns finanziell unterstützt, ohne sie wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Für die Konkretisierung des Buchprojektes sind wir Ueli Halbheer sehr dankbar, er hat unsere Kapitel mit seinen wunderbaren Comic-Zeichnungen bereichert und Joana Truniger hat die Erstversionen unserer Kapitel mit bewundernswertem Überblick geglättet und geschärft. Nicht zuletzt gilt unser grosser Dank dem hep-Verlag, der dieses Buch geduldig, engagiert und flexibel mit uns auf den Weg gebracht hat.
Angebote für Bildung und soziale Integration
Warum ist das wichtig?

Zur Unterstützung und Begleitung von Familien mit Kindern steht eine Vielzahl von Angeboten für Bildung und soziale Integration vom Vorschulalter bis zum Übertritt ins Berufsleben zur Verfügung. Ein Teil dieser Angebote richtet sich direkt an Eltern in ihrer Rolle als Erziehungsverantwortliche und verfolgt das Ziel, sie in Fragen der Beziehungsgestaltung, der Erziehung und des familialen Alltags zu unterstützen (z. B. im Rahmen von Elternbildungsprogrammen oder Beratungsangeboten). Ein anderer Teil der Angebote hat die Kinder im Fokus. Diese Angebote reichen von Spielgruppe und Kindertagesstätte über Tagesstrukturen bis hin zu Lernatelier und Freizeitgestaltung. Die Anzahl und die Vielfalt unterscheiden sich jedoch je nach Wohnort und Wohnumfeld zum Teil beträchtlich.
Die Begleitung ihrer Kinder und die Wahl der für sie passenden Angebote für Bildung und soziale Integration stellen für alle Eltern, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, eine Herausforderung dar. Eltern mit Migrationshintergrund müssen sich diesbezüglich jedoch oft mit zusätzlichen Hürden auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang finden sich in der Fachliteratur einerseits Empfehlungen, die es als zielführend erachten, Bildungs- und Unterstützungsangebote spezifisch für zugewanderte Eltern anzubieten (Moret & Fibbi, 2010). Andererseits wird in aktuelleren Studien darauf hingewiesen, dass Angebote nicht einseitig auf Familien mit Migrationshintergrund zugeschnitten werden sollten. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass den betreffenden Unterstützungsangeboten ein Stigma anhaftet und sie deshalb nicht genutzt werden (vgl. Barz, Cerci & Demir, 2013; Tripartite Konferenz, 2017). Ziel wären deshalb Lösungen mit durchmischten Angeboten, die auch die spezifischen Bedürfnisse von Familien mit Migrationshintergrund in den Blick nehmen. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass zugewanderte Familien nicht als einheitliche Gruppe aufgefasst, sondern in ihrer Individualität gesehen werden. Denn die Diversität der familiären Situationen stellt für das Gemeinwesen ganz generell eine Herausforderung dar und erfordert einen ausgewogenen Blick auf die Bedürfnisse aller Familien.
Der Bedarf an Angeboten unterscheidet sich je nach Alter und sozialer Herkunft der Kinder, wobei sich der Migrationshintergrund der Familien jedoch als weniger bedeutsam erweist als die Bildungsorientierung und die Bildungsaspirationen der Eltern (→ Themenfeld «Bildungs- und Berufsziele»). Während bildungsorientierte Eltern mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam mit ihren Kindern häufig anregenden Aktivitäten nachgehen und familienergänzende Angebote in Anspruch nehmen (vgl. Stamm, Brandenberg, Knoll, Negrini & Sabini, 2012), nutzen Kinder aus familienbezogenen Elternhäusern die (Früh-)Förderungsangebote deutlich weniger häufig.
Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass es bei vielen Bildungsangeboten an Resonanz seitens der Eltern fehlt. Dies löst in den pädagogischen Einrichtungen teilweise Ratlosigkeit aus, insbesondere auch deshalb, weil die Hintergründe für das Fernbleiben vielfältig sein können. In manchen Fällen sind die Eltern in ihrer Berufstätigkeit so eingespannt, dass ihnen kaum Freizeit bleibt, die sie ausserhalb der Familie verbringen wollen. Andere Eltern sind zwar nicht berufstätig, aber es fehlt ihnen an Motivation und Einsicht, sich ausserhalb des unmittelbaren eigenen Umfeldes Rat und Hilfe in Erziehungsfragen zu holen. Eine weitere Gruppe von Eltern wird durch Sprachbarrieren und Unsicherheit von einem Austausch über Kindererziehung abgehalten (Meyer-Ullrich, 2008). Weitere Hürden können auch in zu hohen Kosten oder einem grossen bürokratischen Aufwand liegen. Auch Angebote mit problemorientierten Ansätzen, Angst vor Stigmatisierung, Misstrauen oder fehlende Traditionen in der Herkunftskultur, in welcher Beratungs- und Weiterbildungsangebote unüblich sind, können Gründe für das Fernbleiben sein (Berner Gesundheit, 2014). Schliesslich kann eine Nichtinanspruchnahme auch am Angebot selbst liegen, z. B. wenn es die Bedürfnisse der Eltern nicht trifft oder wenn sich bei den Eltern aufgrund der Angebotsvielfalt ein Übersättigungseffekt eingestellt hat (Meyer-Ullrich, 2008).
Niederschwelligkeit, d. h. ein erleichterter Zugang zu Angeboten, gilt in der Fachliteratur unbestritten als wichtiges Kriterium der Familienbildung. Dadurch kann auch weniger bildungsgewohnten Eltern ein Zugang zu familien- und erziehungsunterstützender Hilfe und Beratung eröffnet werden (Smolka, 2002). Das Kriterium der Niederschwelligkeit bezieht sich in diesem Kontext auf mehrere Faktoren: Neben einem ortsnahen, mit wenig Aufwand verbundenen Zugang nehmen auch zeitliche und inhaltliche Aspekte (z. B. zeitliche Flexibilität und keine inhaltliche Begrenzung auf Problemlagen) einen wichtigen Stellenwert ein. Nicht zuletzt bestimmt auch die soziale Dimension darüber, als wie zugänglich ein Angebot von Familien wahrgenommen wird. In dieser Hinsicht sind z. B. Aspekte wie die Beziehung zu Professionellen, Kontakt- und Vertrauensaufbau sowie Freiwilligkeit von Bedeutung (Mayrhofer, 2008).
Was erleben Kinder unterschiedlicher Altersstufen und ihre Eltern in Alltagssituationen?
Insgesamt unterscheiden sich die Art und der Umfang der Angebote je nach Wohnort der von uns interviewten Eltern stark. Bei familienergänzenden Betreuungsangeboten werden neben den regionalen Verfügbarkeiten insbesondere die hohen Kosten als Hürde erachtet. Hinsichtlich der tatsächlichen Nutzung von Angeboten für Bildung und soziale Integration ist in unseren Interviews eine grosse Bandbreite erkennbar, die sich zwischen zwei Polen erstreckt: Auf der einen Seite finden sich Familien mit Migrationshintergrund, die vielfältige institutionelle Angebote nutzen. Dabei handelt es sich um Familien, welche die Bildung und die soziale Integration ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen und kaum Beratung von pädagogischen Fachpersonen benötigen. Auf der anderen Seite gibt es Familien, die ihre Freizeit überwiegend im engeren und erweiterten Familienumfeld gestalten und ausserfamiliären Angeboten keine oder nur sehr geringe Bedeutung für die soziale Entwicklung und die Bildungsentwicklung ihrer Kinder beimessen. Bei diesen Familien zeigt sich in bestimmten Situationen ein Bedarf an Beratung und Unterstützung. Diese Vielfalt der Elternschaft wird nachfolgend erläutert.
Eltern mit hohen Bildungsaspirationen für ihre Kinder berichten häufig von einem breiten Angebot für Kinder jeglichen Alters, das sie gern nutzen. Innerhalb der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wählen sie mit Blick auf die Interessen oder den Bedarf ihrer Kinder gezielt entsprechende Optionen aus. Eine weitere Gruppe bildungsbewusster Eltern gestaltet die Förderung ihrer Kinder weitgehend eigenständig und schafft bewusst häusliche Angebote bzw. achtet auf eine gute Balance zwischen Anregung und Selbsttätigkeit der Kinder. Diese Familien nutzen insgesamt wenige, wenn aber, dann gezielt ausgewählte institutionelle Angebote. Dazu gehören auch von privater Seite selbst organisierte Angebote für Kinder aller Altersgruppen mit explizitem Bezug zur Herkunftskultur (z. B. portugiesischsprachiger Unterricht für heimatliche Sprache und Kultur, ungarischer Kindergarten, türkischer Verein).
Demgegenüber finden sich Eltern, denen die Auswahl und die Nutzung von Angeboten im Bereich der sozialen Integration und Bildung ihrer Kinder erschwert wird bzw. sogar verwehrt bleibt. Als Gründe hierfür werden in den Interviews fehlende Informationen oder Hürden im finanziellen oder organisatorischen Bereich genannt. Konkrete Lösungsvorschläge der Eltern, die diesbezüglich Abhilfe schaffen könnten, beziehen sich unter anderem auf niederschwellig zugängliche Informationen und auf günstige oder auch kostenlose Angebote, die bevorzugt im institutionellen Umfeld von Kita, Kindergarten oder Schule stattfinden sollten. Als weitere Möglichkeit werden regelmässige, kostengünstige und mehrsprachige Beratungsangebote genannt, die beispielsweise von der Gemeinde organisiert werden. Solche Dienstleistungen sollen Eltern die Gelegenheit bieten, sich zu informieren oder Fragen zum Bildungssystem und zu Formularen o. Ä. zu klären. Insbesondere im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen (z. B. bei Zuweisungsentscheidungen zu sonderpädagogischen Massnahmen) werden von den interviewten Eltern unabhängige Ansprechpersonen vermisst (→ Themenfeld «Diskriminierung»).
Eine dritte Gruppe von Eltern berichtet, dass sie Angebote weder als notwendig noch als erstrebenswert erachte, da sie die Familie als die zentrale Ressource für eine gesunde Entwicklung der Kinder sehe. Für manche dieser Eltern könnte sich ein Gespräch über die Bedeutung eines infrage kommenden Angebots für die Bildungsentwicklung und die soziale Integration ihres Kindes deshalb als sehr hilfreich erweisen.
Aus den Interviews geht des Weiteren hervor, dass vor allem unmittelbar nach der Migration in die Schweiz Informationen zu Angeboten zu Bildung und sozialer Integration sowohl für die Eltern als auch für die Kinder und Jugendlichen selbst bedeutsam sind. Eltern erleben sich zu diesem Zeitpunkt meist als unwissend. Allerdings können Informationen zu zusätzlichen Angeboten kurz nach der Migration oder bei fehlenden Sprachkenntnissen von den Familien vereinzelt auch als Überforderung erlebt werden (→ Themenfeld «Information»). Flexible, individuelle und bedarfsorientierte Beratung zu Fragen rund um Bildung und soziale Integration sowie Hinweise zu entsprechenden Angeboten werden von vielen Eltern daher begrüsst. Obligatorische und inhaltlich stark vorstrukturierte Informationsveranstaltungen hingegen werden grossmehrheitlich als wenig zweckdienlich empfunden, da in solchen Settings kaum auf individuelle Voraussetzungen (z. B. Sprachkompetenz oder wenig Erfahrung mit dem Bildungssystem) eingegangen werden kann.
Die folgenden zusammengefassten Schilderungen illustrieren die alltäglichen Erfahrungen der Eltern im Zusammenhang mit der Nutzung von Angeboten zu Bildung und sozialer Integration. Dabei zeigt sich – wie einleitend bereits festgehalten –, dass die beschriebenen Erfahrungen nicht ausschliesslich Familien mit Migrationshintergrund betreffen, sondern für alle Familien gleichermassen relevant sein können. Des Weiteren gilt es diesbezüglich zu betonen, dass es nicht darum geht, sämtliche Wünsche und Bedürfnisse vonseiten der Eltern stets eins zu eins umzusetzen, sondern vielmehr darum, als pädagogische Fachperson in einem ersten Schritt für elterliche Anliegen ein offenes Ohr zu haben und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Daraus können in der Folge ganz unterschiedliche Massnahmen abgeleitet werden. Diese können beispielsweise darin bestehen, die vorhandenen Angebote zu überdenken und weiterzuentwickeln, an entsprechende politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger zu gelangen, um die Anliegen der Eltern zu vertreten, oder Eltern explizit auf alternative Angebote aufmerksam zu machen. Oft reicht es zudem schon, wenn pädagogische Fachpersonen Eltern oder Kinder zu einer Teilnahme motivieren und das Vertrauen in ein Angebot erhöhen.
Frühe Kindheit
Angebote in der frühen Kindheit wie Krabbelgruppe, Stillcafé oder Spielgruppe hätten er und seine Frau nicht in Anspruch genommen, berichtet ein Vater. Beide von ihnen seien so in ihren Alltag verwickelt gewesen, dass sie sich keine Gedanken dazu gemacht hätten. Zugleich merkt er jedoch an, dass es eigentlich gut gewesen wäre. Sie seien einfach nicht darauf aufmerksam geworden und in ihrem Bekanntenkreis habe niemand etwas dazu gesagt. Sie hätten sich einfach privat getroffen und die Kinder spielen lassen. Wenn sie einen Hinweis erhalten hätten, wären sie wohl interessiert gewesen.
Das Nichtwissen über Angebote der frühen Förderung lässt bei diesem Vater zurückblickend ein Gefühl von leichtem Bedauern aufkommen. Zum damaligen Zeitpunkt war er sich deren Bedeutung jedoch noch nicht bewusst. Denn wenn Angebote wie Krabbelgruppe und Stillcafé im eigenen Herkunftsmilieu nicht bekannt sind, werden sie auch nicht vermisst. Sprachliche Barrieren, mangelnde oder wenig passgenaue Werbung oder fehlende Netzwerke und Erfahrung können Gründe für solche Informationslücken sein (→ Themenfeld «Information»).
Doch selbst wenn beispielsweise bei der Kinderärztin oder beim Kinderarzt diverse Flyer zu Angeboten für Kinder und Elternbildung aufliegen, erreichen diese ohne explizites Aufmerksammachen meist nicht alle Gruppen von Familien. Darüber hinaus reicht auch ein entsprechender Hinweis zur Anregung einer Teilnahme oftmals nicht aus, denn Eintrittshürden wie Sprache, Kulturunterschiede, Zeitknappheit oder die Angst, nicht zu genügen, sind weit verbreitet. Es braucht daher Schlüsselpersonen in den jeweiligen Migrationsgruppen, die diese Angebote selbst besuchen und andere Eltern zur Teilnahme motivieren können. Als Vermittlerinnen und Vermittler können z. B. Moderatorinnen von Femmes-Tischen fungieren, die es den Familien ermöglichen, in der eigenen Sprache wichtige Fragen zu Erziehung, Gesundheit und Integration zu diskutieren (→ https://www.femmestische.ch).
Kindergarten/Primarschule
Eine Mutter aus einer ländlichen Gegend wünscht sich für ihre Kinder mehr Freizeitangebote wie z. B. ein Kindertheater, einen Matheclub oder einen Rezitationsclub. Dort könnten die Kinder dann vieles ausprobieren und das, was ihnen Spass mache, vielleicht auch irgendwann zum Beruf entwickeln.
Je nach Wohnumfeld stehen mehr oder weniger Freizeitangebote für Kinder zur Verfügung. Im Beispiel vermisst die Mutter vor allem niederschwellige Angebote. «niederschwellig» bedeutet in diesem Fall, dass Kinder eine bestimmte Zeit lang etwas ausprobieren dürfen, ohne sich nach einer Schnupperlektion bereits auf die definitive Teilnahme festlegen zu müssen. Denn oftmals stellt sich erst mit einer gewissen Regelmässigkeit heraus, ob ein auf den ersten Blick infrage kommendes Angebot einem Kind liegt. Einzelne Schnupperlektionen können dieses Ausprobieren nicht gänzlich ersetzen.
Viele zugewanderte Familien kennen aus ihrem Herkunftsland Freizeitangebote, die als Bestandteil von Tagesschulstrukturen integral ins Schulsystem eingebunden sind. Dies ist in der Schweiz explizit nicht vorgesehen, erschwert jedoch den Zugang für Familien, die all die Möglichkeiten nicht kennen. Andere Angebote wiederum setzen zusätzlich zeitliche und finanzielle Ressourcen vonseiten der Eltern voraus, beispielsweise für Fahrdienste oder Vereinsbeiträge, und werden deshalb nicht als niederschwellige Angebote wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund könnten Schulen die Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen suchen, um im Unterricht integrierte Projekte umzusetzen (z. B. mit dem Schachclub) oder ausserhalb der Schulzeiten Schnupperangebote zu ermöglichen (z. B. mit dem örtlichen Turnverein).
Sekundarschule
Rafaelas Mutter wünscht sich, dass die Lehrpersonen ihre 12-jährige Tochter auch ausserhalb des Unterrichts begleiten. Schliesslich seien sie den ganzen Tag mit ihrer Tochter zusammen und hätten einen grossen Anteil am Leben des Mädchens. Sie als Eltern sähen dagegen nur die Hausaufgaben und Prüfungen. Die Mutter fände es deshalb toll, wenn die Lehrpersonen an 1 bis 2 Tagen in der Woche nach der Schule mit den Kindern Aufgaben anschauen und bearbeiten würden, mit denen die Kinder noch Schwierigkeiten haben. Da die Lehrpersonen echte Vertrauenspersonen seien, sei dies auch besser als Nachhilfe ausserhalb der Schule, wo man sich wieder auf jemanden Neues einstellen müsse.
Die Mutter im Beispiel hat grosses Vertrauen in die Kompetenzen der Lehrpersonen und wünscht sich, dass ihre Tochter von diesen direkten Bezugspersonen niederschwellig und gezielt auch nach der Schule gefördert wird. Bei den von Schulen kostengünstig, teilweise auch kostenfrei zur Verfügung gestellten Angeboten für Hausaufgabenhilfe fehlt dieser Mutter im Gegensatz dazu eine Person, die ihr Kind sehr gut kennt und ihre Tochter dadurch kompetent unterstützen kann.
Dieses Bedürfnis zeigt sich bei vielen der von uns interviewten Familien, nämlich dass sowohl in Bezug auf zusätzliche Förderangebote für ihre Kinder als auch bei alltäglichen Erziehungsfragen am liebsten die Lehrperson als kompetentes Gegenüber gewählt würde. Die Lehrpersonen werden von den Familien als erfahrene, verlässliche und langfristige Partnerinnen und Partner wahrgenommen (→ Themenfeld «Begleitung und Alltagskontakte»). Diesen Äusserungen ist entgegenzuhalten, dass in vielen Schulgemeinden bereits ein etabliertes Angebot für die Unterstützung der Schülerinnen und Schülern bei den Hausaufgaben besteht. Die betreuenden Fachpersonen sind im Schulalltag für die Eltern jedoch kaum sichtbar. Indem die Betreuenden beispielsweise an Elternabenden präsent sind und an wichtigen Elterngesprächen teilnehmen, kann eine Grundlage dafür geschaffen werden, dass sie stärker als Teil des Förderteams wahrgenommen werden und so seitens der Eltern auch Vertrauen aufgebaut werden kann.
Denkanstösse und Anregungen für die Praxis
Die folgenden Anregungen können Ihnen dabei helfen, den Alltag in Ihrer Einrichtung sowohl als pädagogische Fachperson als auch als Leitungsperson zu reflektieren. Auf der Basis der Interviews wurden Fragen entwickelt, welche für die Konzeption und die Durchführung neuer und bestehender Angebote hilfreich sein können. Diesbezüglich soll jedoch nicht ausgeblendet werden, dass für eine einzelne pädagogische Fachperson in vielen Fällen wenig Handlungsspielraum besteht und diese die Entscheidungsverantwortung für spezifische Angebote zu Bildung und sozialer Integration ausserhalb ihres Kernauftrags nur selten (allein) trägt. Dennoch ist es wichtig, dass pädagogische Teams inklusive der Leitungspersonen offen für Anliegen und Bedürfnisse der Eltern sind, diese aufnehmen und solche Hinweise, wenn möglich, an entscheidende Stellen weiterleiten. Denn es braucht in der Regel Anstösse von Einzelnen, damit sich etwas bewegen kann.

Erreichbarkeit der Eltern und Kinder

• Wie erreichen wir Eltern, die bisher kaum Angebote für Bildung und soziale Integration kennen und wenig Erfahrung mit Elternbildung haben?
• Wissen wir, welche Tage/Zeiten für eine Veranstaltung erwünscht wären?
• Welche Wege gehen wir, damit auch schwerer erreichbare Familien die Angebote kennenlernen und zur Teilnahme motiviert werden können?
Umsetzungsideen

• Eltern werden gezielt angefragt, welche Tage und Zeiten für eine Veranstaltung für sie günstig wären. Generell sollten Angebote mit der Erwerbstätigkeit zeitlich vereinbar sein.
• Termine werden möglichst früh angekündigt, damit Eltern dies bei der individuellen Arbeitsplanung berücksichtigen können (z. B. Schichtabtausch).
• Nach Einladungen wird bei den Eltern mehrmals nachgehakt, indem beispielsweise kurz vor der Veranstaltung angerufen und nochmals explizit auf die Veranstaltung hingewiesen wird. Für Informationen zu vorschulischen Angeboten gehen pädagogische Fachpersonen gezielt auf Eltern zu, z. B. auf dem Spielplatz, im Park, im Quartierrestaurant.





