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Schließlich mussten wir zur Kenntnis nehmen: Die Hitler-Plakate nahmen nach und nach zu und gewannen die Oberhand. Und so wunderten wir uns dann auch gar nicht sonderlich, als die aufregende Nachricht von der „Machtübernahme“ Hitlers bekannt gegeben wurde. Was da im politischen Hintergrund geschehen war, welche Kräfte den Nazis zur Macht verholfen hatten, das wussten wir Kinder nicht. Ich weiß nur, dass mein Vater und Nachbar Gerhard sich unzufrieden äußerten und bedenkliche Gesichter machten. Trotz allem schien mir so, als wenn mit diesem „grandiosen“ Machtwechsel ein Schlussstrich gezogen worden wäre nach all dem politischen Gerangel zuvor. Selbst wir Kinder verspürten: Da muss sicherlich eine ganz wichtige Entscheidung gefallen sein. Doch wir gingen weiter wie bisher zur Schule, und zunächst änderte sich auch nichts, weder dort noch zu Hause. Aber eines Abends, ich sehe die Männer noch deutlich vor mir, saß Vater mit seinen arbeitslosen Kollegen am Tisch in unserer Wohnstube. Ich hörte zu. Mit sehr ernsten Gesichtern redeten sie über ein Angebot von der Bahnmeisterei, das man ihnen übermittelt hatte. Es hieß, sie könnten umgehend Arbeit kriegen und bei der Bahn wieder eingestellt werden, wenn sie sich bereit erklärten, in die neue von den Nazis gegründete Gewerkschaft, einzutreten! – Sie wollten nicht! – Aber sie waren schon lange arbeitslos! Nach langem Reden und Abwägen einigten sie sich: Sie müssten wohl oder übel eintreten, es würde hoffentlich nicht so schlimm kommen. Vater und seine Kollegen wurden auf diese Weise Mitglieder des NSBO, der wenig später „Deutsche Arbeitsfront“ genannt wurde. Und Mutter machte ein zufriedenes Gesicht: Endlich wieder Arbeit! Am 1. Mai mussten sie dann in unserer Kreisstadt Löwenberg schon alle mitmarschieren bei der „nationalsozialistischen Maikundgebung aller schaffenden Deutschen der Faust und der Stirn“.
Später, ich weiß nicht mehr wann, brachte Vater an einem Freitagabend mehr Lohn nach Hause. Ich sehe noch, wie er die Lohntüte auf der Tischplatte ausschüttete, bei bester Laune, und unserer Mutter stolz vorzählte, wie der gewohnte Betrag nun um einiges größer geworden war. So ein kleiner Gewinn half auch, den einen oder anderen politischen Schmerz zu mildern.
Überhaupt war es in unserem kleinen Dorf etwas ruhiger geworden im Laufe des ersten Jahres der Naziherrschaft. Nach der Aufregung um den Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin im Februar/März 1933 wurde zunächst – wie mir heute scheint – weniger politisiert. Nun ließ der Sommer ohnehin nicht viel Zeit zu politischen Debatten. Die Bauern arbeiteten wieder von früh bis spät auf den Feldern … Und Vater und seine Kollegen waren zunächst wieder froh, Arbeit zu haben. Man richtete sich neu ein und wollte etwas schaffen, für sich und die Seinen. Zudem musste auch der begonnene Schuppenbau zu Ende gebracht werden.
Im Allgemeinen warteten die Dorfleute wohl ab, was sich da in Berlin weiter tat. Hitler hatte ja versprochen, nach den unsicheren, unruhigen Jahren der Weimarer Republik im neu „erwachten nationalsozialistischen Deutschland“ nun endlich „Ruhe und Ordnung“ zu schaffen. Für „Arbeit und Brot“ wollte er sorgen, auch für Gerechtigkeit und für Deutschlands wirtschaftlichen und politischen Aufschwung. Er pries die „Wiederauferstehung des deutschen Volkes zu nationaler Größe“, versprach unseren Bauern den „Schutz von Blut und Boden“ und forderte nach außen die „Wiedergutmachung der Schande von Versailles“.
Unbedarft wie man war, fanden es manche gar nicht so schlecht: Wenn er’s schafft, dieser Hitler? Warum nicht! Und dass „man“ die Kommunisten „ausschaltete“, das hat bei uns im Dorf wohl nur einige erregt. Vielleicht half es sogar, wenn Hitler diese „Stänkerer“ aus dem Wege räumte? Dass er aber auch gleich noch die SPD verbot, das hat natürlich erstmal bei den Arbeitern Verwunderung oder Enttäuschung und heimliche Kritik hervorgerufen.
Aber die Propaganda der Nazis lief ja auf vollen Touren und war darauf gerichtet, dass die Leute sich sagen und glauben sollten: Vielleicht ist doch dieses andauernde Parteiendurcheinander vor 1933, dieser nach der „guten alten Kaiserzeit“ gemachte Versuch einer Demokratie, wo alles kreuz und quer redet und schließlich nur Arbeitslosigkeit übrig bleibt, am besten durch eine „starke Führung“ aus der Welt zu schaffen? Vielleicht ist der Hitler doch unser Mann? – Derartige Gedanken griffen, soweit ich das mitbekommen hatte, um sich, und ich weiß, mit der Zeit nisteten sie sich so ungefähr auch in meinem Kinderkopf ein. Oder man hörte die Alten so landläufig sagen: Das Leben geht so und so weiter. Wir müssen nun zusehen, wie wir unter den jetzigen Verhältnissen zurecht kommen. Oder: „Su schlimm wird ’s schun ni wärn“. Und da erinnere ich mich an den Wahlspruch meiner herzensguten Tante: „Wer mit den Wölfen lebt, der muss auch mit den Wölfen heulen!“, den sie auch zu späteren DDR-Zeiten von sich gegeben hat. Dann sehr zu meinem Ärger!
Damals war ich natürlich als 10-jähriger Junge in diesem Gewirr von Meinungen ziemlich unsicher. Was verstand ich schon von Politik und Demokratie oder gar von Zivilcourage? Aber ich war auf meine Weise mit all dem beschäftigt, was so Tag für Tag passierte, und es interessierte mich wirklich, was da vorging im Dorf, in der Kreisstadt und in unserer Hauptstadt Berlin; und ich war recht neugierig darauf, was Vater, die Nachbarn und die Leute dazu sagten.
Was ich im März 1933 keineswegs mitbekommen habe, war die Durchsetzung des „Ermächtigungsgesetzes“ im Reichstag. Ich fürchte, die meisten Leute in unserem Dorf haben von dieser horrenden Tatsache kaum Notiz genommen oder waren sich der Tragweite dieses Gesetzes nicht bewusst. Jedenfalls kann ich mich – wie schon gesagt – nicht erinnern, dass diese politischen Vorgänge im Frühjahr – Sommer 1933 die Leute in unserem Dorfe sehr erregt hätten. Zumal: Der eigentliche Sachverhalt dieses Ermächtigungsgesetzes wurde ja von den Nazizeitungen nach außen hin, also für den gemeinen Mann, beschönigt und propagandistisch so gerechtfertigt, als handle es sich hier um eine vernünftige Zustimmung einer Volksvertretung und als einzige Möglichkeit, durch „kräftiges Zugreifen“ einer starken Regierung die Not des Volkes aufzuheben und alle Menschen in ein besseres Leben zu führen. Ich habe heute noch Hitlers Parole im Ohr: „Gebt mir vier Jahre Zeit!“ Nun ja, und wir Unwissenden dachten dann wohl: Bitt’ schön, soll er’s uns doch beweisen … .
Im Laufe der Jahre 1934/1935 ergab sich eine breitere Zustimmung zur Hitler-Regierung. Vielleicht hielten sich auch kritische Stimmen vorsichtiger zurück. Teils kam schon naive Begeisterung für Hitler auf, der nun „über das Radio“ öfter zündende Reden an das Volk hielt. Er wandte sich an die „Volksgenossen“, an das „ganze deutsche Volk“ und rührte an die nationale und soziale Seele der kleinen Leute. Und wer zu ihnen „gut reden“ konnte, der war sowieso gut angesehen.
Meine Eltern besaßen in jenen Jahren noch kein Radio. Die Nachbarn von nebenan luden uns ein: „Heute obend sprricht Hittler! Ierr kennt kummen, wenn ierr wullt.“ Wir gingen, und ich durfte mit. So hörte man zu und konnte sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. Selbst ich als Zehnjähriger glaubte, viel zu verstehen von dem, was dieser Hitler sagte. Es beeindruckte mich auch, wie er sprach: wie er die Stimme energisch anhob, wie er mahnend zur „nationalen Erhebung“ aufforderte, wie er den „Novemberverbrechern“ drohte, wie er schrie oder wiederum geschickt besänftigte und auf unerklärliche Weise zu überzeugen vermochte. Die Erwachsenen in der Runde nickten öfter mit dem Kopf. Man war sich zumindest einig: „Ein großer Redner“ – und war nicht weit davon entfernt zu sagen: „Ein großer Mann.“
Eine derartige Breitenwirkung war natürlich jetzt, in den Dreißiger Jahren, erstmals möglich mit Hilfe des Radios. Der Rundfunk hatte seinen Siegeszug angetreten, und das Hitler-Regime nutzte das neue Medium Rundfunk für seine propagandistischen Kampagnen geschickt, rücksichtslos und erfolgreich aus. Rücksichtslos insofern, weil sich Hitlers Propaganda-Ministerium nach der Machtübernahme sofort der Rundfunkanstalten bemächtigt hatte. Sogleich sorgte man auch dafür, dass Rundfunkgeräte „für das Volk“ hergestellt wurden. Wenig später, aber noch in den Jahren vor dem Krieg, konnte sich fast jeder wenigstens einen „Volksempfänger“ leisten und mittels einer aufwendigen, sichtbaren Außenantenne die „große Politik“ und alles, was ihr dienen sollte, ins eigene kleine Haus hereinholen.
1936 konnte unser Vater, wenn auch keinen neuen Volksempfänger, so doch einen gebrauchten „Radioapparat“ auf Abzahlung vom Radio-Händler kaufen. Wir hörten nun vor allem den „Reichssender Breslau“ und den „Deutschlandsender“. Und alles, was in unserer Stube aus dem Radio herauskam, war eigentlich gut und schön und niemals gegen den Nationalsozialismus gerichtet. Im Gegenteil: Jeder stolz verkündete Sieg der deutschen Autorennfahrer, ob durch Stuck, Caracciola oder Rosemeier, ob auf Mercedes oder Auto-Union, jeder deutsche Sieg bei internationalen Sportwettkämpfen, jede übertragene Eröffnung einer neuen Autobahnstrecke oder die Übertragung des Breslauer Sängerfestes oder ein abendfüllendes Militärkonzert, nicht zu vergessen die beliebten Unterhaltungskonzerte unter der Leitung von Karl Woitschach und Otto Dobrindt, all solche sportlichen oder kulturellen Leistungen wurden propagandistisch zu einem Gewinn für die Hitlerherrschaft umgemünzt. Und die allabendlich gesprochenen Nachrichten des „Reichsrundfunks“ waren natürlich die Nachrichten, die das Propagandaministerium unter Goebbels konzipiert und vorgegeben hatte. – Nirgends mehr eine Widerrede! Keine Gegendarstellung! Keine politischen Kontroversen! Jeder hörte nur das, was er hören sollte.
Natürlich waren auch die Zeitungen und Zeitschriften längst in das gleichgerichtete Fahrwasser der Nazipropaganda gezogen worden. Wir konnten lesen von den großen Leistungen der Hitlerregierung, vom „wohlbringenden Arbeitsbeschaffungsplan des Führers“, vom „Aufblühen der Wirtschaft“, vom „stolzen Gedeihen einer nationalsozialistischen Kunst und Kultur“, von der „gewachsenen Wehrhaftigkeit unserer deutschen Soldaten“ und dgl. mehr.
Derartiges stand nun auch im „Löwenberger Anzeiger“, einem einst bürgerlich-liberalen Blatt, das Vater nach dem Verbot der sozialdemokratischen „Volksstimme“ abonniert hatte und bei uns im Hinterdorf von Katke Marie ausgetragen wurde. Dieses Kreisblatt war ausgerichtet nach dem von der NSDAP herausgegebenen überregionalen „Hirschberger Beobachter“, der wiederum der nazistischen Führungs-Zeitung folgte, dem „Völkischen Beobachter“ aus der Berliner Propagandazentrale.
Die Zeitungen, die wir Dorfbewohner in die Hand bekamen, waren also „gleichgeschaltet“. Mit der Zeit glaubten immer mehr Leute das oder an das, was in der Zeitung zu lesen stand und was das Radio verkündete. Sicherlich wird es im Dorf auch politisch erfahrene oder gebildetere Leute gegeben haben, die sich der gefährlichen Folgen dieser einseitigen Beeinflussung bewusst waren, aber sich öffentlich schon nicht mehr kritisch zu äußern wagten. So bildete sich – wenn ich das richtig gesehen habe – in ein – zwei Jahren unter vielen Leuten im Dorf die Meinung heraus, es ginge doch jetzt etwas vorwärts, fast alle hätten nun Arbeit, verdienten auch ein wenig mehr als früher, es gäbe keinen Parteienstreit und man fühle sich im allgemeinen sicherer.
Die aktiven Hitleranhänger rühmten diese Erfolge und traten immer selbstbewusster an die Öffentlichkeit, und an den staatlich verordneten Feiertagen hängten immer mehr Leute eine neue Hakenkreuzfahne zum Fenster hinaus. In der Kreisstadt, am Markt und in den Straßen, staunte ich über die vielen Fahnen. Man glaubte sehen zu können: Da hat sich allerhand verändert, „so viele sind jetzt schon für Hitler!“
Auch unser Lehrer, in unserer Dorfschule, trug dann irgendwann das runde Hakenkreuzabzeichen auf seinem Rockaufschlag. Er war der Hitlerpartei beigetreten. Wir Kinder haben das einfach so hingenommen. Nur mein Vater hat da eine abfällige Bemerkung gemacht, obwohl mir inzwischen schien, dass er dem Hitler auch nicht mehr ganz so abgeneigt war wie vielleicht 1932.
In der Schule
Ehe ich von der Schule und von meinen Schulerfahrungen berichte, will ich von einer Begebenheit erzählen, die sich in enger Verbindung zur Schule zugetragen hat: Im Mai/Juni des Jahres 1934 müsste es gewesen sein, da wurde ich auf einmal aufmerksam gemacht auf das „Deutsche Jungvolk“. Diese von der Nazipartei gegründete und geführte Kinderorganisation für Jungen bis zu 14 Jahren hatte mich 9-jährigen vorher nicht sonderlich interessiert. Doch jetzt hörte ich mehrfach von den älteren Schülern unserer Schule, wie schön und interessant es wäre, Mitglied in diesem „Jungvolk“ zu sein. Vor allem des Samstags sprach man davon, wenn mehrere der größeren Jungen im Unterricht fehlten. „Die sind zum Staatsjugendtag“, so hieß es. Bald sprach sich herum: Wer Mitglied des „Jungvolks“ ist oder wird, braucht sonnabends nicht am Schulunterricht teilzunehmen, denn der Sonnabend ist der „Staatsjugendtag“, und da hat jeder Jungvolkjunge (auch Pimpf genannt) den ganzen Tag „Jungvolkdienst“! „Dienst“, das bedeutete Marschieren, Lieder lernen, Exerzieren, sportliche Spiele, vor allem aber Geländespiele, was mich mächtig anzog. Dazu gehörten auch Übungen im Zeltaufbau, Einrichten eines Lagers, Anlegen einer Kochstelle, Orientieren im Gelände und lauter solche schönen Sachen! Besonders reizvoll erschien mir das Abkochen im Freien. Das wäre doch ein riesiger Spaß, über einem offenen Feuer in einem großen Lager-Kochtopf eine schmackhafte Suppe zu kochen! Überhaupt: das Ganze – wie abenteuerlich! Hinzu kam der außergewöhnliche Reiz: Man durfte einfach von der Schule wegbleiben, und der Lehrer konnte gar nichts dagegen machen! So fragte ich mich natürlich, was ich da tun müsste, um beim Staatsjugendtag dabei sein zu können. Ich war zwar erst 9 Jahre alt, aber ein unternehmungslustiger Junge. Also nichts wie hin – und hinein in das Jungvolk, damit ich am Sonnabend mit den anderen hinausziehen kann … . So meldete ich mich mündlich beim „Jungenschaftsführer“ an, ohne dass Lehrer und Eltern davon wussten, und zog am nächsten Sonnabend mit. Wir marschierten am frühen Morgen in das Nachbardorf Walditz, trafen uns dort mit „Jungenschaften“ aus Nachbardörfern, zogen ins Gelände und hatten dann einen unheimlich interessanten und aufregenden Tag. Aufregend auch noch deswegen, weil mich trotz aller Begeisterung zwischendurch das schlechte Gewissen plagte: Wird das gutgehen, wenn ich heimkomme? Doch die Begeisterung nahm wieder Überhand, als wir die auf offener Feuerstelle gekochte Erbsensuppe in uns hineinschlangen.
Nun ja, Vater hat mir nach meiner Rückkehr die Leviten gelesen, ist aber über ernsthafte Drohungen nicht hinausgegangen. Schlimmeres fürchtete ich am Montag in der Schule. Der Lehrer, längst informiert über die Gründe meines Fehlens, nahm mich vor: „Bahner, warum warst du am Sonnabend nicht in der Schule?“ Ich versuchte zaghaft, mich zu rechtfertigen: Das sei doch erlaubt für Jungvolkjungen, die anderen seien ja auch mitgewesen …., da ja „Staatsjugendtag“ … und so fort. – „Aber erst, wenn man zehn Jahre alt geworden ist! Du bist erst neun!“ Da hatte ich die Bescherung. Also musste ich vorerst auf meinen Staatsjugendtag verzichten und sonnabends wieder brav zur Schule gehen. So ganz für mich, im Stillen, beschloss ich nun erst recht, demnächst ein „richtiger Jungvolkjunge“ zu werden. Über eins hatte ich mich gewundert: Entgegen allen Erfahrungen mit unserem Lehrer griff dieser diesmal nicht zum Stock, um mich zu strafen, und er erschien mir trotz seiner unmissverständlichen Zurechtweisung nachsichtiger als sonst. So geschah mir nichts weiter, als dass ich künftig die Sonnabende in der Schule verbringen musste, darauf hoffend, in einem halben Jahr als Zehnjähriger dann mit den anderen „Jungvolkjungen“ wieder sonnabends zu spannenden Geländespielen hinausziehen zu können. Doch diese ganze Geschichte endete für mich schließlich mit einer Enttäuschung. Als ich im Februar 1935, nach meinem zehnjährigen Geburtstag, mit Zustimmung meiner Eltern regulär in das Jungvolk eintreten durfte, hatte man inzwischen schon von staatlicher Seite den „Staatsjugendtag“ wieder abgeschafft! Man hatte längst nicht mehr nötig, durch einen schulfreien Sonnabend für den Eintritt in das „Deutsche Jungvolk“ zu werben. Inzwischen waren so gut wie alle Mädchen und Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen „erfasst“. Nicht dass die Jungen aus purer naziideologischer Begeisterung beigetreten wären. Nein, sie sind meistens – wie ich – durch anreizende abenteuerliche Freizeitbeschäftigungen geradezu hineingelockt worden. Ein Jahr später sorgte Hitler mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ (vom 1. Dez. 1936), dass „die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes in der Hitlerjugend zusammengefasst ist“. Von diesem Gesetz und der damit verbundenen politischen Strategie habe ich als 11-jähriger kaum oder so gut wie gar nicht Notiz genommen.
Wir Jungen waren nun alle „drin“ im Jungvolk, fanden daran nichts Anstößiges, im Gegenteil: Das war schon in Ordnung. Und die Erwachsenen hatten dagegen auch nichts mehr einzuwenden. – Wir waren zur „Jugend des Führers“ geworden, ohne dass wir das genau gemerkt hätten!
Nun möchte ich hier aber das Thema „Hitlerjugend“ vorübergehend in den Hintergrund stellen und zu dem am Anfang des Kapitels genannten Thema „In der Schule“ zurückkommen. Wie’s in der Schule war, auf unserem schlesischen Dorf, damals, in den Jahren 1931 – 939, davon will ich jetzt hauptsächlich erzählen.
…. Mancher wird sich wundern, wenn ich „von unserem Lehrer“ spreche – im Singular! Ja, in der Mehrzahl wäre das nicht möglich, denn wir hatten in unserer Dorfschule nur einen Lehrer! 67 Schulkinder im Alter von 6 – 14 Jahren und dazu nur ein Lehrer! Man nannte so was eine „einklassige Volksschule“. Diese Bezeichnung ist irreführend. Daher muss hier erklärt werden, was man darunter versteht und wie so eine einklassige Volksschule bei uns funktioniert hat:
Im Winter um acht, im Sommer um sieben Uhr begann in unserem Schulhaus der Unterricht. Er erfolgte im Laufe des Vormittags für alle Schüler in einem Klassenraum! – In den ersten beiden Stunden unterrichtete der Lehrer die „Großen“; das waren die Schüler des 5. bis 8. Schuljahres, zusammengefasst in einer Abteilung, die Mädchen rechts vom Mittelgang in den hinteren Viererbänken sitzend, die Jungen gegenüber ebenso in Viererbänken zur Linken des Mittelganges. Aber wir saßen nicht nur dem Alter nach geordnet. Die schulischen Leistungen eines jeden Schülers waren ein zweiter gewichtiger Wertmaßstab für die Reihenfolge in der Sitzordnung. Der „Beste“ war „Klassenerster“. Dieser saß auf dem „ersten Platz“. Hinter ihm folgten die nächstbesten, der zweitbeste, der drittbeste, … . Rechts auf der anderen Seite des Mittelganges, also auf dem Eckplatz der Mädchenseite, saß die „Klassenerste“ der Mädchen.
In der Mitte des Klassenzimmers saßen die Schüler der 2. Abteilung, die Mädchen und Jungen des 3. und 4. Schuljahres, deren Unterricht mit der 3. Stunde begann. – Ganz vorn, die niedrigen Viererbänke rechts und links, nahmen die „Kleinen“ auf, die Schüler vom 1. und 2. Schuljahr, die im Laufe des Vormittags zuletzt kamen und die vorwiegend in der 5. und 6. Stunde vom Lehrer unterrichtet wurden.
Es war also für unseren Lehrer geradezu ein echtes Kunststück, während der sechs Unterrichtsstunden abwechselnd die Schülerinnen und Schüler der verschiedenen Abteilungen und Altersgruppen so zu unterrichten, dass er sich jeweils für eine bestimmte Zeit unmittelbar einer Abteilung zuwendete, während die anderen „still beschäftigt“ die erteilten Aufgaben lösen mussten.
Für unseren „Otto“, so nannten wir unseren Lehrer in der Schülersprache nach seinem Vornamen, war das gewiss ein sehr anstrengendes Pensum: 6 mal 6 Unterrichtsstunden in der Woche mit über 60 Schülern verschiedener Altersgruppen, hinzu Unterrichtsvorbereitungen und die Korrekturen der schriftlichen Schülerarbeiten und was noch so alles dazu kam! Zum Glück verfügte unser Otto, wie alle anderen Schullehrer in den Nachbardörfern, über einen harten Rohrstock, mit dem er sich auf wirksame Weise Respekt und Disziplin verschaffen konnte. Da er dieses Mittel nicht gerade sparsam einsetzte, hatten wir eher Angst vor ihm als Respekt. Doch lassen wir zunächst den Stock im Schrank stehen. Von dort soll er später noch mal zu kurzer Betrachtung hervorgeholt werden. –
Ich fand diesen Abteilungsunterricht in unserer Dorfschule keinesfalls langweilig. Waren wir selbst „nicht dran“, unterrichtete der Lehrer gerade eine andere Abteilung, genoss ich die auferlegte „Stillbeschäftigung“ auch als individuellen Spielraum. Zuerst hatte ich natürlich mit den „aufgegebenen“ Aufgaben zu tun. Mal schneller, mal dahintrödelnd, je nachdem, was sich sonst noch Interessantes unter Banknachbarn oder im Unterrichtsgeschehen der nächsthöheren oder -niederen Abteilung ergab. Gelegentlich sah man sich von dort abgelenkt, wenn laute Worte des Lehrers, komische Schülerantworten oder interessantes Reden so nebenbei zum Mithören anregten. – Es war auch ganz unterhaltsam, wenn man als Jüngerer so beiläufig aufschnappte, was eigentlich für die Älteren hinter uns gedacht war, oder wenn man als Älterer im Zuhören bei den Jüngeren vor sich bereits Gelerntes oder nur Halbgelerntes unaufgefordert wiederholen bzw. vertiefen konnte. Gleichzeitige Aufmerksamkeit aller Stillbeschäftigten wurde meist dann wachgerufen, wenn beim Unterricht der anderen Abteilung etwas Dramatisches passierte. Wenn sich einer saublöd anstellte, wenn der Lehrer in Zorn geriet, wenn der Stock mit entsprechenden Kommentaren in Aktion gesetzt wurde und sich für uns alle ein fesselndes Schauspiel in Szene setzte. Die meiste Zeit jedoch war man mit sich selbst beschäftigt. Ich zum Beispiel bei Rechenaufgaben, wo ich mich arg konzentrieren musste oder unauffällig Kontakt zu dem besseren Rechner neben mir zu knüpfen versuchte! – Waren die „stillen“ Aufgaben aber im Handumdrehen gelöst, blieb auch noch Zeit für interessanten Zeitvertreib. Manchmal las ich heimlich unter der Bank meinen 20-Pfennig-Schmöker. Zu zweit konnte man „Schiffe versenken“, „Städte raten“ oder „Mist fahren“ oder gar zu dritt mit Mini-Spielkarten „Schafskopf“ spielen. Letzteres war bei uns sehr beliebt, aber auch riskant, verlangte es doch gekonnte Schläue und gut entwickelte Verstellungskünste. Nicht erwischt werden dabei – das war schon eine Leistung! So ein Trio flog öfter auf. Der erfahrene Blick des Lehrers hatte unser Spiel im Untergrund durchschaut. Die Spielkarten mussten nach vorn gebracht werden, und die Anzahl der Stockschläge wurde verkündet.
Wobei ich angelangt bin bei der bereits erwähnten Absicht, den Stock noch einmal aus dem Schrank hervorzuholen. Dort stand der Rohrstock (aus 8 – 10 mm Bambusrohr) in einem vertikal angelegten Fach neben den zusammengerollten Anschauungstafeln, es sei denn, er war wegen wiederholten Gebrauchs auf dem Katheder liegen geblieben. Wir fürchteten natürlich den Rohrstock, denn die Schmerzen, die körperlichen, die er verursachte, trieben vielen von uns die Tränen in die Augen.
Ich habe als Schulkind den Stock des Lehrers akzeptiert, wenn er nach meinem Dafürhalten zu Recht eingesetzt worden ist. Ich glaube, alle fanden es normal, wenn in der Schule mit dem Stock „erzogen“ wurde. Auch die meisten Eltern, denke ich, waren damit einverstanden. Vater höre ich sagen: „Es wird schun netig sein und konn nie schoden.“
Unser Otto hatte ein bestimmtes Strafsystem. Je nach Schwere des Vergehens wurden 1, 2, 3 oder im Extremfall (was seltener vorkam) noch mehr Stockschläge „verabreicht“: den Mädchen grundsätzlich auf die ausgestreckte innere Hand, uns Jungen im Winter auf die gleiche Weise, jedoch im Sommerhalbjahr bei gebücktem Oberkörper auf den dünnbehosten Hintern. Unser Lehrer holte tüchtig aus, und wenn er bei Schlägen auf die Hand die Fingerpartie traf, tat es besonders heftig und anhaltend weh. Einige weinten vor Schmerz. Manch einer heulte auf wie ein getroffenes Tier. Nur wenige hielten sich stark, verzogen lediglich das Gesicht, rieben sich die getroffene Hand und gingen aufrecht auf ihren Platz. Wer die Hand aus Angstreflex vor dem zu erwarteten Schlag spontan zurückriss, musste – bei Wiederholung – mit Erhöhung des Strafmaßes rechnen.
Wurde nur sachlich gestraft und zugeschlagen, blieb es beim physischen Schmerz; bei ironischen oder gar zynischen Kommentaren des Lehrers tat es auch noch innerlich weh. – Und nicht zu vergessen: Das alles fand vor der Öffentlichkeit des Klassenzimmers statt! Da gab es neben Mitgefühl und Solidarität auch Schadenfreude!