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"Da kommt sie bestimmt auch. – Ab Sonnabend bin ich für zwei Wochen im Urlaub. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?"
Soll ich sie nach den Resultaten der Untersuchung fragen? Andrerseits macht sie auf mich nicht den Eindruck, als würde sie mich ausreichend aufklären wollen. Dann eben ein anderes Mal.
*
Was mache ich nun?, steht die seit ein paar Wochen ewig existierende Frage wieder im Raum. Und wie so oft bleibt mir nur das salomonisches Urteil: Erst mal Lage sondieren.
Was zu meinem Bedauern aber nicht so einfach ist, da meine Brille am Sonntag durch meine eigene Schuld – ich habe mich auf sie darauf gesetzt – kaputtgegangen ist. Von meiner Schwester war sie am Montag zwar mitgenommen worden, aber seitdem hat sich niemand mehr blicken lassen – außer Pia natürlich. Und komischerweise sehe ich hier drin noch schlechter als in der ITS. Ebenso fällt mir das Aufstehen viel schwerer, und bis zum nächsten Locus, an dem man sich festhalten könnte, ist es furchterregend weit. Mir bleibt also nur das Aufrichten. Doch bevor ich beginnen kann, mich abzumühen, geht die Tür auf. Kommt meine Mutter? Zeigt Pia ihr niedliches Antlitz?
Jemand im rosa Kittel erscheint, jemand den ich nicht kenne; und auch die Bedeutung des Kittels ist mir fremd.
"Guten Tag. Ich bin die Physiotherapeutin Frau Miller."
Physiotherapeutin – was soll das sein?
"Ich habe die Aufgabe, mit Ihnen Krankengymnastik zu machen, Sie wieder aufzubauen." Sie lächelt dabei, sieht gut und stabil aus (friedensbereite Amazone), erfrischend. Auch ist sie mir bedeutend sympathischer als die Ärztin. Und mit ihr scherzen scheint man auch zu können.
"Na damaran", bedeute ich ihr. "Dasiegen gehmir nämi offn Gist."
"Morgen geht es erst los. Ich wollte nur mal kommen, um zu sehen, welche Aufgabe auf mich wartet. Und deshalb werden wir mal was probieren."
Sie macht daraufhin Übungen mit mir, die ich schon von der ITS her kenne – deswegen stößt sie manchmal einen Überraschungsjauchzer aus, weil es so gut klappt – und auch einige Übungen, die mir noch nicht geläufig sind. Zum Beispiel soll ich ihr die Hände drücken, einmal mit rechts und einmal mit links. Oder den Daumen und den kleinen Finger zusammenbringen. Oder mich an den Füßen kitzeln.
"Links ist gut", meint sie hinterher, "nur rechts lässt zu wünschen übrig."
"Mit echts habch übest Pobeme, richtsch", kläre ich sie auf.
"Okay. Morgen komme ich wieder. Um 9.00 Uhr. Dann geht es voll los."
"Ich bi schafafSe. Wie schät issn eigetlich?"
Sie schaut auf die Uhr: "15.l0 Uhr. Tschüss."
*
So, und was tue ich nun? Wieder die obligatorische Frage. Durch die Gegend wandeln kann ich nicht, zum Lesen habe ich keine Lust. Meine Mutter müsste ja gleich kommen. Allerdings bis dahin dazuliegen wie fest geleimt, ist auch nicht mein Ding. Also richte ich mich auf im Bett, was soll ich sonst machen.
In der ITS ging das viel leichter vonstatten. Aber das liegt wohl an den hier anwesenden Kuhlen, durch die man sich vorkommt wie beim Klettern an einer steilen Felswand. Trotzdem kann ich aber von hier aus das Fenster richtig sehen und durchgucken. Was hier aber noch uninteressanter ist. Außerdem saß ich dort am Fenster und nicht paar Meter davon entfernt.
*
Nach einiger Zeit – keine Ahnung wie vieler; auf alle Fälle viel zu vieler – gibt es Abendbrot.
"Wie schät issn?", frage ich die attraktive Schwester, die, wie sie mir erzählt hat, Gabi heißt.
"17.00 Uhr. Erwartest du noch jemanden?"
"Eigetich ja, dodas hasich wohl erledit. Meie Muttr wollaut Telfon heu hier offauchn; abes Telefon is kanntich geduldig."
"Na ja, die Besuchszeit ist schon vorbei, aber sie kommt bestimmt morgen. Ich glaube nicht, dass sie dich hier hängenlässt. Sie ist doch deine Mutter."
"Jaa, dasalelelerdings", erwidere ich bedächtig. Denn in mir drin hat sich ein weiteres Puzzleteil von meiner Beziehung zu ihr gefunden: Sie ist so zuverlässig wie eine Boa, welche dem Kaninchen erklärt, dass sie es nicht fressen wird. Und scheinbar will sie dieser Offenbarung Nahrung geben, auf dass sie sich noch tiefer in mein Hirn einpflanzt. Auf jeden Fall bin ich jetzt äußerst missgelaunt.
"Kurz, bevoch hekam", erzähle ich nun Gabi, obwohl es mir scheint, als wenn die Zeit in der ITS Lichtjahre weit weg liegt, "wolle sesich undingt steiten. Meie Schwestr haf dalei. Irgendn – irgendeen Wort sollch sagt ham, was abr ni der Wikichkeit entspach. Logischrweis liessch mi dani gefalln. Und so sindse dann eben wüten abzogn."
"War das echt nötig?", will sie wissen.
"Ja, dennan dafja schließich ni vonner Rangfo-fo-folge ab-wei-ch-ch-en. Also musstichn zeign, wosanggeh. Voallm, daichm Recht war."
"Du bist wohl nicht immer im Recht?"
"Kansei, abr behalt es für dich."
Sie lacht: "Muss ich mir noch überlegen. – sage mal, hast du eigentlich Anziehsachen?"
Ich schüttle den Kopf.
"Also möchtest du dich ihr gegenüber ein bisschen beherrschen. Denn hier brauchst du welche."
"Aalsoer Leisatz: Enwedr du bis fo-fogsam, einjedn Mis, dench befehl, ausfühen Sonn oder du kommt keene Sachn. Isso?"
"Da gibt es schon andere Möglichkeiten. Nur glaube ich, du kannst jetzt keinen zusätzlichen Ärger gebrauchen, hast ja schon genug mit dir zu tun. – So, nun aber guten Appetit!", wünscht sie mir, bevor ich noch Weiteres sagen kann.
Ich beäuge das Abendbrot erst einmal. – Gut, dass ich mir in der ITS was angemampft hab. Denn was ich hier angeboten kriege, ist der reinste Fraß. Tote Oma scheint hier das Hauptgericht zu sein, sie ist dreimal auf dem Teller. Ich bin aber kein Mitglied vom diesem Fanklub.
*
Nach einer Weile kommt Gabi wieder.
"Kanni Naschlag ham?", frage ich sie.
"Du hast doch noch zwei Scheiben drauf, iss doch die erst mal."
Ich verziehe angewidert das Gesicht: "Willt mi vergifn? So schnellaste aalso die Nase voll vommer."
Sie fängt an zu lächeln, folglich kann sie verstehen, worauf ich hinaus will: "Tut mir leid für dich, aber wir haben nichts anderes da. Also: Essen oder hungern?"
"Hungern."
Sie ergreift Schulter zuckend meinen Teller und verschwindet.
*
Ich habe noch ein bisschen gelesen, jetzt aber die Augen zugemacht, allerdings ohne gleich einschlafen zu können. Muss mir itzo eingestehen, dass ich wahrscheinlich nicht verarscht werde, dass es wirklich einen Unfall gegeben haben muss. Nur – ich kann mich nicht daran erinnern! Doch eine Chance bleibt mir noch: Vielleicht bin ich gar nicht Mike Scholz. Doch wer bin ich dann?? Auf jeden Fall einer, der beschissen dran ist. Kann nicht laufen, schlecht sprechen, den Körper schlecht bewegen ... Doch wie komme ich dann in den Körper? Reingeschlüpft? Blödsinn. Ich muss mal in den Spiegel gucken. Will ich das wirklich? Ja, ich will! Ich will Klarheit haben! Ich muss in den ...
2
Donnerstag, 20. September. Vormittag. 09.00 Uhr.
"Na, wie geht's, Herr Scholz?", fragt Frau Miller, die pünktlich erschienen ist und von mir beinahe sehnsüchtig, zumindest aber mit großer Spannung erwartet wird.
"Ich hoff bessr, wennSe wiedrehn! – Übigns, Sie kömi ruhig Mike nenn. Ich erloubsn."
Sie lacht: "Okay, Mike. Jetzt geht es aber ran an die Arbeit."
Ich soll Sachen versuchen, die der Verbesserung meiner Kraft und Koordination dienen, z.B. Arme heben und spreizen, ebenso die Beine. Außerdem brachte sie einen kleinen Gummiring mit, den man zusammendrücken muss, also zur Kräftigung der Finger dient. Und auch noch einen, den man auseinander ziehen soll. Problematisch, vor allem der zweite. Aber auch, wenn ich nicht Mike Scholz bin, sondern irgendjemand anderes, ich muss es hinkriegen, koste es, was es wolle. Denn dann bin ich es dem anderen schuldig!
*
"Soll ich die Ringe hier lassen?", erkundigt sich Frau Miller, am Ende ihrer Session.
"Dasärni schlech, da kanma sich wenstns die Zeit verteibn. Außerdem willi soschne wiemögch weg! Dat kotzt mian hier!"
"Okay, hier sind sie. So, tschüss bis morgen."
Kaum ist die Tür wieder geschlossen, frage ich mich, warum nicht zweimal am Tage. Abgesehen davon hätte ich mich ja gleich mal erkundigen können, wie lange ich hier kampieren muss.
Nun gut, dann muss ich es eben morgen machen.
*
Am Nachmittag kommt Pia: "Na Mike, wie geht's?"
"Umsändn entspechn. Aber hierinne isso herich beschissn. Erinnert michirgndwie ande Fottenschü."
"Inwiefern?"
Nachdem ich es ihr erklärt habe und wir eine Reihe von Küsschen getauscht haben – keine richtigen Küsse, obwohl ich es versuche – Warum nicht? – kommt plötzlich ein Pfleger herein und verkündet, dass er mich waschen will. Wir sollen Schluss machen.
"Ja, wir sind gleich fertig", antwortet Pia.
Ich aber finde es unverschämt, einen damit mitten am Tage bei seinem Besuch zu stören. "Son Misvieh!, befinde ich deshalb, als er sich – nur einen Moment wahrscheinlich – verzogen hat. "Sahso aas, alsenner neidiisch wär. Der will wohouma!"
"Igittigitt!", schüttelt sich Pia von Ekel angefallen; "da könntest du mir ruhig was Besseres anbieten! Doch ..."
"Mizum Beispie?", unterbreche ich sie.
Sie überlegt. "Hm, ja, das wäre eine Möglichkeit. – Doch ich muss jetzt sowieso los."
"Scheiße!"
"Nicht doch, nicht doch. Und du musst mir auch versprechen, wegen jetzt kein Aufstand zu inszenieren."
"Zähnirsch ja. Wenndmi mit som schmachtenden Blick ansaust, kannchir donischabschlagn."
Sie teilt mir noch mit, dass sie jetzt nicht mehr jeden Tag kommen könne aufgrund finanzieller Probleme, deshalb in Zukunft nur noch aller drei Tage, und will dann wissen, ob meine Mutter schon hier gewesen sei.
"Ääh, wo denksenhin?! KeeSpur vonnerher äh bisher. Ichrauch abr meie Kamottn."
Plötzlich gerate ich in Rage, rege mich auf wie eine wild gewordene Furie; kann aber nichts dagegen tun – obwohl ich es nicht möchte; es überfällt mich einfach und nimmt nur zögernd seinen Zugriff wieder weg. So lasse ich mir auch diesmal die übelsten Schimpfwörter einfallen, um meine Mutter zu charakterisieren, um meine Gefühle ihr gegenüber der Außenwelt deutlich zu machen.
"Mike", möchte mich Pia beschwichtigen, "das mag zwar wahr sein, aber du musst es nicht so direkt sagen."
In dem Moment kommt der Pfleger wieder rein.
"Oh nee, scho wiedr", murmle ich, nur für Pia hörbar. (Ich nehme es zumindest an, denn ich bin ganz leise geworden.)
"Kann ich ihn nicht waschen?", schlägt sie dem Pfleger vor.
"Dasärne lueneine Idee!", versichere ich sofort lautstark. Stelle mir dabei augenblicklich vor, wie sie zart über meinen Körper fährt, mir das Gefühl des Gestreichelt–Werdens vermittelt, Otto in die Hand nimmt und seine Vorhaut zurü...
"Nein, das geht nicht. Wir haben da unsere Vorschriften", antwortet der Pfleger bestimmt.
"Er haAgst vodden komischn Fecken, diedaoffm Lakn entstehn könntn", flüstere ich Pia zu und bin mir sicher, dass diese dabei entstehen würden. – Wenn sie dabei noch ihre üppigen Rundungen lüftet, dann ...!
Das bringt sie zum Kichern. Mühsam versucht sie es zu verbergen; aber doch dürfte er es bemerkt haben und steht angemeiert wartend mit vorgestrecktem Bierbauch und der Waschschüssel in der Hand vor meinem Bett.
"Na, dann muss ich wohl." Sie gibt mir noch ein Abschiedsküsschen und geht, allerdings nicht ohne noch einen Blick auf den Pfleger zu werfen, bei welchem sie wieder loskichern muss.
"Das kann ja schließlich nicht jeder machen", rechtfertigt er sich, während er mich wäscht, "sich von seinem Besuch waschen zu lassen. Also tut es auch niemand. Schließlich haben wir unsere Vorschriften; und die sind dazu da, dass wir uns daran halten."
"Ja ja", rede ich beruhigend auf ihn ein. Denn das wäre ja unverzeihlich, wenn er bei mir im Zimmer einen Herzinfarkt bekäme. Da würde ich mich Zeit meines Lebens grämen.
*
Am Abend stelle ich Gabi die mich zurzeit am meisten beschäftigende Frage: "Wasoubstn, wielange werdchn hier drinneleibn müssn?"
"Na ja, ich bin ja kein Experte. Aber – willst du meine Meinung hören oder die, die in den Schulbüchern steht?"
"Deie natürch! Sonst hättchjani gefagt!"
"Also – es ist unterschiedlich. Es kann vier Wochen dauern, zwei oder vier Monate, aber auch ein halbes Jahr. Manchmal sogar ein ganzes Jahr."
"Un wielange wirds bei mir dauen?"
"Das kann ich dir eben nicht sagen. Zum Teil hängt es von dir selbst ab."
"Allo anklotzn. Sis offedenfall niunmögich, in vier Wochn rauszusei?"
"Ich sehe, du hast es richtig kapiert. – Übrigens, war deine Mutter heute da?", wechselt sie das Thema. Und nachdem ich verneint habe: "Langsam wird das bedrohlich wegen deiner Anziehsachen. Wenn sie nächste Woche immer noch nicht da war, werden wir ihr die Fürsorge auf den Hals schicken."
"Fürsorje? Was isn dat?"
"Etwas Amtliches. Da kriegt sie auf jeden Fall großen Ärger.
Klingt gut. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass sie mich hier hängen lässt. Feuern aus allen Rohren. Und ich werde mich darum bemühen, ein paar Rohre aufzutreiben.
*
Kurz vor dem Einschlafen ziehe ich mein Tagesfazit: In vier Wochen kann ich also raus sein! Noch vier Wochen, an denen ich ganz hart arbeite muss! Doch dann kann und werde ich dem Mist hier mein Winke–Winke geben. Vier Wochen noch und dann werde ich endlich wieder frei sein!
3
Sonntag, 23. September. Abends.
Gabi – die ich mittlerweile zu meiner Lieblingsschwester gekürt habe – erscheint mit einem Rollstuhl in der Tür.
"Na, hast du Lust, zum Essen am Tisch zu sitzen?", fragt sie mich.
"Ich halLust", strahle ich und versuche mich zu erheben.
"Nicht so hastig, Mike. Es geht sofort los." Und hievt mich aus dem Bett.
Blödes Gefühl, im Rollstuhl zu sitzen. Zu den Gleich-Großen oder auch Kleineren, eigentlich zu allen, schaut man auf wie zu Außerirdischen überlegener Intelligenz. Man kommt sich vor wie von der Gemeinschaft ausgestoßen – Vielleicht ist man es dann auch?? –, wartet darauf, dass sich mal jemand erbarmt, sich zu dir herunterzubeugen und dir zuzuhören. Nee, an den Rollstuhl werde ich mich nie gewöhnen können. – Wo kommt auf einmal der blöde Gedanke her? Es besteht doch überhaupt kein Zweifel daran, dass er nur eine Übergangslösung ist! Dass er mich nur befreit vom Essen im Bett! Ich mag zwar Frühstück im Bett, doch hat das hier ja wohl überhaupt nichts damit zu tun. Ich habe es nur ganz einfach satt, tagein, tagaus und dazwischen auch ständig im Bett zu hocken.
*
Nach dem Essen hat sie mich im Fernsehraum abgestellt. Dort schaut sich gerade eine Gruppe Patienten, die auf den vor einem Plattenspieler mit Radio stehenden Sesseln sitzen, auf dem Farbfernseher irgendeine Klatschserie an. Aber ich widme mich etwas viel Wichtigerem: Ich schaue in mich hinein, in der Hoffnung, etwas Neues zu entdecken, vielleicht sogar etwas darüber herauszubekommen, wo ich jetzt stehe, und in die Zukunft zu sehen, was als nächstes auf mich zukommt, wie ich es lösen werde: Eines ist mir klar geworden: Auf meine Mutter brauche ich nicht zu hoffen. Zwar dürfte ich auch einen mehr oder minder großen Schuldanteil besitzen, doch mir scheint, sie betrachtet mich nicht mehr als vollwertiges Bestandteil ihrer Umgebung. Und ich glaube – nein, ich weiß es, ich kann mich wieder sehr, sehr dunkel daran erinnern –, dass sie früher schon darunter gelitten hat, mich zu akzeptieren, und so dürfte sie jetzt noch vielmehr darunter leiden, dass sich daran nichts geändert hat. Aber was ist eigentlich nun mit mir passiert? Sollte das mit dem Unfall etwa stimmen? Dann müsste ich ja einen totalen Filmriss haben. Und nehmen wir mal an, es stimmt, was mir da drüber erzählt worden ist, so lässt sich doch keine Schlussfolgerung daraus ziehen, tauchen nur Schemen auf, kein Bild aber. Okay, ich glaube, von der Annahme, dass ich verscheißert werde, kann ich abgehen. Da würden zu viele mit drinnen hängen. Was zu sehr nach irrealem mieft. Allerdings – was ist hier noch real? Was von dem, was jetzt über mich hereingestürzt ist, gehört nicht in die Märchenwelt? Keine Ahnung. Kommt auch davon, dass ich mich an nichts erinnern kann, was letzen Monat passiert ist. Mache ich mir vielleicht selber etwas vor? Möglicherweise bin ich doch gar nicht Mike. Aber das ist doch wieder der Punkt, an dem ich mich schon tausendmal geklammert habe. Es bleibt dabei: Ein Blick in den Spiegel muss her. Um erst einmal über eine Seite Klarheit zu bekommen. Und das muss sehr bald geschehen.
4
Montag, 24. September. Vormittag.
Frau Miller hält mir siegesbewusst eine Krücke vor die Nase: "Na Mike, wollen wir es mal probieren?"
"Wechne Frage. Natürch!"
Während ich antworte, betrachte ich mir das Corpus Delicti: Ein einfacher Stab mit einem Knick darin, oben ein Polster – für den Ellbogen nehme ich an –, in der Mitte ein Griff; auch hat sie nur eine kleine Oberfläche für das Halten auf der Erde. – Wie soll ich denn damit laufen können?! – Mike, so viele können es. Also kannst du es auch. Hast es zu können!
Frau Miller hilft mir hoch, klemmt mir die Krücke – die sie Unterarmstütze nennt – unter den linken Arm. "Du musst sie immer mit dem rechten Bein konform führen. Dabei lehne dein Gewicht nach links. Nicht zu mir, denn ich werde dich rechts halten. Wirst du das schaffen?"
"Ichersuch. Und fliegn kannja dabeini, denn Siesinja meie Lebensversi-si-sichung. Ich lege aaso meie Hänede inihr Leben – äh – mei Läbn inIhe Hände. Vertaue droff, dassiesni missbauchn. Alldings – vielleich könnjaou ihe Anziehkaff zugoss fürmisei."
Sie – komisch guck.
*
Ich laufe los. Oder besser, ich versuche es. Komme mit dem Rhythmus, den ich dabei brauche, ja mit der Krücke selber nicht klar.
Ich muss es schaffen! Habe keine andere Wahl!
Als wir im Zimmer eine Runde gedreht haben, meint sie, dass es für heute reicht.
Zähneknirschend gebe ich ihr Recht. Denn ich muss mir selbst eingestehen, dass es für mich noch ungewohnt ist, mich so zu belasten – mich überhaupt zu belasten –; es geht mörderisch in die Knochen – Das winzige Stück. Unklar!
"Für den Anfang lief es nicht schlecht", urteilt Frau Miller entgegen meiner eigenen Überzeugung, "aber du musst dein Gewicht auf die Unterarmstütze verlegen und vor allem das Knie durchdrücken. – So, und jetzt machen wir ein bisschen Gymnastik."
*
Danach erkundige ich mich nach zwei oder mehreren Behandlungen am Tag.
"Zweimal werden wir sehen, aber mehrmals – du bist nicht der Einzige hier."
"Dasis mischo klar, aberih wielhie niewsch bleibn. Iwill so schell wie mögich waseichn, dennich willaus hier."
"Das weiß ich doch. Ich werde mal sehen, was sich machen lässt. Okay?" Und zwingt mich mit ihrem Abgang dazu, es zu akzeptieren.
5
Dienstag, 25. September.
"Die bringe ich nun jeden Tag – oder besser, ich lass sie gleich hier", verkündet mir Frau Miller, die soeben in der Tür erschienen ist und auf die von ihr mitgebrachte Krücke weist; "du wirst ja damit keine Versuche starten, oder?"
"Ach, iwo. Ich bidoni lebensmüd-e." Gut, dass ihr meine Aktionen in der ITS nicht bekannt sind. Denn dann würde sie die Krücke wohl kaum hier lassen.
*
Während ihrer Gymnastik will sie wieder wissen, ob inzwischen meine Mutter hier war. Und nachdem ich den Kopf geschüttelt habe, ist sie sich dessen bewusst, dass nun etwas eingeleitet werden muss. – Aber wenn ich ganz ehrlich bin: Wären da nicht meine Anziehsachen, würde mich ihr Wegbleiben überhaupt nicht jucken. Denn Pia empfang ich viel lieber. – "Anders geht es bei ihr scheinbar nicht. – So, jetzt aber werden wir rauslaufen, auf den Gang."
Bei dieser Aufforderung fängt mein Herz an wie wild zu rasen, Schweißtropfen perlen auf meiner Stirn, ein unangenehmes Ziehen hat auf der Stelle von meinem Magen Besitz ergriffen. Trotzdem – oder gerade deswegen – drücke ich mich schnell zum Sitzen hoch, befördere meine Beine aus dem Bett und dann hilft mir Frau Miller. Vor meinem inneren Auge aber leuchtet jetzt wie bei einer Leuchtreklame das Wort auf: Spiegel. Denn nun bekomme ich sozusagen frei Haus die Chance geliefert, mich begucken zu gehen, darf nur nicht der Angst die Oberhand in mir überlassen.
Bis zur Tür klappt das Krückenlaufen schon eine Nuance besser als gestern. Wenn ich mich auch noch nicht dafür begeistern kann, die Knie durchzudrücken, wenn ich mich auch immer noch größtenteils auf Frau Miller stütze. Doch ich fange an, in den Rhythmus zu kommen, die Gefühle meiner Gehhilfe und meines Körpers haben begonnen, sich zu vereinigen.
Wir stehen auf dem Flur. Aufmerksam schaue ich mir den vor mir liegenden Fußboden an: Braunes Linoleum, eben, glatt, ohne Hügel. Und an der von mir aus gesehenen linken Seite hängt ein Balken, der bestimmt dem Festhalten dient.
"Und was nun?", will Frau Miller wissen.
Ich ignoriere ihre Frage, erkundige mich stattdessen, wo der nächste Spiegel ist.
"Gleich um die Ecke ist einer. Wollen wir bis dahin laufen?"
Ich nicke bedächtig, als ob in mir eine innere Ruhe eingekehrt ist.
*
Einige Zeit später stehe ich vor dem so lange herbeigewünschten Ziel. Schaue hinein, versuche, mich auf das Bild, was da vor mir auftaucht, zu konzentrieren: Ein krumm stehender, bärtiger, mit halblangen Haaren und hässlicher Frisur beschiedener Typ ist sich bei meinem Anblick nicht so sicher, ob er mir weiterhin die Ehre seiner Aufmerksamkeit schenken soll; zudem hängt auf der rechten Seite seine Lippe herunter (er grinst nur mit links) und hat für mich nur ein Stieren mit depressiven, von Wut, Schmerz und Hass gezeichneten Augen übrig.
Bin ich das???
Nein! Ich bin das nicht! Wer das sagt, ist ein Lügner! Der muss Unrecht haben! Und doch ... Aber ich ekle mich vor dem Kunden im Spiegel! ... Ekle ich mich vor mir selber?
Eine ganze Weile lang stehe ich davor, schüttle langsam den Kopf; bis sich eine folgenschwere Erkenntnis in meinem Kopf Bahn bricht: Ja, ich bin es! Bin es mit Leib und Seele! Bin es wahr und wahrhaftig!
Ich spüre, wie sich etwas in mir verkrampft: Dies war meine letzte Hoffnung, sollte mir aufzeigen, dass nicht Mike Scholz der Dahinsiechende ist. Doch er ist es! Niemals wurde ich verscheißert, mir wurde "nur" nichts gesagt!
"Na, genug gesehen?", bricht da Frau Miller in meine Hypnoseglocke ein. Doch erst einmal modelliere ich noch an der Frisur herum. Denn irgendjemand hat mir einen Seitenscheitel übergezogen.
*
Beim Zurückwandeln schwinden mir wieder mal rapide die Kräfte in den Beinen. Frau Miller hat ganz schön zu tun, mich oben zu halten. Und so lasse ich mich zurück im Zimmer sofort erschöpft und traurig in mein Bett plumpsen, während Frau Miller erleichtert keucht: "Endlich, geschafft. Du kannst dich ganz schön schwer machen. – Und, befriedigt für heute?"
"Biseut Nammag ja. Aber dann habch mi wiedr erholt."
"Heute klappt es noch nicht mit zweimal am Tag", teilt sie mir bedauernd mit. "Aber ab nächste Woche können wir es durchziehen. Also, tschüss bis morgen."
An der Tür dreht sie sich noch einmal um und hebt den Zeigefinger. "Aber keine krummen Touren mit der Unterarmstütze! Ich vertraue Ihnen. Oder soll ich sie doch lieber mitnehmen?"
Ich halte ihrer Blickkontrolle stand, worauf sie beruhigt geht.
*
Am Nachmittag kommt Pia. Eigentlich erwarte ich sie jeden Tag, obwohl ich natürlich weiß, dass es so nicht mehr sein kann. Doch es ist belastend, wenn man abgeschnitten ist von der Außenwelt. Nur – aller drei Tage ist besser als überhaupt nicht.