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Am Bahnhof wurde ich der Obhut irgendwelcher Erwachsenen übergeben, die sich auch um meine Weggefährten kümmerten, und dann stiegen wir ein in einen kalten Zug mit harten Holzbänken; die Koffer wurden in die altmodischen Gepäcknetze gehievt, und mit Geheul und fürchterlicher Rauchentwicklung zockelte der Zug nach Norden. Einen ganzen Tag lang ratterten wir durch ein kleines Land, das sich gerade von den Bombenschäden zu erholen versuchte. Die frühen Fünfziger waren eine emsige Zeit für die Überlebenden des Grauens.
Nach endlosen Stunden rumpelte der Zug ein in Sellin auf der großen Insel Rügen; ich kann mich nicht erinnern, wie oft wir umsteigen mussten, aber es waren mit Sicherheit einige Male. Es war schon wieder dunkel, unser kleines Grüppchen tippelte Richtung Kindererholungs-heim, und ich merkte sofort, hier roch’s anders als in Weimar. Frischer. Ich hatte von Seeluft bisher nur gehört.
Ein mitfühlender Arzt hatte meinen Eltern die Möglichkeit verschafft, den wachsenden, dünnen Jungen ein paar Wochen lang aufpäppeln zu lassen und verschrieb mir eine Kur. Ich war pudelgesund, aber der Doktor meinte, das würde mir gut tun. Und ein Esser weniger würde das schmale Familienbudget für ein paar Wochen entlasten. Das Heimpersonal allerdings wunderte sich überhaupt nicht, was für Mengen ich in mich reinzustecken imstande war. Zehn belegte Scheiben Brot am Abend war ganz normal; die Küche hatte keinen Mangel an Proviant. Meine ganze Kindheit lang hab ich gegessen wie ein Scheunendrescher, meine Mutter sagte immer; »Am Essen wird nicht gespart.« Erst viel später hat sie mir auf ein paar bohrende Fragen hin gestanden, dass sie und mein Vater öfter mal hungrig ins Bett gegangen sind, damit wir Jungs satt werden konnten in den Nachkriegsjahren, die mit ihren immer zu knapp bemessenen Lebensmittelkarten den Überlebenden wahren Erfindungsreichtum abverlangten.
Ich war schon immer ein Geruchsmensch. Gerüche haben sich immer in Verbindung mit dem jeweiligen Ort eingenistet in mein Langzeitgedächtnis. Hier im Heim roch’s intensiv nach Kernseife, Bohnerwachs, Desinfektionsmittel und Suppe. Die Beleuchtung war funzelig, die Glühbirnen waren auf sparsame 25 Watt reduziert. Aber es war eh dunkel in diesen Jahren; ich habe oft meine Hausaugaben beim Scheine der gemütlichen Petroleumlampe gemacht, wenn mal wieder Stromsperre war, damit die volkseigene Planwirtschaft genügend Energie hatte, um den Kapitalisten im Westen zeigen zu können, auf welcher Seite der grünen Grenze der bessere Staat lag. Der Geruch einer Petroleumlampe ist mir bis heute vertraut und verbindet sich mit meiner Kindheit. Durchaus positiv.
Und dann kam der große Moment. Am Morgen nach dem Frühstück ging’s ans Meer. Da lag sie, die riesengroße Ostsee; die Wellen rollten, die Fischerboote waren an den Strand gezogen, und ein paar Fischer hatten ihre Netze gespannt und flickten sie. Es roch nach allem, was mein abenteuerlustiges Thüringer Kinderherz erfreuen konnte. Es war überwältigend. Hinterm Horizont ging’s weiter, aber das konnte ich nicht sehen. Wasser, Wellen, Meer soweit man sehen konnte. Ich stand da, staunte, und der frische Wind blies in meinen offenen Mund. Am intensivsten hatte ich den Seetang in der Nase; Salz, Seetang, Sand; die Möwen kreischten und stritten sich um die Brocken, die die Fischer liegengelassen hatten. Teergerüche von den Spanten der Boote mischten sich in all die die wunderbaren Düfte hier.
Seit ich sieben war, wollte ich Seemann werden. Ich war fast am Ziel. Das war das wahre Leben hier. Sechs Wochen lagen vor mir, sechs Wochen Leben am Meer. Ich vermisste nichts; nicht die Stimme der Mutter, keine Kracher vom Vater und keine brüderlichen Fantasien um Hunde und Schätze hinter der Wand am Bett. Weimar war unendlich weit weg, Heimweh kam überhaupt nicht auf.
Wir durchstreiften die Gegend. Es war eine unbekannte Welt mit Mooren, einem geheimnisvollen See, Buchenwäldern und jeden Tag wieder der Strand. Wir suchten Bernstein, wühlten im angeschwemmten Seetang herum; es war jedes Mal aufregend, wenn man wieder einen gelblichen Stein gefunden hatte; aber dann wars eben doch nichts anderes als das, ein Stein. Die Taschen waren voll von sandigen Muscheln, die nach einigen Tagen einen gefährlich rottigen Geruch verströmten.
Unter der Seebrücke wars immer spannend, die Wellen liebkosten die Pfeiler, und ich verliebte mich. Nicht in eine Meerjungfrau, sondern in Gerlinde. Im Bett neben mir lag mein neuer Freund Ulli, und wir merkten, dass wir uns beide in Gerlinde verliebt hatten. Gerlinde hat das nie erfahren; sie hätte uns beide haben können, aber wir waren viel zu schüchtern, um sie einzuweihen in unsere Schwärmereien. Wir wären eh zu jung für sie gewesen, sie war ja schon elf.
Es wurde langsam winterlicher, der Nikolaustag kam, und wir kriegten kleine Leckereien. Eine Nuss hatte es mir besonders angetan, eine Walnuss. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Walnuss gegessen, oder ich hatte doch und erinnerte mich an den köstlichen Geschmack, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls schenkte ich dieser Walnuss meine unerwiderte Zuneigung. Ich knackte sie nicht, ich trug sie mit mir herum, roch an ihr, leckte sie ab, versuchte, sie in meinen neunjährigen Mund zu stecken. Was für eine Köstlichkeit! Die Erinnerung an diese eine Walnuss hat mich mein Leben lang begleitet.
Und dann, Wochen später, fasste ich mir ein Herz und knackte sie. Ganz langsam, Viertel für Viertel steckte ich sie in den Mund und genoss, wie ich nie wieder eine Walnuss genossen habe.
Killarney, Irland, 30. Juni 2007
Ein Sommer an der Donau
Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich in Rechtenstein ankam. Ich war zwölf und hatte eine endlose Bahnfahrt hinter mir. Ich hatte nicht nur ein Land diagonal durchquert, ein Land, das jetzt in zwei Teile geteilt war; man musste eine Grenze mit mürrischen Kontrolleuren überstehen, und man musste den Spagat von Ost nach West verarbeiten. Ich hatte vor allem Hunger wie ein Wolf und war müde wie Hund - und: ich war mutterseelenalleine.
Wo war Onkel Max?! Warum holte mich keiner ab?! Ich stand auf einem Dorfbahnhof irgendwo im Schwabenlande und fühlte mich verlassen von der Welt. Aber zwölf heißt nicht hilflos, irgendwo musste es ja hier Menschen geben. Irgendwer würde schon noch wach sein.
Ich schleppte meinen Koffer vom Bahnhof und ging zu einem Haus, das wie eine Wassermühle aussah. Stockdunkel alles. Also klopfte ich sanft an ein Fenster. Tatsächlich steckte der Müller seinen verschlafenen Schwabenkopf aus dem Fenster.
»Entschuldigen Sie die Störung, wie komm ich denn nach Mittenhausen?«
»Jetscht no? Mhm, da musst du durch de Wald. Da no.«
»Ist das weit?« fragte ich ein bisschen verzagt.
»Ha noi, des is it weit. So zwei Kilometer sind das, nit mehr. Mittehause hat nur drei Höfe, zu wem willscht du denn?«
Ich sagte es ihm. »Die wohnet da mittedrin, du wirscht es scho finde.« Er erklärte mir noch wortreich, worauf ich achten müsse und sagte Gute Nacht.
Und dann stand ich vor der Mühle wie das Männlein im Walde. Ich hatte ein bisschen gehofft, dass er mich hinbringen würde. Nun musste ich mich alleine auf den Weg machen. Ich tappste in den finsteren Wald hinein. Es hatte geregnet, meine einzige Orientierung in der mond- und sternenlosen Nacht waren die schwachen Reflektionen in den Pfützen. Auch als Erwachsener geht man nachts nicht gern alleine durch den Wald, für einen Zwölfjährigen war es Horror pur. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen und betete, dass ich aus dem großen, dunklen Walde raus fände und mich vor allem nicht verirrte in diesen fremden Jagdgründen. Mir kamen all die Räubergeschichten in den Sinn, die man zu Hause unter der Bettdecke mit der Taschenlampe so gerne liest im sicheren Schlafzimmer. Wilhelm Hauffs »Wirtshaus im Spessart« war noch ganz lebendig in meiner Erinnerung, nun war ich selber mittendrin in so einer Gruselgeschichte.
Nach einer Ewigkeit wurde es ein bisschen heller, das musste das Ende des Waldes sein; jetzt nur nicht vom Weg abkommen. Links lag ein Bauernhof, an dem sollte ich noch vorbei. Aber da schlug auch schon der Hofhund an. Wenn der frei rum läuft, bin ich verloren, dachte ich, aber er kam nicht, er bellte nur böse, das war ja sein Job.
Der Koffer zog wie Blei, und ich schleppte mich ganz langsam weiter, bis ich an eine Art Gutshof kam. War ich am Ziel? Was mach ich jetzt? Am besten rufen.
»Onkel Maaaaaax!!!« Nichts. Noch mal. »Haaaaaallo! Tante Geeeeertrud!«
Ein Fenster ging auf. »Wer ist da?« Inzwischen bellte ein ganzes Rudel schwäbischer Hofwölfe um die Wette.
»Bist du das Onkel Max? Hier ist der Reiner aus Weimar.«
»Ja Junge, wo kommst du denn jetzt her mitten in der Nacht? Im Brief von deiner Mutter stand doch, dass du morgen kommst.«
Inzwischen wurde es hell, die Tür ging auf, der Albtraum hatte ein Happy End, und Tante Gertrud machte mir erst mal was zu essen. Und man konnte gar nicht verstehen, dass der Müller von Rechtenstein mich hatte allein durch den Wald gehen lassen. Aber nun war ich ja da.
Mein Onkel und meine Tante hatten Krieg, Vertreibung und Flucht aus Oberschlesien überstanden und waren hier an der Donau gelandet. Hatten wieder einen kleinen Hof und arbeiteten hart, um im neuen Land und Leben auf die Füße zu kommen.
Am Morgen strich ich mit meinen beiden Cousins durch die Gegend und war begeistert. Es gab da einen zerfallenden Turm vom alten Rittergut mit Fledermäusen und verwunschenen Ecken, es gab Schweine, Kühe, Enten, Gänse und Hühner, Hund und Katz, und es gab ein Pferd, mit dem morgens die Milch nach Obermarchtal gefahren wurde. Ich hatte acht Wochen Schulferien auf dem Bauernhof, was kann es Schöneres geben!?
Zu meinen täglichen Pflichten gehörte es, die Enten an die Donau zu treiben. Und damit sie da nicht die Freiheit missbrauchten und abhauten, kamen sie in einen großen Drahtverhau, nach oben geschlossen, damit der Habicht nicht die Küken holte. So konnten sie schwimmen und das machen, was Enten am liebsten tun. Schnattern und Gründeln. Eine Woche später stieg die Donau an, meine Enten schwammen samt Käfig stromabwärts Richtung Schwarzes Meer, und Onkel Max warf den Traktor an. Es dauerte zwei Stunden, bis wir sie wiederhatten.
Nun gab es da ein einsames Entlein namens Simpel. Das war von einem Huhn ausgebrütet worden, einer Henne. Samt ihren leiblichen Küken. Simpel wurde zum Entsetzen der Pflegemutter in den Entenschwarm eingereiht und ging baden. Die Henne tanzte auf und ab, schlug mit den Flügeln und war außer sich. Ich versuchte, ihr Simpels wahre Natur zu erklären. Nach drei Tagen war sie beruhigt.
Nur Tante Gertrud war unzufrieden. Es gab einen nutzlosen Esser am Hofe. Seit Tagen holte sie immer Eier aus dem Hühnerstall, unter denen sie ein kleines, dotterloses Ei fand. Kleine Eier ohne Dotter, man kann sie nicht verkaufen, man kann sie nicht verwenden.
Tante Gertrud befand, das schuldige Huhn müsse gefunden werden und sollte in die Pfanne. Also wurden mein Cousin Eckartund ich beauftragt, die Henne ausfindig zu machen. Unter zwanzig Legegenossinnen auf dem Hofe! Die Aktion Dotterlos begann damit, dass wir im geschlossenen Hühnerstall jedes Huhn befummeln mussten, sprich, jedem Huhn den Finger ins Legeloch stecken, um zu tasten, ob da ein Ei drin steckte, bereit, gelegt zu werden. War das Loch leer, kam die Henne raus ins freie Leben. Die legebereiten Hühner wurden einzeln in Verschläge gesperrt, und wir hatten zu kontrollieren, ob ein Ei im Heu lag. War das Ei ein richtiges Ei, durfte auch die entleerte Henne draußen scharren.
Wir haben drei Tage lang unseren rechten Zeigefinger in Hühner-arschlöcher gesteckt – und dann hatten wir sie. Mir tat sie leid, die arme Henne, aber geschmeckt hat sie dennoch.
Am liebsten war ich im Kuhstall. Und steckte dem Kälbchen meine Hand ins noch zahnlose, rosige Maul, es saugte an meinen Fingern, freute sich ob meiner Zuneigung, auch wenn keine Milch raus kam. Ich schaute Tante Gertrud beim Melken zu, eine Melkmaschine hatten sie noch nicht. So schwer kann das doch nicht sein, dachte ich mir.
»Darf ich auch mal?«
Tante Gertrud lächelte wissend und machte den Melkschemel für mich frei. Ich zupfte, zog und zerrte; kein Tropfen kam. Dafür haute mir die Liese ihren bekleckerten Schwanz um die Ohren, wehrte sich vehement mit dem Hinterbein; es war ihr offenbar sehr unangenehm, was ich da mit ihrem empfindlichen Euter machte, und ich überließ die Kunst lieber wieder den geschickten oberschlesischen Händen der Bäuerin. Dafür durfte ich dann meinem Cousin Manfred helfen, die Milchkannen sauber zu machen; der Lohn war die Fahrt mit dem Pferdewagen zur Molkerei ins Nachbardorf.
Mein Onkel hatte einen Dachs erlegt. Warum man einen Dachs nicht leben lassen kann, war mir nicht klar, jedenfalls hing er tot am Scheunentor. Hunderte von Flöhen versuchten, den kalten Körper zu verlassen, wussten aber nicht so recht wohin und hüpften sinnlos auf den Dachshaaren rum. Jedenfalls haben wir dann seinen Kopf in einen Ameisenhaufen gesteckt. Eine Woche später haben wir den sauber abgenagten Schädel wieder mitgenommen. Ich hörte später, dass Wilddiebe das auch gerne mit dem ganzen Förster gemacht haben. Lebend.
Nun war ich ja das erste Mal im Westen. Und freute mich an all den Dingen, die wir im östlichen Weimar nicht hatten. Meine erste Coca Cola war ein Hit, bis heute denke ich immer, wenn ich mal das Glück habe, aus einer originalen Cokeflasche zu trinken - das gibt’s ab und zu noch - wow, wie damals in Obermarchtal bei Edeka.
Nicht so beliebt war die Arbeit im Kartoffelschuppen. Die Kartoffeln vom Vorjahr hatten lange Keime, und die mussten entfernt werden, damit die Kartoffeln als Schweinefutter gekocht werden konnten. Da war’s duster, und da gabs Ratten. Eines Tages fanden wir ein Nest unter den Kartoffeln mit kleinen nackten Ratten. Bauern haben wenig Verwendung für Ratten, auch keine so gute Beziehung zu ihnen; den Rest der Geschichte hab ich verdrängt.
Irgendwann ließ mich Onkel Max auf den Trecker. Sehr aufregend war das, übers Feld zu donnern mit zehn Stundenkilometern, aber es war meine erste Erfahrung mit einem motorisierten Fahrzeug und ich freute mich. Und so leicht war das gar nicht mit den verwirrend vielen Gängen und Pedalen. Es fing an zu donnern, und dann krachte ein schönes, fettes Sommergewitter über uns nieder. Auf freiem Feld ist das nicht die große Freude, Traktor fahren vorher fand ich wesentlich schöner, aber es war ein elementares ländliches Erlebnis, dass mich sehr beeindruckt hat.
Am allerschönsten aber war’s auf dem Heuboden. Der Geruch von frischem Heu, die Leichtigkeit, wenn man aus mehreren Metern Höhe runterspringt und versinkt, Staub wirbelt auf, man niest - von Heuschnupfen und derlei zivilisatorischem Firlefanz wusste ich damals noch nichts - das hab ich sehr geliebt damals. Da gab’s Mäuse, und irgendwie war das der große Renner, der Heuboden.
Ende August war die Herrlichkeit zu Ende, ich fuhr wieder nach Weimar und überraschte Familie und Schulkameraden mit einer Mischung aus Oberschlesisch und Schwäbisch. Und jedes Mal, wenn dann zu Weihnachten eine Ente nach Weimar geschickt wurde aus Mittenhausen, hab ich immer gehofft, dass es nicht der Simpel ist, den wir da verspeisen.
Killarney, Irland 1. Juli 2007
Sweet little Sixteen
Seemann wollte er werden. Kapitän, oder Steuermann. Irgendwie klang Steuermann besser. Steuermann ist wichtiger als Kapitän. Ein Kapitän befiehlt nur rum, der Steuermann aber macht das Ding. Er ist eindeutig der Macher an Bord. Sagte ihm seine kindliche Seele und ließ ihn Schiffe malen. Aus Lexika, aus Abenteuerbüchern; kein Abbild eines Schiffes war vor ihm sicher. Aber es mussten Segelschiffe sein, am liebsten malte er die »Gorch Fock«. Nichts unter einem Dreimaster. Und er las jedes Buch, in dem ein Segel gerefft wurde.
»Na, was willst du denn mal werden?« Die Standardfrage, mit der jedes Kind gepeinigt wird, oder motiviert, je nachdem, diese Frage konnte er ohne rumzurudern beantworten.
»Seemann. Steuermann.« Zehn Jahre lang. Andere gehen durch die Stadien ihrer Berufswahl. Erst Feuerwehrmann, dann Lokomotivführer wie sein Freund Ede, den sie »Laubfrosch« nannten wegen des grünen Anzugs, den Edes Mutter handgenäht hatte in diesen schweren Zeiten. Edes Opa war bei der Bahn; Ede spielte mit Modelleisenbahnen. Er, sein Freund malte Schiffe.
Dann kam Inge in sein junges Leben. Inge war seine erste Liebe und hatte keine Lust, ihr Leben als Dauer-Strohwitwe zu verbringen. »Wenn du auf See bist, dann bin ich ja immer alleine.« Recht hatte sie. »Was mach ich denn da?« Inge war gerade sechzehn und dachte weiter als bis zum Horizont.
»Stimmt, da hast du Recht.« Er dachte nach. Die Kastanienbäume blühten auf der Allee zum Schloss, er atmete ihren Duft ein. Inges Duft. Er liebte ihren Geruch.
Zwei Minuten später warf er den Traum seiner ganzen Kindheit über Bord. »Dann werd ich eben nicht Seemann.«
Liebe macht blind, aber sie bewahrt einen vor der Seekrankheit.
Sie standen vor dem Möbelgeschäft am Herderplatz und sahen die Nierentische. Die Schwanenhals-Lampen im Trio und das türkise Sofa. Noch drei Jahre bis zum Abitur, noch drei Jahre, bis die Glocken läuten würden.
Die Rock’n’Roll Heros ihrer kleinen Stadt ließen es krachen. Was man so krachen nannte in der Zeit, bevor 120 Dezibel das Maß aller Dinge wurden. Der Spruch »If the music’s too loud, you’re too old« war noch weit weg. Sie tanzten engumschlungen zu Schmuseklängen; er renkte ihr den Arm aus und trat ihr auf die Füße beim Rock’n’Roll der ersten Stunde, und sie waren glücklich.
Er hatte keine Ahnung, was er nun statt Seemann werden sollte. Inge war alles recht, solange es ihn in ihrer Nähe hielt.
Tanzstunde. Geht heute noch jemand zur Tanzstunde?! Wer nicht geht, verpasst die Romantik der ersten Liebe. Der Konfirmationsanzug tut‘s noch, dachten die Eltern, aber er sah in den Hochwasserhosen aus wie Elvis für Arme. Zehn Zentimeter ist er gewachsen in den zwei Jahren. Inge jedenfalls hatte ein Tanzstundenkleid und sah aus wie eine Braut. Schön.
Wieder gingen sie am Schaufenster mit den Nierentischen vorbei. Träumten, küssten sich, und noch immer wurde er nicht Seemann, noch immer wusste er nicht, was er werden sollte. Der Traum der ersten Jahre verblasste irgendwo zwischen Nirwana und Abitur.
Zwanzig Jahre später. Klassentreffen. Die Nierentische stehen irgendwo rum, wahrscheinlich bereits auf dem Flohmarkt, Inge trägt eine Perlenkette und ist immer noch schön. Und sie hat einen Eherring am rechten Ringfinger.
Er nicht.
Im ICE zwischen Hamburg und Berlin, 28. 11.01
Miles Davis und die Eintagsfliegen
Die Aula der Schule war gerammelt voll; das lag nicht an uns, das lag am Datum. Rosenmontag. Die Goethestadt Weimar war nicht gerade berühmt dafür, eine Karnevalshochburg zu sein, aber die Faschingsfeste der Hochschule für Architektur, der Nachfolgeinstitution des legendären Bauhauses, diese Fêten waren berühmt und berüchtigt zwischen Ostsee und Thüringer Wald.
Also war’s nicht verwunderlich, dass an diesem Rosenmontag auch die Schiller-Oberschule aus den Nähten platzte. Ich war in der neunten Klasse, fast vier Jahre noch bis zum Abi und hatte ein paar Rock’n’Roll-begeisterte Klassenkameraden überredet, eine Band zu gründen. »Gründen«? Wir wollten nur an diesem einen Abend spielen, an eine Musikerkarriere dachte niemand, ergo hatten wir den passenden Namen gefunden, »Die Eintagsfliegen«.
Ich hatte mir ein paar Texte aus den Fingern gesaugt, die an Kühnheit und Frechheit damals Ihresgleichen suchten. Kabarettistisch, politisch; auch die Lehrer kriegten ihr Fett weg. Welcher Lehrer mit welcher Lehrerin ins Bett stieg, und lauter so schöne Sachen eben. Als Melodien hatten wir uns gängige Popsongs rausgesucht; noch heute denke ich, wenn ich (was selten genug vorkommt) Harry Belafontes »Bananaboat Song« höre an den folgenreichen Auftritt weiland. Es war in der Tat der Start meines späteren Musikerlebens.
Der Kasus Knacktus war allerdings, keiner von uns konnte ein Instrument spielen. Damit wir wenigstens irgendwelche Akkorde, irgendwelche Harmonien unter den Gesängen hatten, nahmen wir einen Kumpel aus der Zehnten in die Band. Der konnte eine Gitarre richtig halten und drei oder vier Akkorde greifen. Und mein Freund Bob spielte zwar die Mondscheinsonate auf dem Klavier, aber was hätte uns das helfen können!? Also setzte sich Bob ans Schlagzeug, und das ging einigermaßen. Das Wort Groove konnten wir damals noch nicht mal buchstabieren.
Ich hatte irgendwann mal gehört, dass man ein Waschbrett zum Musikmachen verwenden könnte. Von Skiffle Music hatten wir noch nicht gehört; dass man sich ein paar Fingerhüte aufstecken und damit rhythmisch auf den Rillen kratzen musste – das war uns fremd. Wir hatten schlichtweg keine Ahnung – aber wir waren innovativ und kreativ und heiß. Wir nagelten zwei Waschbretter auf Besenstiele und kloppten mit der flachen Hand drauf.
Ein Novize am Schlagzeug, ein Gitarrero, der den Ton angab und zwei Waschbrettklopfer, das war meine erste Band. Das waren »Die Eintagsfliegen«.
Wir wurden angekündigt, kamen auf die Bühne und starteten mit einem furiosen Werk der jungen Rockgeschichte. »Rock Around The Clock« von Bill Haley and the Comets. Das war die Hymne der Rock’n’Roll-Generation. Noch heute krieg ich dieselbe Gänsehaut wie damals, wenn der Mann mit der Schmalzlocke die ersten Töne intoniert: »One two three o’clock, four o’clock rock…« Und Englisch konnte auch keiner, man sang irgendwelche Laute, die so ähnlich klangen, wie bei Bill Haley, das genügte.
Aber der Clou waren unsre zwei Saxophone. Aus Pappe. Rote Karnevalströten, in die wir mit voller Power reinröhrten. Das war rohe Energie, das war ehrlich, das war Punk. Prä-Punk.
»Rock Around The Clock« war also der erste Song unseres ersten Auftritts. Was dann kam, war unerwartet. Ein ohrenbetäubener Lärm brach aus. Johlen, Pfeifen, Trampeln, mir fiel das Gesicht runter. Neu im Showbusiness wie ich war, dachte ich, Scheiße, die pfeifen uns aus. Es dauerte ein paar lange Sekunden, bis wir alle begriffen, wir hatten die Aula in unsrer Hand. Sie feierten uns!

Mein Bruder Wolfgang brachte mir die ersten Griffe auf der Gitarre bei.
Dann kamen die Songs mit den gemeinen Texten, es war ein Volksfest; schöner kann man sich seinen ersten Gig nicht wünschen. Die Folgen an den nächsten Tagen allerdings waren lächerlich: die Lehrer reagierten sauer, besonders der Direktor; ich kriegte im Zwischenzeugnis eine Vier in Betragen; sowas Albernes wie »Betragen« gabs tatsächlich weiland in der Braunkohlezeit. Aber wir wurden dann auch wochenlang gefragt, wann wir unseren nächsten Auftritt hätten. Wir hatten plötzlich Fans. Also nix da mit »Eintags«-Fliegen.
Der nächste Gig kam, mein Bruder war im Publikum, und ich kriegte einen brüderlich-kreativen Anschiss. »Du siehst sowas von beschissen aus auf der Bühne,« sagte er, »so linkisch am Mikrofon. Mal steckst du die Hände in die Taschen, dann versteckst du sie hinter’m Rücken.« Inzwischen hatte ich das Stehwaschbrett stehen lassen wo’s hingehörte; weit weg von der Bühne, ich war nur noch Sänger. »Du brauchst ‘ne Gitarre, damit du was in der Hand hast; wir kaufen jetzt eine Gitarre.«
Wir legten unsere paar Mark zusammen und kauften im Musikhaus Kendel eine Schlaggitarre, schwarz-rot. Ein heißes Teil. Mein Bruder spielte allerlei Instrumente, auch Gitarre, aber er war die meiste Zeit weit weg von zu Hause. Wer sollte mir das denn jetzt beibringen?
Im »Thüringer Hof« nebenan spielte dreimal in der Woche eine Coverband. Was anderes gabs damals eh nicht. Eine Tanzmugge. Wenn ich abends vor’m Einschlafen dem Gitarristen lauschte, war ich immer ganz begeistert, also engagierte ich ihn als Privatlehrer. Er kam, packte drei Kilo Noten aus und wollte anfangen, wie sich’s gehörte.
»Warte mal,« sagte ich, »wir haben am Rosenmontag den nächsten Auftritt, dann muss ich spielen können.«
»Aha,« sagte der Meister, »das ist in weniger als einem halben Jahr, dann packen wir eben die Noten wieder ein, und ich bringe dir bei, wie du Akkorde schrubben kannst.« Kein Mensch kann in einem halben Jahr irgendein Instrument richtig lernen. Ich brach mir die Finger ab, kriegte wunde Fingerspitzen, übte Barrégriffe, ich hatte Schmerzen in allen Muskeln meiner Hände, selbst die Schultern taten weh vom verkrampften Sitzen; ich übte täglich und blieb dann mit meinen Minimalkenntnissen jahrelang stehen. Bis irgendwann der Knoten riss und ich mir im Laufe der Jahre selbst beibrachte, den Blues so zu spielen, wie ich’s heute kann.