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Nicole durchsuchte die – sie hatte es fast erwartet – nicht abgeschlossenen Schubladen des unter dem Schreibtisch stehenden Metallcontainers. Fand darin aber nur Kopierpapier und Farbpatronen für den Drucker, sowie Klarsichtfolien und allerlei andere Dinge für Büroarbeiten; alles sorgfältig sortiert und gestapelt.
Sie drehte sich den Fotos an der Wand über der Biedermeierkommode zu. Ausnahmslos Aufnahmen von Vereinsveranstaltungen, vermutlich zu irgendwelchen feierlichen Anlässen. Nicht ein einziges Foto, auf dem Hagemann mit seiner Frau zu sehen war, geschweige denn eines von Daniel, seinem Sohn. Auch unten, im Wohnzimmer hatte Nicole keine Familienfotos gesehen.
Inzwischen hatte Lars sich die, nach dem Alphabet im Regal einsortierten, Ordner vorgenommen. Wie schon auf den Ordnerrücken ersichtlich, handelte es sich um Unterlagen von Vereinen und Gesellschaften. Er blätterte gelangweilt darin herum und sagte: „Der Mann war äußerst penibel, was seine Ablage betrifft. Hätte genauso gut Finanzbeamter sein können.“
„Die Spurensicherung fand vor Ort kein Handy und hier sehe ich auch keins. Bei all seinen Tätigkeiten musste er doch erreichbar sein.“
„Fragen wir die Ehefrau“, schlug Lars vor, schnappte sich die inzwischen ausgebaute Festplatte und ging vor Nicole die Treppe hinab.
„Ja, Heinz besaß ein iPhone“, bestätigte Maria Hagemann. „Das hatte es immer bei sich. Ebenso wie die Hausschlüssel und seine Brieftasche. Da war er sehr eigen. Wenn Sie es nicht gefunden haben, wird der Täter wohl alles an sich genommen haben. Oje, dann muss ich wohl sofort das Schloss austauschen lassen.“
„Das wird das Beste sein, Frau Hagemann“, bestätigte Lars und wunderte sich erneut, wie die Frau in einer solchen Situation so logisch denken konnte.
„Können Sie uns bitte die Nummer des Handys Ihres Mannes geben? Vielleicht haben wir Glück und wir können es orten.“
„Auswendig weiß ich die nicht. Da müsste ich in meinem Notizbuch nachschauen. Einen Moment.“
Erneut ging Maria Hagemann in den ersten Stock und kam nach kaum zwei Minuten wieder zurück.
Die Sache mit Hagemanns Bekleidung schwirrte Nicole noch immer im Kopf herum. Jetzt wollte sie es wissen.
„Hatte Ihr Mann, außer den Vereinsaufgaben noch andere Hobbys? War er vielleicht in einer Theatergruppe, oder hatte er etwas mit dem Heimatverein zu tun?“
„Heinz?! Keinesfalls. Wieso fragen Sie?“
„Nun, weil ..., weil Ihr Ehemann in der historischen Seligenstädter Tracht der Frauen gefunden wurde.“ Nicole zeigte das Foto auf ihrem Handy. „Können Sie sich das erklären?“
Maria Hagemann schüttelte den Kopf, lachte dann hysterisch auf und bekam einen Hustenanfall. „Bitte, entschuldigen Sie. Aber, das ist ..., das ist absolut absurd.“
„Besitzen Sie eine solche Tracht?“
„Ja, sie hängt in einem Schrank auf dem Dachboden. Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort oben. Sie glauben doch nicht, dass ...? Bitte, ich zeige sie Ihnen.“
Auf dem Speicher angekommen, öffnete Maria Hagemann einen alten Kleiderschrank.
„Das gibt es doch nicht. Sie ist nicht mehr da.“
Sie blätterte durch die, auf Bügel hängende Kleidung. Danach bückte sie sich und durchwühlte auf dem Boden stehende Kartons.
„Hier fehlen auch aussortierte Hosen und Pullover von Daniel, die ich zur Kleidersammlung bringen wollte, dann aber vergessen hatte, als er ... nachdem er fortgelaufen war.“
Noch immer kniend drehte sie sich zu dem Kriminalbeamten um. „Was bedeutet das?“
„Vermutlich handelt es sich um Ihre Tracht, in der ihr Ehemann gefunden wurde“, sagte Lars halblaut.
„Um genau festzustellen, ob es sich tatsächlich um das gleiche Kleidungsstück handelt, benötigen wir von Ihnen eine DNS-Probe. Wenn Sie damit einverstanden sind, schicken wir einen Mitarbeiter der Kriminaltechnik vorbei.“
Maria Hagemann nickte träge. Scheinbar in Gedanken stieg sie vor den Beamten die Treppen hinab.
„Geben Sie mir bitte Bescheid, falls Ihnen neue Erkenntnisse vorliegen?“, sagte sie an der Haustür.
Neue Erkenntnisse? Schon wieder diese Ausdrucksweise, wunderte sich Lars erneut.
„Ja, sicher. Und, falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“
Nicole reichte Maria Hagemann ihre Visitenkarte. „Ach, hätte ich fast vergessen. Welchen Wagen fährt Ihr Mann?“
„Einen alten Citroën. Wieso? Der steht in der Garage.“
Lars schüttelte den Kopf. „Die Garage ist offen, aber kein Auto weit und breit.“
Maria Hagemann stürzte an den Beamten vorbei und aus dem Haus. „Das verstehe ich jetzt nicht. Heinz fuhr immer mit dem Fahrrad zu seinen Vereinsabenden. Aber sein Fahrrad steht hier, neben meinem.“
„Wir veranlassen die Fahndung nach dem Wagen“, versprach Nicole. „Wenn Sie uns Modell und Kennzeichen geben?“
Sobald die Beamten auf der Straße und aus Maria Hagemanns Blickfeld verschwunden waren, holte sie ihr Handy aus der Schürze.
„Die Polizei war gerade hier“, tippte sie auf die Mailbox. „Sie sagten dein Vater ... Heinz wurde ermordet und er hätte meine Seligenstädter Tracht angehabt. Ich kann mir das nicht erklären. Sein Wagen und sein Handy sind auch weg. Die Polizei sucht jetzt danach. Ich verstehe das alles nicht. Du hast doch nichts damit zu tun, oder? Ruf mich bitte an oder schicke mir eine Nachricht, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“
Ihr Finger zitterte, als sie den roten Punkt auf dem Mobiltelefon drückte. In ihrem Kopf spielten sich die wirrsten Szenarien ab.
Nein, ganz bestimmt hat er nichts damit zu tun. Wie unter Trance stehend räumte sie das unbenutzte Frühstücksgeschirr zurück in den Schrank und ging wieder in den Garten.
Mittlerweile hatte sich die Sonne durch die Wolkendecke gedrückt. Es würde noch einmal ein schöner Tag werden.
Bevor der Herbst endgültig Einzug hält, muss das Laub weg, dachte Maria Hagemann und machte sich wieder an die Arbeit.
Mittwoch / 17:50 Uhr
Die Aufnahme, ein Schnappschuss, von dem sie nicht einmal wusste, zeigte eine Frau, die viel Leid ertragen hatte. Sie war alt geworden. Falten rund um die Lippen und auf den Wangen, auf der Stirn. Alles nur wegen IHM.
War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, damals?
Die Frage wiederholte sich jeden Tag aufs Neue, ebenso wie der Traum, der fast jede Nacht wiederkehrte.
Die Tür kracht gegen den Schrank. Wütend, mit hochrotem Kopf und Augen, aus denen Blitze schießen, steht er plötzlich im Zimmer. Schallende Ohrfeigen, die auf den Wangen brennen. Das Reißen des Stoffes, bis das Kleid in Fetzen auf dem Boden liegt. Er rafft es auf, wirft es aus dem Fenster in den Garten. Sie steht im Türrahmen, zitternd, leichenblass, zu keiner Bewegung fähig, während er brüllt: Ich werde das nicht zulassen. Ich werde es aus dir herausprügeln! Du wirst meinen guten Ruf nicht in den Dreck ziehen. Eher bringe ich dich um.
Ein schneller Sprung unter die dicke Daunendecke, der Zufluchtsort, unter dem man sich verstecken und die Wahrnehmung ausblenden kann. Doch wie lange? Die Hände verkrampfen sich in das Leinen. Es wird stickig, die Luft knapp, kein Ein- und Ausatmen bringt Erleichterung für die brennenden Lungen. Der Schweiß brennt in den Augen, läuft an den Wagen herab, verbindet sich mit dem Salz der Tränen, die lautlos ihren Weg über den Hals zu dem schmalen Brustkorb fortsetzen. Das Zittern wird immer heftiger. Dann ihr Schrei und der dumpfe Schlag. Für den Moment ist es totenstill. Behutsam hebt sich die Decke und ein kaum hörbares Flüstern: Komm heraus.
Ein kleiner Stofffetzen auf dem Fußboden. Sonst erinnert nichts an das soeben stattgefundene Geschehen. ER ist fort.
Der seelische Schmerz ist bis heute geblieben. Ebenso der Traum. Bis gestern Nacht. Zum ersten Mal seit 20 Jahren, ein erholsamer Schlaf, ohne diese schrecklichen Bilder.
Endlich ist Schluss damit! Endgültig! Ich lebe mein Leben so, wie ich es will! So, wie Gott es für mich vorgesehen hat. DEIN Gott, den DU immer nur als Rechtfertigung für all deine Handlungen missbraucht hast, alle und jeden Du kannst mir nichts mehr anhaben.
Er ballte die Fäuste. Das Messgerät am Handgelenk piepste. Ein Blick auf das liebevolle Gesicht auf dem Foto genügte und Blutdruck und Herzfrequenz normalisierten sich.
Bald werden wir uns wiedersehen. Nicht mehr nur Briefe schreiben und hin und wieder ein Telefonat, wenn ER nicht zu Hause ist. Spazieren gehen, einen Kinobesuch oder einfach mal nur zusammen einen Kaffee trinken. Vielleicht würde sie ...? Nein, nichts überstürzen. Erst einmal abwarten.
Einerseits war die Freude übermächtig, sie endlich, nach so vielen Jahren wieder in die Arme schließen zu dürfen. Andererseits war da auch Angst.
Wie wird sie reagieren, wenn sie mich wiedersieht? Sieht, wie ich jetzt bin?
Die Mailbox kündigte eine Nachricht an. Das Display zeigte eine vertraute Nummer. Gedankenübertragung?
Weniger erfreulich war die Mitteilung:
HEINZ WURDE ERMORDET.
Er ist tot? Warum? Er darf doch nicht tot sein. Leiden sollte er, so wie ich gelitten habe, so wie sie litt in all den Jahren. Erkennen sollte er, dass er keine Macht mehr über uns hat. War alles umsonst?
Angespannt wischten seine Finger über das Display und fanden schnell in den Kontakten die gewünschte Rufnummer.
„ER ist tot!“
„Was? Wie kann …? Das wusste ich nicht.“
„Wieso ist er tot? Er darf nicht tot sein. Er sollte nicht tot sein. Hohn und Spott sollte er erfahren. Er sollte leiden. Ich verstehe das nicht. Wieso?“
„Bitte, rege dich nicht auf. Ich werde das klären ... noch heute. Vertraue mir. Wie geht es dir? Das ist viel wichtiger. Bist du in Ordnung? Wirst du wirklich morgen entlassen?“
„Ja, mir geht es gut. Ich vermisse dich. Kommst du heute noch vorbei?“
„Nein, schaffe ich heute nicht mehr. Aber morgen bin ich da. Versprochen. Ich hole dich ab. Ich fahr dich nach Hause und umsorge dich und dann reden wir. Alles wird gut; du wirst schon sehen. Und nun ruh dich aus. Ich muss jetzt los. Bis morgen. Alles wird gut. Ich liebe dich.“
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