Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Roger Schöntag
Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua
Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435–1601)
Unter Berücksichtigung von Dante Alighieri und der mittelalterlichen Sprachphilosophie
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ISSN 0564-7959
ISBN 978-3-8233-9540-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0348-0 (ePub)
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Version der im Juli 2020 eingereichten und im Juli 2021 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) angenommenen Habilitationsschrift zur Lehrbefähigung für das Fachgebiet Romanische Philologie, die vom Fakultätsrat mit dem Habilitationspreis der Philosphischen Fakultät ausgezeichnet wurde.
Es sei an dieser Stelle den Mitgliedern des Mentorats sowie den externen Gutachtern für die wertvollen Anregungen und konstruktiven Vorschläge zur Präzisierung von so manchem Einzelaspekt gedankt. Für einige kritische inhaltliche Anmerkungen und vor allem die vielen Etappen des mühevollen Lektorats gilt ganz besonderer Dank Dr. Patricia Czezior.
Erlangen im September 2021
1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel
1.1 Thematik
Das im Titel angezeigte Thema vorliegender Arbeit, nämlich die Untersuchung des Verständnisses von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit, ist dahingehend zu präzisieren, daß bei einer Analyse mit dem Fokus ‚Vulgärlatein‘ insofern immer auch die gesamte Sprache Latein in die Betrachtung miteinbezogen werden muß, als Vulgärlatein aus aktueller linguistischer Perspektive ganz prinzipiell einen Teilaspekt der lateinischen Sprache darstellt. Das bis heute bestehende Problem einer einheitlichen Definition von ‚Vulgärlatein‘ gilt erst recht für die hier untersuchte Epoche sprachtheoretischer Reflexion, in der das Konzept dessen, was man ab dem 19. Jh. in der Sprachwissenschaft unter ‚Vulgärlatein‘ versteht (cf. Kap. 5), erst nach und nach an Kontur gewinnt, es also um die Vorgeschichte dieses Konzeptes und linguistischen Begriffes geht. Für diese Zwecke wird ein Begriff von Vulgärlatein zugrundegelegt, der unabhängig von den heutigen zahlreichen Einzeldefinitionen einen Minimalkonsens beinhaltet, und zwar im Sinne einer weitgehend zu rekonstruierenden Basis bzw. Ursprache der romanischen Sprachen, die im Gegensatz zum klassischen Latein auf der gesprochenen Sprache Roms bzw. des römischen Reiches (Westteil) beruht und die in einzelnen schriftlichen Texten zutage tritt (cf. Quellen des Vulgärlateins).
Gegenstand der Untersuchung bilden ausgewählte Texte (v. infra) verschiedener Autoren zur Sprachreflexion im Italien der Frühen Neuzeit. Diese Schriften, die je nach Präferenz des Verfassers auf Italienisch oder Latein abgefaßt wurden, dienen als Basis, um die einzelnen Vorstellungen jener Autoren von dem in der Antike gesprochenen (und geschriebenen) Latein zu rekonstruieren. Im Weiteren soll dann, anhand dieser unterschiedlichen Auffassungen, die Entwicklung bzw. der Wandel des Verständnisses des antiken Lateins und seines Varietätenraumes nachgezeichnet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch einer Rekonstruktion eines metasprachlichen Diskurses. Ein wichtiger Aspekt dabei ist ebenfalls der im Untertitel der Arbeit angesprochene begriffsgeschichtliche Teil der Untersuchung, denn im Zuge der Aufarbeitung der eben erläuterten frühneuzeitlichen Diskussion ist es auch möglich und zugleich notwendig, die Entstehung des Begriffes und Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ zu skizzieren. Dabei wird auch der antike Ursprung (cf. sermo vulgaris) mitberücksichtigt. Nichtsdestoweniger liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Nachzeichnung der angesprochenen humanistischen Debatte, in deren einzelnen Positionen sich diejenigen Vorstellungen zur Sprachkonstellation der Antike, d.h. vor allem bezüglich des schriftlichen Lateins und seiner mündlichen Varietät(en), abzeichnen, die letztlich Vorboten einer späteren sprachwissenschaftlichen Differenzierung von Latein und Vulgärlatein darstellen.
Den Rahmen für die vorliegende Untersuchung bildet die sogenannte questione della lingua, die Sprachenfrage in Italien, eine Diskussion um die adäquate Literatursprache (d.h. um einen schriftlichen Standard) des Italienischen, die von zahlreichen Gelehrten mit unterschiedlichen Positionen über mehrere Jahrhunderte hinweg intensiv geführt wurde (cf. Kap. 6.1).
Den Höhepunkt dieser intellektuellen Auseinandersetzung kann man im Wesentlichen im 16. Jahrhundert ansetzen, doch reichen einerseits ihre Wurzeln weiter zurück, nämlich in letzter Konsequenz zum Beginn einer umfassenderen literarischen Produktion auf Italienisch (cf. Tre corone) und damit zum potentiellen Konflikt mit der bis dahin dominierenden Schriftsprache Italiens und ganz Europas,1 dem Lateinischen. Ihren Abschluß findet die questione bekanntlich erst im 19. Jahrhundert, als sich schließlich, nicht nur auf der Ebene der theoretischen Diskussion, das in seinen Grundzügen bis heute gültige Modell durchsetzt, sondern mit der Schaffung des italienischen Nationalstaates auch die Voraussetzungen zu einer praktischen Umsetzung gegeben sind, wobei die Herausbildung und schließlich eine weitgehend flächendeckende Verbreitung eines Standarditalienischen im Bereich der mündlichen Kommunikation bis weit ins 20. Jahrhundert dauerte.
Die Sprachenfrage in Italien hat im Laufe der jahrhundertelangen Diskussion zahlreiche Facetten gezeitigt,2 wobei man zwei Kernfragestellungen ausmachen kann: Zum einen gab es zunächst den Konflikt unter den Zeitgenossen, ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, im volgare, also der Volkssprache, literarische Werke hervorzubringen, die den gleichen sprachlich-stilistischen, intellektuellen und künstlerischen Stellenwert und Anspruch haben konnten wie die auf Latein abgefaßten. Zum anderen stellte sich gerade in Italien daran anschließend die Frage, welche Varietät des Italienischen man gebrauchen sollte, wenn man denn das Italienische dem Lateinischen als Schriftsprache vorzog.3 Im politisch zersplitterten Italien standen sich einerseits verschiedene diatopische Varietäten und deren scriptae gegenüber, die an verschiedene Machtzentren gekoppelt waren, andererseits gab es mit dem Werk der Tre corone ein übermächtiges literarisches Vorbild, welches in sich wiederum sehr vielfältig war und im 15./16. Jh. bereits archaisch anmutete. Nachdem nach und nach das Italienische als adäquate Sprache für einige literarische Gattungen weitgehend akzeptiert worden war, konzentrierte sich die Diskussion der weiteren Jahrhunderte auf die Frage nach der diatopischen und zeitlichen Verortung einer idealen italienischen Literatursprache.
Für die vorliegende Arbeit ist vor allem der erste Teil der italienischen Sprachenfrage von Relevanz, insofern im Schnittpunkt zwischen Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus ein Diskussionsfeld eröffnet wurde, an dem sowohl die Parteigänger des Lateinischen partizipierten, als auch die Befürworter der italienischen Volksprache in der Literatur Anteil hatten: Es handelt sich dabei um die Frage, welche Art von Latein im antiken Rom bzw. im Imperium Romanum gesprochen wurde.
Die Beschäftigung mit dem Latein wurde nicht zuletzt durch den Geist der Renaissance, d.h. das wiedererwachte, verstärkte Interesse an der Antike angeregt. Seit dem 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. begann man, zahlreiche Werke lateinischer und griechischer Autoren wiederzuentdecken, indem man sich in den Bibliotheken auf die Suche nach antiken Kodizes machte.4 Schon 1345 entdeckte Francesco Petrarca (1304–1374) in der Bibliothek der Kathedrale von Verona Briefe Ciceros,5 1392 stieß Coluccio Salutati (1331–1406) auf weitere Cicero-Briefe (Epistolae ad familiares) in derselben Stadt und Poggio Bracciolini (1380–1459), einer der Erfolgreichsten bei der Manuskriptsuche, entdeckte auf Reisen durch Deutschland und Frankreich während seiner Zeit als päpstlicher Sekretär auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) nicht nur Cicero-Schriften, sondern in St. Gallen auch eine komplette Fassung von Quintilians Institutio oratoria sowie zahlreiche weitere Texte antiker Autoren (cf. Burckhardt [1860] 2009:150–157; Sandys 1915:166–168). So konnte nicht nur der Kanon der lateinischen (und griechischen) Schriften erweitert werden, sondern durch diese intensive Recherchetätigkeit erfuhr auch die Rezeption klassischer Texte einen nachhaltigen Aufschwung. Insbesondere die in diesem Kontext verstärkte Auseinandersetzung mit Cicero hängt eng mit der ersten Phase der questione della lingua zusammen, in der die Frage nach der idealen lateinischen Literatursprache gestellt wird.
Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, daß im Zuge der oben genannten verstärkten Rezeption der römischen Texte, insbesondere Ciceros, man auch gleichzeitig die zu dieser Zeit bereits vorliegende Sprachreflexion mitrezipierte.6
Diese intensive Beschäftigung mit den klassischen lateinischen Texten, dem generellen Interesse an der Antike sowie der zentralen Fragestellung des Lateinhumanismus um ein adäquates, zeitgenössisches Latein sind – wie die Untersuchung zeigen wird – die zentralen Voraussetzungen, daß sich bei einigen Gelehrten nach und nach ein Bewußtsein für die Diglossiesituation der eigenen Epoche herausbildete, mit einem Schriftlatein als high variety7 und der italienischen Umgangssprache (meist in starker diatopischer Ausprägung) als low variety. Somit ergab sich parallel und in Verknüpfung mit der lateinischen questione dieses spezifische Interesse und damit auch die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der antiken Sprachsituation.
Die Teilnehmer an dieser Diskussion setzten sich also mit der konkreten Frage auseinander, welche Sprache die Römer wohl einst in ihrem täglichen Umgang sprachen – eben im Gegensatz zu jener, die durch die bekannte Literatur tradiert wurde – und wie diese Sprache des antiken römischen Volkes mit der Volkssprache des zeitgenössischen Italiens zusammenhing. Dadurch eröffnete sich eine Problematik, die wir heute gängigerweise mit der begrifflichen Dichtomie ‚Vulgärlatein‘ vs. ‚klassisches Latein‘ zu erfassen und abzugrenzen suchen. Die humanistischen Gelehrten versuchten, sich nach und nach eine immer präzisere Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen der Antike zu machen, wobei sie prinzipiell auf zwei Methoden zurückgriffen: zum einen auf den Vergleich mit ihrer eigenen Sprachsituation und zum anderen auf die Informationen, die ihnen die antiken Autoren lieferten. Die Argumentationen in dieser Diskussion waren jedoch nicht von einem originären Interesse an der Erforschung dieses Sachverhaltes geprägt, sondern müssen vor dem Hintergrund der Sprachenfrage und den dort vertretenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis ’Latein vs. Volkssprache’ bzw. der Streitfrage um die Adäquatheit des Italienischen als Literatursprache gesehen werden.
Thema der vorliegenden Arbeit ist demgemäß ein metasprachlicher Diskurs im Italien der Frühen Neuzeit, der einerseits eng mit der questione della lingua verknüpft ist, andererseits aber seine eigene Dynamik entwickelt. Damit ist das Interesse an der Rekonstruktion dieses frühneuzeitlichen Disputes hier als ein genuin romanistisches zu verstehen, welches jedoch unzweifelhaft im Schnittpunkt auch mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Latinistik oder ganz allgemein der Philologie im traditionellen Sinne steht.
1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen
Die sich oft auch im mündlichen Streitgespräch herauskristallisierenden Positionen sind uns vor allem durch eine reichhaltige Traktatsliteratur überliefert oder in Form von theoretischen Überlegungen in anderen literarischen Werken (z.B. literarischer Brief, humanistischer Dialog, Apologie). Dabei können aufgrund der Vielzahl der Texte, die sich entweder vorrangig mit dieser Thematik beschäftigen oder aus denen sich zumindest diesbezügliche Stellungnahmen herauslesen lassen, nicht alle Eingang in die Analyse finden, sondern es seien hier nur solche berücksichtigt, die einen wesentlichen Beitrag in dieser Diskussion leisten. Die Selektion der Autoren und Texte richtet sich dabei im Wesentlichen nach denen bereits in der Forschung kanonisierten und sowie danach, ob ein Autor bzw. Text maßgeblich in der zeitgenössichen Rezeption ist und/oder inhaltlich das Thema um neue Aspekte bereichert (cf. Kap. 6.2).
Der zeitliche Untersuchungsrahmen ergibt sich aus den maßgeblichen Traktaten, die den Umbruch in der Auffassung des Lateins bzw. der Volkssprache markieren. Aus diesem Grund läßt sich ein Beginn dieses neuen Bewußtseins durch Dante Alighieri (1265–1321) mit seiner Schrift De vulgari eloquentia (1303/4–1307/8) fixieren (cf. Kap. 6.2.1). Diese Abhandlung – obwohl zeitlich sehr viel früher gelegen als die eigentliche Diskussion – ist insofern von zentralem Interesse, als hier einerseits die mittelalterliche Auffassung von Latein als einer unveränderlichen gramatica nochmals synthetisiert wird, aber andererseits Dante hierbei auch der Volkssprache einen wichtigen Stellenwert zuerkennt. Diese wiederum stellt er äußerst differenziert dar und bringt gleichzeitig die Idee der diasystematischen Diversität (Architektur) einer Sprache mit ins Spiel sowie den Gedanken der Wandelbarkeit einer Sprache.
Der tatsächliche Beginn der Diskussion, die um die Frage der antiken Sprachensituation kreist bzw. im Speziellen um die Frage, welche Sprache die Römer gesprochen hatten und wie daraus das Italienische entstehen konnte, ist hingegen durch Leonardo Bruni (1369/70–1444) und Flavio Biondo (1392–1462) markiert (cf. Kap. 6.2.2), die mit einem zunächst mündlich ausgetragenen Disput im Vorzimmer des Papstes letztlich die gesamte questione della lingua wenn nicht eröffneten, dann doch zumeist grundlegend anregten. Zudem werden in den dann bald darauf entstandenen Schriften – Bruni: An vulgus et literati eodem modo per Terentii Tuliique tempora Romae locuti sint (1435); Biondo: De verbis romanae locutionis (1435), Italia illustrata (1448–1458/1474) – zum ersten Mal einige wichtige Positionen dieser Diskussion fixiert, darunter auch das Argument der Korrumpierung des Lateins, die als corruptio-These in der heutigen Forschung geführt wird (cf. Kap. 6.1.1).
Im Folgenden werden dann zwei Perioden dieser Sprachdiskussion um die Antike unterschieden, und zwar mit Humanisten, die hier, in Anlehnung an bereits in der Forschung üblichen,8 aber chronologisch leicht anders verwendeten Begriffe, als prima generazione und als seconda generazione klassifiziert werden. Die erstere bezieht sich auf die Protagonisten des 15. Jhs., zu denen neben den Initiatoren der Debatte, Bruni und Biondo, Leon Battista Alberti (1404–1472), Guarino Veronese (1374–1460), Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380–1459), Francesco Filelfo (1398–1481) und Lorenzo Valla (1407–1457) gehören, denen je eigene Kapitel gewidmet sind (cf. Kap. 6.2.4–6.2.8). Diesen folgen in einer kürzeren synoptischen Darstellung einige Autoren, die das vorliegende Thema weniger ausführlich behandeln oder weniger innovative Beiträge in die Debatte miteinbringen und die hier im Gegensatz zu den Protagonisten der Debatte, denen je ein eigenes Kapitel gewidmet ist und die deshalb als auctores maiores klassifiziert werden, als auctores minores benannt werden (cf. Kap. 6.2.9). Die zweite Generation der Gelehrten im 16. Jh. ist durch die maßgeblichen Vertreter Pietro Bembo (1470–1547), Baldassare Castiglione (1478–1529), Claudio Tolomei (ca. 1492–1556), Ludovico Castelvetro (1505–1571), Bendetto Varchi (1503–1565) und Celso Cittadini (1553–1627) repräsentiert. Neben diesen Protagonisten, die durch ihren allgemeinen Wirkungsradius und/oder die neuen Details, die sie zur Diskussion beisteuerten, als solche für eigene Kapitel ausgewählt wurden (cf. Kap. 6.2.11–6.2.16), folgt analog zur Übersicht des 15. Jhs. auch hier eine Zusammenstellung zu auctores minores in der vorliegenden Debatte (cf. Kap. 6.2.17).
Den zeitlichen Schlußpunkt der Untersuchung markiert demzufolge Celso Cittadini, der in seinem Trattato della vera origine (1601) zum ersten Mal nicht nur eine konkrete Vorstellung von der Heterogenität des Latein formuliert, und zwar auch im Wandel der Zeit, sondern der auch versucht, dies anhand von epigraphischen und literarischen Quellen zu belegen. Die Variabilität der Volkssprache ist zu diesem Zeitpunkt längst communis opinio, so daß er der heutigen Vorstellung vom ‚Vulgärlatein‘ in Bezug auf einige Aspekte schon ziemlich nahekommt.
Diese zeitliche Beschränkung ist insofern zu rechtfertigen, als einerseits mit Cittadini die Diskussion um die Sprachsituation in der Antike argumentativ zu einem Abschluß gebracht wurde und andererseits die weitere Geschichte des Begriffs ‚Vulgärlatein‘ Teil der modernen wissenschaftlichen Begriffsgeschichte darstellt, zu der eben jener wieder das Initium bilden würde.9
1.3 Untersuchungsebenen
Zentrales Thema der vorliegenden Untersuchung ist die Vorstellung des Varietätenraumes des antiken Lateins, des Sprachwandels vom Lateinischen (bzw. Vulgärlateinischen) zu den romanischen Sprachen sowie allgemein der Konstellation der antiken Sprachen des römischen Imperiums in der Frühen Neuzeit im Spiegel zeitgenössischer Traktate. Die hier vorgenommen Analyse bedingt deshalb einerseits, daß auf das Latein der Antike Bezug genommen wird, also auf die historische Sprache in ihrer diasystematischen Heterogenität, andererseits auf das zeitgenössische Latein des 15./16. Jh. Da im Zuge der verschiedenen Einzelanalysen vielfache Relationen zwischen Objekt- und Metaebene auftreten, soll diese Beziehungen vorab noch einmal deutlich gemacht werden.
Auf Objektebene ist die Sprache Latein sui generis anzusiedeln sowie ihre historische Entwicklung. Dazu gehören im Einzelnen die Frage nach der diasystematischen Vielfalt des Lateinischen (diatopische, diastratische und diaphasische Variation), nach der Herausbildung einer lateinischen Schriftsprache und deren Entwicklung sowie nach der Entstehung einer klassischen Norm innerhalb dieser Schriftsprache und dem Verhältnis ‚Schriftsprache vs. gesprochene Sprache‘ im Laufe der Jahrhunderte. Darüberhinaus ist dazu auch die Frage nach der Ausdifferenzierung der romanischen Sprachen aus dem gesprochenen Latein hinzuzunehmen.
Auf der Metaebene erscheinen verschiedene als synchron zu begreifende Ausschnitte der Betrachtung. Zentrale Fragestellung ist der Blick auf das antike Latein durch die an dieser Diskussion beteiligten Humanisten (Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘, cf. Kap. 6). Diese versuchten, die Architektur des Lateins in der Antike rekonstruieren, und zwar zum einen mit Hilfe des Vergleichs ihrer eigenen Situation in Bezug auf das Verhältnis ‚Latein vs. Volkssprache‘ in Italien und zum anderen vor allem, indem sie Hinweise zur Diversität des Lateinischen und zum antiken Verhältnis ‚Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bei den überlieferten römischen Autoren nachgingen bzw. als bestimmte Stellen als solche interpretierten. Dies war möglich, da die römischen Autoren selbst sowohl Überlegungen zur Sprache ihrer eigenen Zeit als auch früherer (schriftloser) Zeiten angestellt hatten, also auch versuchten, die Entwicklung der eigenen Sprache vor ihrer Zeit zu verstehen (Synchronie ‚römische Antike‘, cf. Kap. 4).
Wenn also aus heutiger Perspektive, wie in vorliegender Arbeit als Zielsetzung formuliert, die Vorstellung der Humanisten in Bezug auf das antike Latein rekonstruierten werden soll, und zwar mit den hier vorgestellten wissenschaftlichen Methoden anhand des zugrundeliegenden Korpus (cf. Kap. 1.1, 1.2 und 1.4), muß berücksichtigt werden, daß die Untersuchungen der Gelehrten der Frühen Neuzeit zum antiken Latein maßgeblich durch die metasprachlichen Kommentare der römischen Autoren zu deren eigener Zeit, aber auch zu früheren Epochen geprägt sind, wobei es nicht unerheblich ist, auf welches Korpus an Autoren und Texten jene frühneuzeitlichen Sprachtheoretiker sich dann im Einzelnen beziehen.
Im Fokus der Betrachtung stehen hier also synchrone Ausschnitte der Betrachtung (römische Antike, Frühe Neuzeit), und zwar einerseits auf der Metaebene (Sprachreflexion der Humanisten, Sprachreflexion der römischen Autoren) und andererseits auf Objektebene, indem in vorliegender Arbeit versucht werden soll, diese beiden historischen Sprachsituationen (Latein in der Antike, Latein/Italienisch in der Frühen Neuzeit) mit aktuellen wissenschaftlichen Kategorien zu erfassen.
Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch die dazwischenliegende metasprachliche Tradition, also die Kontinuität der Sprachreflexion von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, die das Denken und die Vorstellungswelt der untersuchten Humanisten mit beeinflußt hat.
In diesem Sinne ist zudem zu berücksichtigen, daß die ausgewählten synchronen Ausschnitte ebenfalls wieder in sich eine historische Entwicklung der metasprachlichen Betrachtung beinhalten, also natürlich keine absoluten Synchronien bilden, sondern relative, die z.T. sehr unterschiedlich große Zeiträume umfassen (röm. Antike mind. 1000 Jahre, Frühe Neuzeit ca. 200 Jahre). So sei beispielsweise darauf verwiesen, daß Isidor v. Sevilla (560–636 n. Chr.) sich auf Livius (59 v.–17 n. Chr.) bezieht (beide innerhalb der Synchronie ‚römische Antike‘) oder Cittadini (1601) Reflexionen von Dante (1303/4) aufgreift (beide Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘), so daß man bei einem Argument, welches Cittadini von Isidor übernimmt, der sich selbst wiederum auf Livius bezieht, eine mehrfache Brechung der Perspektive berücksichtigen muß.
1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel
Um den bereits vorgestellten metasprachlichen Diskurs mit seinen verschiedenen Aspekten, insbesondere in Bezug auf die Erfassung der gesprochene Sprache der römischen Antike und damit die Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit in Bezug auf das Latein in seiner Architektur rekonstruieren zu können, werden in der vorliegenden Untersuchung zwei unterschiedliche methodische Verfahren angewandt.
Zum einen soll die zeitgenössische Traktatliteratur mit Hilfe des heutigen Instrumentariums varietäten- und soziolinguistischer Begrifflichkeit analysiert (cf. Kap. 3.1) und somit unter dieser Perspektive untersucht werden, was an Einsichten in die Architektur des Lateinischen und in Bezug auf das Verhältnis von ,Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bereits vorhanden ist. Dabei werden in diesem Analyseschritt zunächst bewußt bestimmte kontextuelle historische Implikationen weitgehend ausgeblendet, d.h. die heutigen Begrifflichkeiten in gewisser Weise anachronistisch angewendet, um das Verständnis der Sprache bzw. Sprachsituation klarer herausarbeiten zu können. Das gilt beispielsweise für Begriffe wie Varietät, Diasystem (diatopisch, diastratisch, diaphasisch), Diglossie und Ausbau genauso wie für Substrat, Superstrat und Adstrat.










