Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Die römische Literatur wird hierbei um eine neue Gattung bereichert, indem auf verschiedene Spielarten einer Textsorte zurückgegriffen wird (Privatbrief, Lehrbrief, öffentlicher Brief, essayistischer Brief etc.), der partiell zwar in der griechischen Literatur (und auch in anderen Kulturkreisen) bereits vorgegeben ist. Von den Römern wurde sie aber weiter ausdifferenziert und zu einem festen neu interpretierten Bestandteil der literarischen Ausdrucksmöglichkeiten wurde, wobei aus diskurstraditioneller Perspektive das Lateinische in einen weiteren Bereich vorrückt, der Ausbau der Sprache durch die neuen Arten der Versprachlichung vorangetrieben wird.
Die bereits in altlateinischer Zeit sich herausbildende Tradition der Rhetorik bzw. der öffentlichen Rede bei den Römern wurde in der klassischen Periode nun auch schriftlich fixiert, und zwar sowohl in Form von Lehrbüchern bzw. Anleitungen zur richtigen Anwendung rhetorischer Ausdrucksmittel und Verhaltensweisen als auch durch konkret gehaltene oder zu haltende Reden. Diesbezüglich ist vor allem Cicero zu nennen, der nach der ersten – ihm nur zugeschriebenen – Rhetorik Auctor ad Herennium die Werke De oratore, Brutus und Orator verfaßte. An konkreten Reden seien auswahlweise nur Pro Sexto Roscio Amerino, Divinatio in Q. Caecilium, Pro Marcello, Pro Ligario und Pro rege Deiotaro, genannt. Wegweisend im Bereich der Rhetorik ist außerdem Quintilian, der mit seiner Institutio oratoria ebenfalls einen erheblichen Einfluß auf spätere Grammatikwerke ausübte (v. infra Varro et al.). (cf. Baier 2010:107–114).
Eine Textgattung, die bei den Römern nicht zur Literatur sensu strictu gehörte, die Fabel, wurde von Phaedrus (Φαῖδρος, 1. Jh. n. Chr.), einem Freigelassenen griechischer Herkunft, erstmals in lateinischer Sprache etabliert. Vorbild für die von Phaedrus im der Komödie nahestehenden altertümlichen Versmaß des Senaren nachgedichteten, sich durch ihre brevitas auszeichnenden Tierparabeln mit gesellschaftskritischen Unterton und bisweilen moralisierender Tendenz (cf. Promythien, Epimythien) sind die Fabeln von Äsop (Αἴσωπος, 6. Jh. v. Chr.) (cf. Baier 2010:79–80). Im Zuge der aemulatio entfernt sich Phaedrus dabei zunehmend von seinem Modellautor und übernimmt nach und nach weniger Motive und programmatische Schlußfolgerungen (cf. Kleine Pauly 1964 I:199). Auch wenn innerhalb der römischen Literatur die Rezeption eher verhalten ist und eine Nachwirkung erst in neuzeitlichem europäischen Kontext einsetzt (La Fontaine, Lessing), ist die Erweiterung der lateinischen Prosa um ein weiteres Genre sprachwissenschaftlich insofern von Bedeutung, als hier neue diskurstraditionelle Bereiche mit bestimmten Versprachlichungsstrategien (d.h. unterschiedlichen stilistischen Mitteln) erschlossen werden (cf. Baier 2010:79–80).
Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf verwiesen, daß alle bisher aufgezählten Textgattungen in der römischen Literatur bisher nicht zum Tragen kamen, also neue Formen und Inhalte mit der lateinischen Sprache ausgedrückt wurden.
In der Periode des klassischen Lateins wurden aber auch in Ansätzen bereits existierende Textgattungen weiter ausgebaut. Dies gilt beispielsweise für das Epos als die literarische Form mit dem größten Prestige, welches durch die Aeneis von Vergil ihren unbestreitbaren Höhepunkt erfuhr. Aus einer ex post Perspektive läßt sich konstatieren, daß der größte römische Dichter den größten griechischen zum Vorbild nahm. Ganz im Sinne der interpretatio Romana gibt Vergil den Römern ein Identifikationswerk in geschliffenen Hexametern mit Elementen der Ilias (Ἰλιάς) und Odysee (Ὀδύσσεια) von Homer ( Ὅμηρος, ca. 7./8. Jh. v. Chr.). In der Nachfolge von Vergil dichten Lukan (Marcus Annaeus Lucanus, 39–65 n. Chr.), der neben kleineren Dichtungen (Iliaca, Orpheus, Silvae), das Epos Pharsalia (bellum civile) über den Bürgerkrieg schreibt, unter anderem Silius Italicus (Tiberius Catius Asconius Silius Italicus, ca. 25–100 n. Chr., Punica) und Statius, der mit seiner Thebais antithetisch an die Aeneis anknüpft (cf. Baier 2010:17–27).
Die Satire, die bereits in altlateinischer Zeit von Lucilius gepflegt wurde (v. supra), erfährt mit den saturae des Horaz ihre sprachliche und literarische Vollendung. Auch wenn er auf ein römisches Vorbild zurückgreifen kann, bleibt der Rekurs auf die griechische Tradition bestehen – so knüpft er beispielsweise an die kynische Diatribe im Stile des Bion von Borythenes (Βίων Βορυσθενίτης, ca. 335–252 v. Chr.) an. Satirendichtung betreiben im Folgenden auch Persius Flaccus (Aulus Persius Flaccus, 34–62 n. Chr.) und Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis, ca. 67–127 n. Chr.), wobei insbesondere letzterem nicht zuletzt durch einige bonmots (z.B. panem et circenses, 10, 81; mens sana in corpore sano, 10, 356; difficile est satiram non scribere, I, 30) eine nicht unerhebliche Nachwirkung beschieden war. Eine dezidierte Anknüpfung an die Menippeische Satire, mit der sich schon Varro (Marcus Terentius Varro, 116–27 v. Chr.) beschäftigt hat (De compositione saturarum), findet sich dann bei Seneca (d.J.) in seiner Apocolocyntosis Divi Claudii. Auch wenn die Textgattung der Satire keine „Erfindung“ der Römer war, bekam sie in der lateinischen Sprache und Literaturtradition doch eine ganz eigene Ausformung und Prägung, so daß Quintilian sie schließlich pointiert ganz vereinnahmen kann: „Satura quidem tota nostra est […]“ (Inst. orat. X, 1, 93; 2001 IV:302) (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:677–679; Baier 2010:56–58).
In den Bereichen, die man im weiten Sinne der Wissenschaft zuordnen kann und die in der Periode des Altalteins bereits Werke in lateinischer Sprache gezeitigt haben, ist für die Epoche des Klassischen Lateins ein weiterer intensiver Ausbau dieser Diskurstraditionen zu konstatieren.
So erlebt die Geschichtsschreibung eine Blüte mit zentralen Autoren wie Sallust (Gaius Sallustius Crispus, 86–35 v. Chr., Bellum Catilinae, Bellum Iugurthinum, Historiae) Livius (Titus Livius, 64/59 v. Chr.-12/17 n. Chr., Ab urbe condita libri), Tacitus (Publius Cornelius Tacitus, ca. 56–120 n. Chr., Annales, Historiae) und Sueton (Cornelius Suetonius Tranquillus, ca. 70–140 n. Chr., De vita Caesarum, De viris illustribus). Letzterer steht hierbei zwischen Historiographie und biographischer Literatur.203 Neue, sozusagen römische Wege beschreitet hierbei Caesar (Gaius Iulius Caesar, 100–44 v. Chr.), der mit seinen commentarii eine ganz eigene Art von Hybridwerk zwischen militärischem Bericht, historischer Darstellung und autobiographischer204 Rechtfertigung schafft, auch mit einem sehr eigenen spezifischen sprachlichen Duktus (cf. Baier 2010:93–94).
Die Rechtsprechung zeitigt wichtige Werke von Autoren wie Gaius (ca. 120–180 n. Chr.) mit seinen Institutiones oder Papinian (Aemilius Papinianus, 142–212 n. Chr.) mit den Quaestiones, um nur eine Auswahl zu nennen (cf. Albrecht 2012 II:1294). Gerade in diesem Wissenschaftsbereich, der eng an eine Praxis geknüpft ist, beginnt in der Kaiserzeit eine Diskurstradition sich vollständig zu konstituieren, die dann über die Spätantike eine enorme Nachwirkung in Europa erlebt.
Im Bereich der Philosophie sind vor allem Cicero mit zahlreichen Schriften (Hortensius, Academici libri, De finibus bonorum et malorum, De officiis, Tusculanae Disputationes), auch zur Religion (De natura deorum, De divinatione), und Seneca (Dialogi, Ad Marciam de consolatione, De vita beata, De providentia, De beneficiis) zu nennen (cf. Baier 2010:85–92, 111–116). Ein Universalgelehrter war Varro, der als Diskurstradition die Grammatikographie neu für die lateinische Sprache erschloß (De lingua latina). In den von ihm postulierten Kategorien blieb er eng angelehnt an die erste Grammatik des europäischen Kulturkreises von Dionysios Thrax (Διονύσιος ὁ Θρᾷξ, ca. 180/170–90 v. Chr., Τέχνη γραμματική). Einen neuen Wissenschaftsbereich erschloß Vitruv (Marcus Vitrvius Pollio, 1. Jh. v. Chr.) mit seinem Opus De architectura, welches vor allem in der Renaissance ein breite Rezeption (und Umsetzung) erfuhr. Die Naturwissenschaft erlebt in der Naturalis historia des älteren Plinius (Gaius Plinius Secundus, 23/24–79 n. Chr.) eine umfangreiche Darstellung zahlreicher Subdisziplinen in lateinischer Sprache (cf. Baier 2010:120–122).205
Aus soziolinguistischem Blickwinkel ist die Frage nach dem Ausbau der Sprache hier zentral und damit eng zusammenhängend nach dem Vorrücken in verschiedene diskurstraditionelle Bereiche. Literarische Textgattungen sind wie andere Textsorten auch (z.B. Gebrauchstexte), Teil des Spektrums der schriftlichen Diskurstraditionen und damit ein Indikator für den sprachlichen Ausbau. In diesem Sinne ist das Erschließen von neuen diskurstraditionellen Bereichen für das Lateinische (cf. zahlreiche lyrische Formen, fachwissenschaftliche Teilgebiete), indem vor allem auf bereits existierende griechische Modelle rekurriert wurde, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer vollausgebauten Sprache. Dieser Status ist am Ende der klassischen bzw. nachklassischen Zeit für das Lateinische erreicht.
Die Unterscheidung „klassische Phase“ und „nachklassische Phase“ wird aus sprachwissenschaftlicher Perspektive hier fallengelassen und – wie bereits eingangs festgelegt (v. supra) – unter dem Aspekt des Ausbaus insgesamt sozusagen als „Hochphase der literarischen Produktion“ klassifiziert.
Rekapituliert man die in dieser wohl produktivsten und innovativsten Epoche entstandene Literatur – und dies ist hier der wichtigste Indikator, da der mündliche Bereich genauso wie der der Gebrauchstexte nur schwer erschließbar bzw. wenig dokumentiert ist –, so zeigt sich, daß für das Lateinische zahlreiche neue Textgattungen erschlossen wurden, diese innovativ verändert und ausgebaut wurden sowie auch neue entstanden. Unabhängig von dem literarischen Gewinn steht hier in erster Linie der sprachliche im Vordergrund, denn durch die Auseinandersetzung mit neuen Formen und Inhalten ergeben sich fast zwangsläufig Innovationen auf den verschiedensten sprachlichen Ebenen (Lexikon, Semantik, Syntax, Stilistik). Die Sprache durchläuft einen Ausbauprozeß durch die Herausforderung, die durch literarische Gattungen gestellt werden, aber auch bei der Versprachlichung von Inhalten, die an bestimmte Textsorten geknüpft sind (z.B. fachwissenschaftliche) steigt der Grad der Elaboriertheit und der Grad des Ausbaus mit der dadurch „erzwungenen“ Erweiterung der Ausdrucksmittel.206
Was nun die sprachliche Situation im römischen Reich vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. anbelangt, so ist diese wiederum in enger Abhängigkeit zur Expansion des Imperiums einerseits und zum Grad der Romanisierung andererseits zu sehen.
Auch diese Tatsache hat wiederum Rückwirkung auf den Ausbaugrad, da das Lateinische in zahlreiche Domänen vorrückt: „Das einheitliche Recht, der Handel, die politisch-militärische Organisation der römischen Herrschaft, die fortgeschrittene Kultur, die einheitliche Literatur: all das führte zur Erweiterung der gesellschaftlichen Funktionen des Lateinischen“ (Irmscher 1986:84).
Mit den zunehmenden Eroberungen, durch die ausgetragenen Konflikte mit den im Mittelmeerraum noch verbliebenen Staatengefüge (Seleukidenreich, Ptomeläerreich etc.) sowie mit verschiedenen Ethnien am Rande des Reiches, wächst das römische Reich ab dem 1. Jh. v. Chr., insbesondere ab Augustus und der frühen Kaiserzeit stetig und geradezu exponentiell, so daß bald seine größte Ausdehnung erreicht wird (115–117 n. Chr., v. supra). Durch die Einrichtung von immer neuen Provinzen und der Stationierung von Truppenkontingenten (legiones) sowie der gezielten Kolonialisierung soll eine Konsolidierung der eroberten Regionen erreicht werden. Die systematische Erschließung durch Neugründung von Städten (civitates, municipia, coloniae), dem Anlegen eines ausgedehnten Straßennetzes und damit der Schaffung von Handels- und Verkehrsverbindungen (cf. itineraria) sowie die Errichtung einer einheitlichen zivilen und militärischen Verwaltungsstruktur (cf. mil.: proconsules, propraetores; ziv.: decuriones) fördert im Folgenden die Romanisierung.
Die lateinische Sprache setzt sich dabei in den meisten eroberten Provinzen nach und nach durch, nicht gleichmäßig und zeitlich abhängig zum einen vom Eroberungszeitpunkt und vom womöglich fortgesetzten Widerstand der Bevölkerung, zum anderen von der vorgefundenen Infrastruktur und Art der Zivilisation. Generell gilt, daß die Latinisierung zuerst in den städtischen Zentren griff und sich von dort auf das Land ausbreitete und ganz prinzipiell urban geprägte Kulturkreise sich schneller akkulturierten und sprachlich assimilierten (cf. z.B. Iberer) als solche, die zur Migration neigen oder zumindest wenig feste Infrastruktur aufweisen. Wie bereits erwähnt (v. supra) dürfte die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. im Wesentlich abgeschlossen sein – bis auf einige griechische Sprachinseln in Süditalien und Sizilien. Fuhrmann (1999:19–20) datiert die Latinisierung der Iberischen Halbinsel auf das 1. Jh. n. Chr. und begründet die tiefgreifende sprachliche Assimilation mit dem Auftreten von lateinischen Schriftstellern wie Seneca oder Lukan. Hierbei ist allerdings einzuwenden, daß dies nicht ausschließt, daß die nördlichen Regionen wie das Baskenland oder Kantabrien zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht vollständig romanisiert und latinisiert waren bzw. nie wurden. Für Gallien und Nordafrika setzt er das 2. Jh. als Richtwert für eine weitgehend vollständige Latinisierung an, während für Britannien und den Donauraum die Durchdringung mit der lateinischen Sprache auch in den folgenden Jahrhunderten nicht in gleichem Maße flächendeckend und tiefgreifend war.
Der Osten blieb weiterhin griechischsprachig und das Lateinische tat sich als Amtssprache schwer, auch wenn es durchaus bezeugte Bemühungen von Seiten der Griechen gab, das Lateinische zu erlernen (cf. Adams 2003:15).
Durch die massive Expansionspolitik in dieser Epoche wurde das Latein als Sprache der Eroberer in zahlreiche neue Regionen getragen, wirkte aber auch über die politischen Grenzen hinaus und wurde so zur Weltsprache in Rahmen der damaligen Welt (cf. röm. Anspruch der Herrschaft über den orbis terrarum).
Für die Bevölkerung in den neu eroberten Gebieten ergab sich somit entweder ein zum Teil dauerhafter Bilingualismus bzw. eine Diglossie-Situation in den Regionen, die weniger latinisiert waren oder es vollzog sich über eine mehr oder weniger lange Phase der Mehrsprachigkeit ein Sprachwechsel hin zum Lateinischen.
Fuhrmann (1999:19) postuliert dabei einen eher abrupten, schnellen Sprachwechsel ohne eine größere Übergangsphase. Dies wäre aber womöglich en detail zu betrachten, da auch hier die Frage nach sozialer Stratifikation, urbaner oder ruraler Struktur u.ä. Kriterien eine Rolle spielen könnten.
Für die Elite Roms und des römischen Reiches ist prinzipiell weiterhin eine Diglossie-Situation mit dem Griechischen anzusetzen. Während Fuhrmann (1999:345) allerdings mit einem gewissen Rückgang des Philhellenismus in der nachklassischen Phase des Archaismus rechnet, sieht Kramer (1997:146) eine „ausgeprägte Zweisprachigkeit“ gebildeter Kreise bis ca. 250 n. Chr., was auch an der Übernahme fremder Strukturen, d.h. vor allem im Bereich der Syntax, aber auch auf lautlicher, morphologischer und semantischer Ebene ersichtlich sei.
Insgesamt ist dennoch zu konstatieren, daß das römische Reich in dieser Epoche nicht nur ein Vielvölkerstaat wurde (mehr denn je zuvor), sondern auch ein Vielsprachenstaat, in dem Bilingualismus und Mehrsprachigkeit durchaus gängig waren, nicht zuletzt auch bedingt durch die relativ hohe Mobilität bzw. Migration innerhalb des Imperiums. Als high-variety fungierte dabei einerseits das Latein, das inzwischen sowohl durch seine politisch-gesellschaftliche Stellung als auch durch seine nun reichhaltige Literatur zur unzweifelhaften Prestigesprache aufgestiegen war und in dieser Epoche einen Standardisierungsprozeß durchlief,207 andererseits auch das Griechische als „alte“ Kultursprache, aber auch als nach wie vor gültige Verkehrssprache im östlichen Teil des Imperiums
4.1.1.4 Spätlatein
Die Frage, ab wann die Epoche des Spätlateins anzusetzen ist, hängt eng mit der unterschiedlich gehandhabten Begrenzung des Klassischen bzw. vor allem des Nachklassischen Lateins zusammen (v. supra), während ihr unscharfes Ende in erster Linie mit der Herausbildung der Romanischen Sprachen verknüpft ist. Müller-Lancé (2006:34) verweist deshalb mit Recht auf den Charakter einer Übergangsepoche. Es sei aus der dort gegebenen, relativ exakten Datierung (ca. 180–650 n. Chr.) und der ebenfalls präzisen, aber leicht verschobenen bei Steinbauer (2003:513), nämlich ca. 200–600 n. Chr, hier eine etwas fließenderen Grenze angenommen, d.h. ein Zeitraum vom 2./3. Jh. – 5./6. Jh. postuliert. Das etwas frühere Ende sei damit begründet, daß mit dem Fehlen der Reichseinheit spätestens ab dem 7. Jh. geistes- und kulturgeschichtlich genauso wie politisch eine andere Ära beginnt. Der Beginn der spätlateinischen Epoche fällt mit dem von Berschin (2012:94) charakterisierten „dunklen III. Jahrhundert“ zusammen, in dem nicht viel von der lateinischen Kultur überliefert ist, aber sich ein Wandel in Schrift, Sprache und Literatur vollzog.
Aus der soziolinguistischen Sicht des sprachlichen Ausbaus ist für die spätlateinische Phase vor allem die neu aufkommende christliche Literatur von Relevanz, die sich in vielen Facetten zeigt. Ohne in vollem Umfang auf alle Schriftsteller und Genres eingehen zu können, seien hier an erster Stelle die lateinischen Kirchenväter (patres ecclesiae) genannt, und zwar die kanonischen großen vier: Ambrosius (Aurelius Ambrosius, 339/340–397 n. Chr.), Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus, 345/348–420 n. Chr.), Augustinus (Aurelius Augustinus, 354–430 n. Chr.) und Gregor d. Große (Gregorius, 540–604 n. Chr.).
Chronologisch sollen zunächst aber einige andere wichtige Vertreter aus der Reihe der Kirchenlehrer genannt sein, die den Ausbau der religiösen Fachliteratur maßgeblich vorangetrieben haben. Dabei ist sicherlich an erster Stelle Tertullian (Quintus Septimus Florens Tertullianus, ca. 150/170–220 n. Chr.) zu nennen, von dem ein umfangreiches und vielfältiges Schrifttum überliefert ist. Dabei kann man das Gesamtwerk in apologetische Schriften (z.B. Ad nationes, Apologeticum, De Testimonio animae, Adversos Iudeos), in praktisch-asketische Schriften (z.B. Ad martyras, De spectaculis, De baptismo) und in dogmatisch-polemische Schriften (z.B. De praescriptione haereticorum, Adversos Praxean) gliedern. Seine literarischen Modelle sind zum einen bei den zeitgenössischen christlichen griechischen Autoren zu suchen, aber auch in der klassischen Philosophie (Platon, Stoa). Ein prägendes Moment ist dabei auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Strömungen wie dem aufkommenden Gnostizismus. Dabei legt Tertullian nicht nur die Grundlage für eine facettenreiche religiöse Literatur des Lateinischen im Allgemeinen, sondern schafft mit seiner Art der Apologetik (werbend und verteidigend zugleich) ein neues Subgenre, welches so zuvor weder in der lateinischen noch in der griechischen Tradition existierte (cf. Albrecht 2012 II:1315–1324).
Ein wahrscheinlich etwas jüngerer Zeitgenosse Tertullians ist Minucius Felix (2./3. Jh. n. Chr.), von dem nur die Schrift Octavius überliefert ist.208 In dieser dialogisch gestalteten erstmaligen Auseinandersetzung mit den paganen Überzeugungen aus christlicher Perspektive werden Vorbilder wie Homer, Platon, Cicero, Seneca oder Vergil sichtbar (cf. Albrecht 2012 II:1337–1340).
Als ein weiterer nicht unbedeutender Vertreter aus dem Kreis der frühen Kirchenlehrer ist Cyprian (Thascius Caecilius Cyprianus, ca. 200/210–258 n. Chr.) zu nennen, der im Zuge der Profilierung der frühen katholischen Lehre sowohl wichtige Bekehrungsschriften (z.B. Ad Donatum, Ad Detrianum, De ecclesiae catholicae unitate) wie auch die Gattung der Erbauungsschriften (z.B. De habitu virginum, De dominica oratione) hervorgebracht hat (cf. Albrecht 2012 II:1348–1351).
Ebenfalls zu den Großen und Einflußreichen gehört Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus Lactantius, ca. 250–320), der in seinen Divinae institutiones Elemente aus der juristischen Tradition mit solchen aus der Rhetorik verbindet. Neben weiteren wichtigen apologetischen Schriften wie De opificio Dei, De ira Dei oder De mortibus persecutorum – wobei vor allem letzteren eine größere Nachwirkung beschieden war, nicht zuletzt als Geschichtsquelle – soll er auch weltliche Schriften verfaßt haben, die allerdings nicht erhalten sind (Symposium, Itinerarium, Grammaticus) (cf. Albrecht 2012 II:1370–1371).
Was die sogenannten großen Kirchväter anbelangt, so ist zunächst Ambrosius zu nennen, der ein vielseitiges Œuvre hinterlassen hat, bestehend aus moralisch-asketischen Schriften (De officiis ministorum, Exhortatio virginitatis, De Tobia), dogmatischen Schriften (De fide, De spiritu sacto, De incarnationis dominicae sacramento), einer politischen Flugschrift (Contra Auxentium de basilicis tradendis), Trauerreden, Hymnen und einer verlorenen philosophischen Abhandlung (De philosophia). Dabei war auch bei ihm, wie im Falle anderer Kirchenlehrer, der griechische Einfluß durch seine klassische Vorbildung gegeben. Er hat unzweifelhaft Philosophen wie Plotin (Πλωτῖνος, 205–270 n. Chr.) oder Porphyrios (Πορφύριος, ca. 233–305 n. Chr.) genauso rezipiert wie römische kanonische Autoren (z.B. Cicero, Vergil) (cf. Albrecht 2012 II:1402–1406).
Hieronymus ist vor allem wegen seiner Bibelübersetzung in die Geschichte eingegangen, der Vulgata.209 Dabei ist bemerkenswert, daß er nicht nur selbsverständlicherweise Griechisch konnte, sondern auch Kenntnisse des Hebräischen hatte, um eine bessere Übertragung bzw. Exegese leisten zu können. Seine schriftstellerische Tätigkeit umfaßte auch weitere Übersetzungen (vor allem exegetischer Predigten), Kommentare zu biblischen Büchern, Briefe, Predigten sowie Streitschriften (z.B. Adversos Rufinum, Contra Pelegianos), Hagiographien und eine christliche Literaturgeschichte (De viris illustribus) nach griechischem Vorbild (cf. Albrecht 2012 II:1415–1417).
Der wirkungsmächtigste Kirchenvater war wohl Augustinus mit einem umfangreichen Gesamt-Opus, darunter philosophische Schriften (Soliloquiorum libri duo, De magistro, De immortalitate animae), philosophisch-rhetorische (De grammatica, De doctrina christiana), apologetische (De divinatione daemonum, De civitate Dei), dogmatische (De fide et symbolo, De agone Christiano, De trinitate libri XV), dogmatisch-polemische (De libro arbitro) und hermeneutische (De doctrina christiana), von denen viele für die christlichen Theologie fundamental wurden. Die breiteste Rezeption erfuhr er aber wohl mit seiner autobiographischen Schrift, den Confessiones. Augustinus bedient sich in seinen Einzelwerken der gesamten Bandbreite griechisch-lateinischer Literatur, die zu seiner Zeit gängig war (cf. Albrecht 2012 II:1431–1436).
Gregor d. Große (Gregorius, ca. 540–604 n. Chr.) schließlich, Papst (590–604 n. Chr.), verfaßte anhand eines Bibelkommentars eine Moraltheologie (Moralia in Job), zahlreiche Homilien, Pastoralen (Regula pastoralis) und hinterließ ein umfangreiches Korpus an Briefen. Insbesondere seine Heiligenlegenden in Form von Dialogen (Dialogi) wurden in den folgenden Jahrhunderten häufig rezipiert (cf. Heim 2001:147).
Der Wissenschaftsbereich der Historiographie wird durch Historiker wie Ammian (Ammianus Marcellinus, 330–395 n. Chr.) mit seinen an Tacitus anknüpfenden in annalistischer Tradition stehenden Res gestae oder Jordanes (6. Jh.) mit seiner Gotengeschichte (Getica) und einer Weltchronik (De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum) weiter gepflegt (Kleine Pauly 1967 II:1439).210 In der Philosophie sei vor allem auf Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius, ca. 480–525 n. Chr.) verwiesen, der durch seine Consolatio philosophiae breite Nachwirkung erfuhr, aber auch durch seine Übersetzungen, Kommentare und weiteren Schriften zu anderen Fachbereichen wirkte (z.B. Logik: De categoria syllogismis, Mathematik: Institutio arithmetica) (cf. Albrecht 2012 II:1470–1475). Die Grammatikschreibung zeitigt mit den Werken Donats (Aelius Donatus, ca. 310–380 n. Chr., Ars grammatica) und Priscians (Priscianus Caesariensis, 5./6. Jh., Institutio de arte grammaticae) in dieser spätlateinischen Phase die wichtigsten Inspirationsquellen der folgenden Jahrhunderte (cf. Brodersen/Zimmermann 2000:145, 492).










