Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Nichtsdestoweniger bewahrte sich die lateinische Sprache gerade durch ihre Wechselwirkung mit den einzelnen Volkssprachen, auf die sie zum Teil maßgeblichen Einfluß hatte, auch eine Variationsbreite in vielerlei Hinsicht. In ihrer mündlichen Ausprägung unterlag sie zweifelsohne einer diatopischen Variation, regionale Unterschiede waren aber auch in der Schriftlichkeit nicht auszuschließen (Schreibschulen) und diaphasisch deckte sie zahlreiche Stilregister ab, entsprechend des allumfassenden Gebrauchs, der nur langsam durch die nach und nach in einzelne Domänen vordringenden jeweiligen Volkssprachen beschnitten wurde.
Bei den durchaus gegebenen regionalen Unterschieden handelt es sich, wie Stotz (2002:87) anmerkt, nicht um Dialekte im eigentlichen Sinn, sondern um Unterschiede, die zwar durchaus auch von sprachlichen Elementen bestimmt wurden, aber letztlich vor allem in einem kulturellen und sprachsoziologischem Rahmen zu beschreiben sind.
Poccetti/Santini/Poli (2005:13–14) zeigen auf, wie erst in der nachhumanistischen Ära das Lateinische soweit erstarrte, daß die Metapher von der „toten“ Sprache zumindest ein Stück weit zutreffend ist. Das Gefühl der mangelnden Lebendigkeit des Lateins erkannten zwar bereits die Gelehrten der Renaissance, doch waren es gerade diese eruditi, die eine ungeheure Produktivität und Innovation in der von ihnen totgesagten Sprache an den Tag legten.255
4.3 Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell
Beschäftigt man sich im Rahmen der Klassischen Philologie mit der lateinischen Sprache, so ist der Fokus aller Betrachtung in der Regel auf dem für diese Fachdisziplin namengebenden Klassischen Latein ausgerichtet. Nichtsdestoweniger gab es auch von jeher in bescheidenem Umfang Studien zum nicht normierten Latein. Hierbei wird üblicherweise, wie auch in der aktuellen Einführung von Willms (2013), jegliche Variation im Latein unter zwei Begrifflichkeiten subsumiert, nämlich Vulgärlatein und lateinische Umgangssprache. Zu letzterem Terminus gibt Willms eine in mehrfacher Weise interessante Stellungnahme ab:
Die lat. Umgangssprache ist eine sprachhistorisch-begriffliche Schöpfung Johann Baptist Hofmanns. Er hatte bei der Definition dieses Terminus und seiner Abgrenzung von anderen Varietäten des Lateinischen keine glückliche Hand, doch bleiben beide sachlich sinnvoll und in modifizierter Form praktikabel. Willms (2013:239)
Es ist bezeichnend, daß Willms hier zwar berechtigte Kritik übt, aber andererseits in seiner aktuellen Einführung genau diese Terminologie beibehält. Auch bezüglich des Umfangs der Ausführungen zum lateinischen Substandard, wird dieser ganz traditionell marginalisiert. Vor allem sei hier dezidiert widersprochen, daß der Begriff weiterhin praktikabel sei, denn es handelt sich dabei um einen Terminus zur Bezeichnung sprachlicher Verhältnisse im Deutschen, ob deren Adäquatheit man schon diesbezüglich in Zweifel ziehen kann, eine Übertragung auf die Situation des Lateins der Antike, erscheint dabei problematisch, zumal hierunter die verschiedenster sprachlichen Ebenen gefaßt werden.
Nicht unproblematisch ist auch die Definition der Umgangssprache, die Hofmann zugrundelegt, setzt er diese doch mit dem sermo familiaris gleich und sieht sie als „die lebendige mündliche Redeweise der Gebildeten“ (Leumann/Hofmann 1928:10). Wie bereits dargelegt (v. supra) ist die Zuordnung zu dem vorwiegend bei Cicero gebrauchten Terminus nicht so einfach. Innerhalb der Umgangssprache wiederum erkennt er mehrere Abstufungen wie die gewählte Sprache der Konversation, den familiären Stil und den niedrigen Stil, während die Vulgärsprache einfach mit noch niedriger verankert wird. Trotz fehlender Differenzierung von diatopischer, diastratischer und diaphasischer Ebene hält sich diese Dreiteilung Schriftsprache (bzw. enger gefaßt Literatursprache) vs. Umgangssprache vs. Vulgärlatein hartnäckig, nicht nur in der Klassischen Philologie (cf. Palmer 1990, Meiser 2010, Willms 2013).256
In der Romanistik dagegen wird diese Trichotomie meist zu einer Dichotomie weiter verkürzt, indem eine Opposition Klassisches Latein vs. Vulgärlatein formuliert wird (cf. z.B. Rohlfs 1951, Vossler 1954, Silva Neto 1957, Herman 1967, Väänänen 11963/42002, Coseriu 2008). Exemplarisch sei dabei auf Herman (1996) verwiesen, der relativ klar die diasystematische Vielfalt der lateinischen Sprache erkennt und definiert, in seiner weiteren Beschreibung dann jedoch in alte Muster verfällt:
[…] en effet les Anciens eux-mêmes étaient conscients de l’existence d’usages que nous appellerions dialectaux ou socio-culturels […], et la recherche relative au latin connaît depuis toujours une longue nomenclature de variétés conformes à différents paramètres, sans même parler des étapes chronologiques s’échelonnant au cours de la longue histoire de la langue. (Herman 1996:45)
In seiner folgenden Abhandlung der variationsbedingten Unterschiede im Lateinischen faßt er trotz dieser Erkenntnis jegliche substandardliche Abweichung unter ‚Vulgärlatein‘.
Aus Sicht der Romanistik, die in einer diachronen Perspektive bestrebt ist die Ursprünge der romanischen Sprachen zu ergründen, ist diese Arbeitshypothese, auch im Sinne der im 19. Jh. formulierten genetischen Verwandtschaft der Sprachen, bei der eine Sprachfamilie durch eine gemeinsame Ursprache definiert wurde, durchaus legitim und praxisnah. In dieser Hinsicht ist es ausreichend jegliche Abweichung vom standardisierten Latein unter einen Begriff zu fassen, welche Sprachrealität auch immer damit verbunden ist (zur Diskussion v. infra).
Soll hingegen die lateinische Sprache als lebendige, sich wandelnde Sprache beschrieben und möglichst präzise in ihrer Vielfalt erfaßt werden, so ist diese Unterscheidung zu grobkörnig. Aus diesem Grund sei hier der Versuch unternommen, auf Basis der analysierten Begrifflichkeiten und der bisherigen Systematisierung der variationsbedingten Heterogenität des Lateins (siehe dazu das Modell zur Sprachen- bzw. Varietätenwahl in Kap. 3.1.3) eine diasystematische Auffächerung darzustellen.257 Soweit möglich sei dabei auf die antiken Termini rekurriert, diese aber, wenn nötig, um weitere ergänzt.258
Diasystem des Lateinischen diatopische Ebene Dialekte Regiolekte (tertiäre Dialekte) Urbanolekte primäre Dialekte: (sermo rusticus/agrestis) Römisch Praenestinisch Lanuvinisch Tiburinisch Tusculanisch Satricanisch Aricianisch etc. Varietäten der Provinzen: (sermo rusticus/agrestis) Italia Belgica Lugdunensis Narbonensis Aquitania Tarraconensis Lusitania Baetica Britannia Raetia Noricum Mauretania Africa etc. Varietäten der Städte: (sermo urbanus) Roma Mediolanum Mogontiacum Lugdunum Tarraco Augusta Treverorum Nemausus Narbo Olisipo etc. sekundäre Dialekte: (sermo rusticus/agrestis) in Italien: mit oskischem mit umbrischem mit griechischem mit keltischem, etc. Einfluß außerhalb Italiens: mit iberischem mit germanischem mit lusitanischem etc. Einfluß Soziolekte diastratische Ebene schichtenspezifisch sermo urbanus sermo usitatus/sermo communis sermo plebeius/sermo vulgaris Situolekte diaphasische Ebene Superstandard Standard Substandard sermo urbanus/sermo latinus sermo usitatus/sermo communis sermo familiaris/sermo cotidianus sermo humilis/sermo vulgaris Technolekte diatechnisch gruppenspezifisch (sermo technicus) sermo philosphicus sermo medicus sermo religiosus sermo architectonicus sermo argrarius etc. Helikialekte diagenerationell altersspezifisch Gerontolekt (Sprache der Senioren) Neotolekt (Sprache der Kinder und Jugendlichen) Sexolekte diasexuell geschlechtsspezifisch Androlekt (Sprache der Männer) Gynaikolekt (Sprache der Frauen)Abb. 3: Das Diasystem des Lateinischen
Diese hier präsentierte Idee einer Architektur des Lateinischen als lebende Sprache in der Antike ist natürlich insofern defizitär, als die diachronische Entwicklung und die sich daraus ergebenden Verschiebungen bzw. Nuancierungen – wie oben beschrieben – nicht abgebildet sind. Es bleibt weiterhin in vielerlei Hinsicht hypothetisch, da wir aus der historischen Konstellation heraus rein auf schriftsprachliche Zeugnisse angewiesen sind, die nicht nur die Frage nach der Mündlichkeit schwer beantwortbar machen, sondern jede Art der diasystematischen Variation nur fragmentarisch hinter der weitgehend standardisierte Schriftlichkeit sichtbar werden lassen. Insofern beruht das obige Schema zwar durchaus auf Studien und Belegmaterial, welches vorsichtige Rückschlüsse auf eine bestimmte Varietät zulassen, sie vollständig zu erfassen ist jedoch nicht möglich. Es sollte dabei jedoch im Anschluß an die neuere Forschung deutlich werden, daß das Lateinische der Antike eine vollausdifferenzierte Sprache war, deren Heterogenität sich eben nicht wie bisher üblich auf zwei oder drei Begriffe reduzieren läßt.
5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt
Bei einer Darstellung, die der Frage nachgeht, wie ein tiefergehendes Verständnis für das Latein der Antike entstanden ist und wie Sprachentwicklung in das Bewußtsein der Gelehrten rückte, ist es unumgänglich den zentralen Begriff des Vulgärlateins zu betrachten. Dieser Terminus ist insofern entscheidend, als hierin zum Ausdruck kommt, daß es noch eine andere Form des Lateins gab, die nicht den gleichen Grad an Normiertheit und Invariabilität aufwies wie die Schriftsprache im Allgemeinen bzw. das sogenannte Klassische Latein im Besonderen. Dieser Unterschied wird bereits bei den antiken Autoren greifbar, die wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, verschiedene Arten des Lateins unterschieden, wie auch immer die jeweilige diasystematische Abgrenzung gedacht war.
Wenn man sich nun – wie hier vorgesehen – mit den Vorstellungswelten der Frühen Neuzeit und deren Begrifflichkeiten auseinandersetzt, so ist es für ein präzises Erfassen der damaligen Erkenntnisse durchaus sinnvoll, sich mit den Kerntermini auch im modernen Verständnis zu beschäftigen bzw. sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Dies wurde bereits für die varietäten- und soziolinguistischen Begriffe geleistet (cf. Kap 3.1), gilt aber umso mehr für den äußerst umstrittenen Begriff ‚Vulgärlatein‘ (frz. latin vulgaire, it. latino volgare).
Die moderne sprachwissenschaftliche Forschung beginnt nach allgemeinem Verständnis in der Romanistik mit Friedrich Diez, der in diesem Kontext von ‚Volksmundart‘, ‚volksmäßigen Latein‘ und schließlich von ‚Volkslatein‘ spricht.259
Für den entscheidenden Anstoß in der Forschung zu diesem Thema und in Bezug auf die Verbreitung des Begriffes sorgte hingegen Hugo Schuchardt mit seinem mehrbändigen Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866–1868). Bereits kurz zuvor gab es in Wien an der Akademie der Wissenschaften eine Ausschreibung für die beste Darstellung des Vulgärlateins (1860) (cf. Kiesler 2006:9). Der Begriff geht also auch im Deutschen nicht auf Schuchardt zurück, doch kann er, vor allem was die romanistische Forschung anbelangt, als Anfangspunkt für eine intensive und vor allem systematische Beschäftigung mit diesem Sujet gesehen werden.
Abgeleitet ist der Begriff ‚Vulgärlatein‘ (wie auch ‚Volkslatein‘) von vulgaris sermo, der bereits in der anonymen Rhetorica ad Herennium (IV, 56 (69) belegt ist, aber vor allem bei Cicero (Acad. I, 5) in der Bedeutung ‚Sprache des Volkes‘ bzw. ‚Umgangssprache‘ in erster Linie im Zuge einer rhetorischen Klassifizierung von Sprachstilen häufig verwendet wurde.
Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. (Rhet. ad Her. IV, 56 (69); 1994:316–318)
[…] didicisti enim non posse nos Amalfinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, […]. (Cicero, Acad. I, 5; 1990:272)260
Bei Kiesler (2006:7) wird im Zuge eines Abrisses zur Begriffsgeschichte mit Verweis auf Geckeler/Dietrich (2003)261 eine Übernahme des deutschen Begriffes ‚Vulgärlatein‘ bei Schuchardt aus der französischen Wissenschaftstradition gemutmaßt, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen Erstbeleg im Trésor de la langue française von 1524 (ohne weitere Angaben) sowie eine weitere vorsichtige Mutmaßung mit Verweis auf den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Ettmayer (1916:231) zu einer terminologischen Filiation ‚Italienisch – Französisch – Deutsch‘.
Diese These läßt sich problemlos erhärten, wenn man sich einerseits die allgemeine Begriffsgeschichte von lat. (lingua) vulgaris im Sinne von ‚Volksprache‘ vor Augen führt, die von Brunetto Latini (ca. 1220–1294; Li livres dou tresor, ca. 1265: vulgar parleure) über Dante Alighieri (1265–1321; De vulgari eloquentia, 1302–1305: vulgaris locutio; Convivio, 1306: volgare) und Joachim du Bellay (1522–1560; Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, 1549: vulgaument) zu Johann Gottfried Herder (1744–1803; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und der bildenden Künste, 1794–196: Vulgar- und Pöbelsprache) führt (cf. Ueding 2009:1245–1246) und andererseits die in vorliegender Arbeit (cf. infra) untersuchte Diskussion um die Sprache der römischen Antike, in der der Begriff seit Flavio Biondo (1392–1463; De verbis romanae locutionis, 1435) in diesem Sinne Verwendung findet (hier noch auf Latein: vulgare) und schließlich nach einer Reihe weiterer Debatten über eineinhalb Jahrhunderte bei Celso Cittadini (1553–1627; Trattato della vera origine, 1601: latino volgare) präzisere Form gewinnt. Ergänzt man dies durch die Angabe im TLF, hinter der sich die Schrift Le Blazon des Hérétiques (1524) von Pierre Gringore (1475–1539) verbirgt,262 sowie durch einige Meilensteine in der französischen Forschungsdiskussion der folgenden Jahrhunderte wie Pierre-Nicolas Bonamy (1694–1770; Mémoire sur l’introduction de la langue Latine dans les Gaules, sous la domination Romains, 1751)263 und Claude Fauriel (1772–1844; Histoire de la poésie provençale, 1846),264 so schließt sich der Kreis. Grundlage der Verbreitung des Begriffs ist also der enge Kulturaustausch zwischen Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit und schließlich die Übernahme ins Deutsche zu Zeiten des Höhepunktes französischer Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert.265
Schuchardt greift also bereits auf eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein zurück und kann dabei vor dem Hintergrund der neu entstandenen Sprachwissenschaft strictu sensu Begriff und Konzept noch einmal präzisieren und letztlich auch terminologisch im Rahmen einer eigenen Wissenschaft institutionalisieren.
Da die Sprachwissenschaft im Allgemeinen und speziell die lateinische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten einen so bedeutenden Aufschwung genommen hat, so muss es befremden, dass bis jetzt dem Vulgärlatein noch keine eingehende Berücksichtigung zu Theil geworden ist. Es verdient eine solche mit vollstem Rechte. Den Sprachforscher beschäftigt das Werden der Sprache. Ihm bietet daher das ‚gute Latein‘, welches in Folge litterarischer Evolutionen auch aus dem Strome der Sprachentwicklung abgesondert hat und erstarrt ist, ein weit geringeres Interesse, als das ‚schlechte Latein‘, welches sich zu jenem verhält, wie Vielheit zur Einheit und Bewegtes zu Unbewegtem. Das klassische Latein ist durch das Vulgärlatein auf der einen Seite mit den altitalischen, auf der anderen mit den romanischen Sprachen verbunden, sodass wir den Gang des Idioms, welches innerhalb der Mauern Roms seinen Ursitz hatte, ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrtausende hin verfolgen können, ein Fall, dem sich wenige ähnliche an die Seite stellen lassen. Ferner sind die rustiken Sprachformen nicht unwichtig als Kriterien sowohl bei der Bestimmung der Zeit von schriftlichen Denkmälern, als bei der Herstellung von Autorentexten aus verderbten Handschriften. (Schuchardt 1866:VII)
Die Aufgabe266 ist – abgesehen von dem äusseren Umstande, dass eine Vereinigung eingehender lateinischer und romanischer Sprachstudien der Tradition zuwiderläuft – allerdings eine sehr schwierige, da der Ausdruck ‚Vulgärlatein‘ strenggenommen nicht eine einzige Sprache, sondern eine Summe von Sprachstufen und Dialekten von der Zeit der ersten römischen bis zur Zeit der ersten wirklich romanischen Schriftdenkmäler bedeutet. Den meisten Zweifeln und Verlegenheiten ist man bei Begründung der Lautlehre ausgesetzt, wo es gilt, die gesprochenen Formen aus ihren schriftlichen Darstellungen richtig zu eruiren und sie bei ihrer oft sich widersprechenden Mannichfaltigkeit richtig zu ordnen. (Schuchardt 1866:IX-X)
Wenn Schuchardt hier moniert, daß das Vulgärlatein bisher noch „keine eingehende Berücksichtigung“ gefunden hätte, dann bezieht sich dies vor allem auf die systematische Auseinandersetzung mit dem, was er darunter versteht. Es gibt jedoch auch eine Forschungstradition der Latinisten, die von Winkelmann (1833) über Rebling (1873) zu Hofmann (1926) reicht,267 in der ein Großteil des nicht-klassischen Lateins unter dem Begriff ‚Umgangssprache‘ abgehandelt wird. Dabei werden ebenfalls Phänomene untersucht und diskutiert, die sich mit denen überschneiden, die bei den Romanisten unter ‚Vulgärlatein‘ figurieren, dennoch sind beide Ansätze nicht deckungsgleich. Für die romanistische Forschung ist die Frage nach der Basis bzw. dem Ursprung der romanischen Sprachen von eminenter Bedeutung sowie die damit verbundene diachrone Perspektive, während die Latinisten tendenziell eher synchron die verschiedenen Arten des Lateins im Blick haben.
Von den auf Schuchardt folgenden Generationen von Romanisten und Wissenschaftlern anderer Fachdisziplinen, die sich der weiteren Untersuchung des Vulgärlateins gewidmet haben, sollen hier im vorliegenden Rahmen nur selektiv einige wenige mit ihren Werken genannt werden; für eine ausführlichere Zusammenstellung sei auf die einschlägigen forschungsgeschichtlichen Synopsen verwiesen (cf. z.B. Reichenkron 1965:1–4; Herman 2003; Kiesler 2006:3–13). Neben den bereits erwähnten latinistischen Arbeiten, von denen vor allem Hofmann mit seiner Lateinischen Umgangssprache (1926) hervorsticht, da dieses Œuvre mehrfach neu aufgelegt und in weitere Sprachen übersetzt wurde (Spanisch, Italienisch), aber auch seinen Widerhall in der einschlägigen Grammatik von Leumann/Hofmann (1928) findet, sind folgende monographische Meilensteine der vulgärlateinischen Forschung zu nennen: Grandgent (1907), An Introduction to Vulgar Latin; Muller (1929), A Chronology of Vulgar Latin; Battisti (1949), Avviamento allo studio del latino volgare; Voßler (1953), Einführung ins Vulgärlatein; Coseriu (1954), El llamado ‚latin vulgar‘ y las primeras diferenciaciones romances;268 Silva Neto (1957), História do latim vulgar; Löfstedt (1959), Late Latin; Väänänen (11963, 42002), Introduction au latin vulgaire; Sofer (1963), Zur Problematik des Vulgärlateins; Herman (1967), Le latin vulgaire.269
Hinzu kommen Sammlungen mit Belegstellen bzw. wichtigen vulgärlateinischen Texten wie beispielsweise Rohlfs (1951), Sermo vulgaris latinus, Iliescu/Slusanski (1991), Du latin aux langues romanes oder Kramer (1976), Literarische Quellen zur Aussprache des Vulgärlateins und Kramer (2007), Vulgärlateinische Alltagsdokumente, aber auch spezifische Grammatiken wie Maurer (1959), Gramática do latim vulgar oder Reichenkron (1965), Historische latein-altromanische Grammatik.270 Weiterhin sind Darstellungen, die sich auf den Übergang vom Lateinischen zum Romanischen spezialisiert haben, zu erwähnen, wie z.B. Stefenelli (1992), Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den romanischen Sprachen, Herman (1990), Du latin aux langues romanes, Zamboni (2000), Dell’italiano. Dinamiche e tipologie della transizione dal latino, Euler (2005), Vom Vulgärlatein zu den romanischen Einzelsprachen, Herman (2006), Du latin aux langues romanes II, Coseriu (2008), Latein-Romanisch oder schließlich Wright (1982), Late Latin and early Romance in Spain and Carolingian France, der mit seiner These zum Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der spätlateinischen und frühromanischen Phase für Aufsehen sorgte.
Die aktuelle Forschung äußert sich vor allem in zahlreichen, verstreut publizierten Aufsätzen, wofür stellvertretend hier jedoch die wichtigen Sammelbände zu den Tagungen des Vulgär- und Spätlateins (latin vulgaire – latin tardif) angeführt seien: Herman (1987), Calboli (1990), Iliescu/Marxgut (1992), Callebat (1995), Petersmann/Kettemann (1999), Solin/Leiwo/Halla-Aho (2003), Arias Abellán (2006), Wright (2008), Biville (2012), Molinelli/Cuzzolin/Fedriani (2014). Die aktuelle Forschung aus Sicht der Romanistik spiegelt sich vor allem in den einschlägigen Artikeln des Lexikons der Romanistischen Linguistik, des Handbuchs zur Geschichte der romanischen Sprachen und den neu erscheinenden Manuals of Romance Linguistics.271










