Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Zum anderen ist es dann wiederum nötig, die einzelnen Traktate auch zu „rekontextualisieren“,10 also in dem entsprechenden zeitgeschichtlichen Diskurs zu verorten, d.h. die Texte ganz traditionell philologisch bzw. hermeneutisch zu interpretieren (cf. Kap. 3.2). Die beiden separat gewonnenen Erkenntnisstränge, die keinesfalls antogonistisch aufzufassen sind, sondern sich produktiv ergänzend, sollen dann wiederum zu einer Gesamtschau zusammengeführt werden. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise sollen folgende konkrete Untersuchungsziele erreicht werden:
1 Die Vorstellungen der einzelnen Autoren der Frühen Neuzeit hinsichtlich des Lateins, insbesondere dessen, was heutzutage unter Vulgärlatein zu verstehen ist, sollen herauspräpariert werden (cf. Kap. 6.2), d.h. moderne, innovative einerseits und traditionelle Konzeptionen andererseits deutlich gemacht werden, und zwar durch folgende Verfahren:durch die Gegenüberstellung und Vereinigung der modernen Lesart der Traktate (varietäten- und soziolinguistische Begriffe) mit einer traditionellen, also der Verortung der untersuchten Schriften im Kontext der Zeit (‚Rekontextualisierung‘);durch die Gegenüberstellung des damaligen Kenntnisstandes (Frühe Neuzeit) über das Latein und seine Varietäten mit den heutigen.
2 Die Darstellung des Prozesses des Wandels dieser Sprachvorstellungen über die Antike in dem Zeitraum von Dante bzw. von Leonardo Bruni/Flavio Biondo bis Celso Cittadini bildet den zweiten Fokus dieser Arbeit (cf. Kap. 7).
Da es sich mitunter um Autoren bzw. Schriften handelt, die im Rahmen der questione della lingua durchaus schon Gegenstand von Untersuchungen waren, soll eben genau dieser bisher eher vernachlässigte Aspekt zur Vorstellung über die Sprachsituation der Antike fokussiert werden (nicht die gesamte questione) und gerade auch bei schon des Öfteren diskutierten Positionen sollen kritische Stellen besonders hervorgehoben werden. Dabei erlaubt es die hier dargelegte, doppelte Analyse-Perspektive, das Denken im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Neuzeit adäquat darzustellen sowie Gemeinsamkeiten und Diskrepanzen zwischen frühneuzeitlichem und modernem Wissensstand präzise herauszuarbeiten.
Das Desiderat des hier skizzierten Unterfangens ergibt sich nicht nur aus der bisher fehlenden Begriffsgeschichte zum Vulgärlatein (cf. Kiesler 2006:8), sondern auch aus einer bisher noch nicht in gebotenem Umfang vorliegenden Nachzeichnung dieser spezifischen frühneuzeitlichen Diskussion,11 vor allem nicht unter dem dezidierten Blickwinkel moderner Erkenntnisse der Varietäten- und Soziolinguistik vor dem Hintergrund einer vertieften Forschung zur antiken Sprachsituation und der Entstehung der romanischen Sprachen.
Die Vorgehensweise die gesamte Debatte durch die Behandlung der Positionen der einzelnen Humanisten zu strukturieren, richtet sich zum einen ganz pragmatisch nach der Mehrzahl bisheriger Forschungsarbeiten zu diesem Thema (cf. Kap. 2), zum anderen hat es den Vorteil, daß dadurch die gesamte Denkrichtung einzelner Protagonisten und der Kontext der Entstehung einzelner Ideen zu dieser Debatte deutlicher herausgearbeitet werden können. Um hingegen den Verlauf der Debatte und bestimmte Entwicklungstendenzen sowie die entsprechenden einwirkenden Faktoren aufzeigen zu können, dienen die jeweiligen Zwischenresümees sowie das ausführliche Fazit am Schluß der Arbeit.
2. Forschungsstand
Der vorliegende Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur ist an dieser Stelle bewußt selektiv und knapp gehalten, da eine entsprechende Behandlung pro einzelnem Themenkomplex in den verschiedenen theoretischen Kapiteln bereits erfolgt ist. Ausgeklammert werden sollen hier deshalb insbesondere die Forschungsübersichten zu den Fragen der Sozio- und Varietätenlinguistik, da hierzu einzelne Kapitel folgen, in denen die aktuelle Forschungslage kontrovers diskutiert wird (cf. Kap. 3.1.1, 3.1.2), sowie gleichermaßen zum Phänomen der Rekontextualisierung und Hermeneutik (cf. Kap. 3.2).
Es sei deshalb mit einem kurzen Überblick zum Thema der Architektur des Lateinischen begonnen. Eine Einführung in die Geschichte der lateinischen Sprache bieten die Synopsen von Schmidt (1996) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL) mit der Genese aus dem Indogermanischen, von Steinbauer (2003) in den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) zur Romanischen Sprachgeschichte sowie von Herman (1996) im LRL und von Seidl (2003) im HSK, beide mit einer Aufschlüsselung der Varietäten. Als Handbücher bzw. umfangreiche Darstellung sind Clackson (2011) und Willms (2013) zu nennen, letztere mit expliziter Ausrichtung an Studierende. Hervorzuheben ist das außerordentlich fundierte Werk von Poccetti/Poli/Santini (2005) zur Geschichte und den Varietäten des Lateinischen mit vielen ausführlich diskutierten Einzelaspekten. Ebenfalls in ihrer Materialfülle unverzichtbare Werke sind die von Adams (2003, 2007), der wohl erstmals systematisch die Diatopik des Lateins untersucht sowie die Mehrsprachigkeit der römischen Gesellschaft.
Zu den Ursprüngen des Lateinischen liegt eine Monographie von Baldi (2002) vor, eine wichtige Studie zum Sprachbewußtsein und der (stilistischen) Variation des Lateinischen ist die sehr detaillierte und mit viel Belegmaterial angereicherte Arbeit von Müller (2003). Aus romanistischer Perspektive arbeitet Müller-Lancé (2006), der sowohl die lateinische Sprachgeschichte als auch varietätenlinguistische Differenzierungen berücksichtig. In der Latinistik gilt das Werk von Hofmann (³1951, [11926]) zur Umgangssprache als ein früher Blick auf die Variation des Lateinischen. Diese Perspektive ist zum Teil bis heute prägend und nur langsam finden moderne varietätenlinguistische Einflüsse ihren Weg in die philologisch geprägten Traditionen (cf. Handbücher supra).
Einen Überblick zum mittelalterlichen Latein liefert Stötz (2002) mit seinem fünfbändigen Handbuch zu Wortschatz, Bedeutungswandel, Lautlehre sowie Syntax und Formenlehre, außerdem Berschin (2012), das hingegen gesamtphilologisch konzipiert ist. Eine verdichtete aber komplette Geschichte des Lateinischen liegt mit Kramer (1997) vor, der auch varietätenlinguistische Aspekte miteinfließen läßt. An Grammatiken mit Kapiteln zur Sprachgeschichte und Variation des Lateinischen sind Leumann/Hofmann (1928), Palmer (1990) und Meiser (2010) zu nennen.
Das Vulgärlateinische wird in der Forschung erstmals von Schuchardt (1866–1868) in Bezug auf den Lautwandel thematisiert, im weiteren liegen wichtige Arbeiten von Silva Neto (1957), Vossler (1953), Väänänen (11963, 42002) und Herman (1967) vor, der zahlreiche weitere Tagungen zu diesem Thema initiiert hat.12 In neuerer Zeit sind Forschungskompilationen von Euler (2005) aus indogermanistischer Perspektive und Kiesler (2006) aus romanistischer Perspektive entstanden. Den Übergang zum Romanischen behandeln vor allem Coseriu (1978, 2008), Wright (1982), Iliescu/Slusanski (1991) und ganz aktuell der Beitrag von Reutner (2014) in der Reihe der Manuals of Romance Linguistics (MRL).
Der zweite Teil des Forschungsüberblicks soll nun dem zentralen Untersuchungsgegenstand der humanistischen Debatte im 15. und 16. Jh. gewidmet sein. Die Zahl der Publikationen zu den allgemeinen Themenbereiche ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ist entsprechend der Vielfalt des Spektrums an Fachwissenschaften, die sich damit auseinandersetzen, geradezu unüberschaubar. Für eine Synopse zur hier relevanten begrifflichen und inhaltlichen Abgrenzung sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen (cf. 6.1.1) und vorab nur selektiv auf ein paar Grundlagen-Werke. Nach wie vor unverzichtbar und nicht nur wissenschaftsgeschichtlich von Relevanz sind die Darlegungen von Burckhardt (2009, [1860]), dessen Kultur der Renaissance in Italien bis heute immer wieder aufgelegt wird. Wichtige Werke, die ebenfalls dazu beigetragen haben, diesen Untersuchungsbereich, vor allem im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Philologie zu konstituieren, liegen mit der zweibändigen Arbeit von Kristeller (1973/1975) sowie mit dem Sammelband und der Monographie von Buck (1969, 1987) vor, des Weiteren zählt dazu auch Baron (1966, 1968) und Burke (1998), der ebenfalls einen umfassenden Blick auf diese europäische Epoche wirft. Als Exempel einer ausgewählten neueren Übersicht seien die Aufsatzsammlung von Wyatt (2014) in der Reihe der Cambridge Companions to Culture genannt sowie die Monographien von Fubini (2003) und von Baker (2015). Erwähnenswert ist auch das aktuelle zweibändige Monumentalwerk zu Philosophie der Epoche von Leinkauf (2017). An spezifischen Lexika seien zum einen die mehrbändige englische Encyclopedia of the Renaissance von Grendler (1999a) genannt, das Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von Jaumann (2004), der 9. Supplementband (Renaissance-Humanismus) des Neuen Pauly von Landfester (2014a) und schließlich, eher kompakt, das Lexikon der Renaissance von Münkler/Münkler (2005).
In Bezug auf das speziellere aber dennoch bereits recht gut untersuchte Thema der questione della lingua in Italien sind neben älteren Werken von Luzzato (1893), Vivaldi (1894–1898), Furnari (1900), Belardinelli (1904), Labande-Jeanroy (1925) und Hall (1942), Mazzacurati (1965) und vor allem Vitale (1984 [11960]) als Referenz zu nennen. Neuere monographische Übersichtsarbeiten wären beispielsweise Bagola (1991) sowie Marazzini (2013, 2018) und Vitale (2006) sowie die Sammelbände von Pozzi (1988) und Belardi (1995) und schließlich die Aufsätze von Grayson (1982), Baldelli (1982) und Marazzini (2016).13 Ebenfalls zu nennen ist zudem die Anthologie mit den wichtigsten Schlüsseltexten von Pozzi (1988) und Scarpa (2012), wobei vor allem die neueren Arbeiten wie die von Marazzini und Scarpa den Begriff der questione sehr weit fassen und bis in die aktuelle Sprachdiskussion ausdehnen.14 Ausgewählte Aspekte der Sprachendiskussion beleuchten zum Beispiel die Arbeiten von Schunck (2003), die den metasprachlichen Diskurs des Sprachwandels diskutiert und hierzu wertvolle Einblicke liefert, sowie Ellena (2011), die insbesondere die Rolle der norditalienischen Varietäten in den Blick nimmt, aber darüberhinaus auch einen wertvollen Leitfaden für diese Epoche mit einem umfangreichen Quelleninventar bietet, oder aber Sabbatino (1995), der speziell die Kontroverse in Neapel beleuchtet. Einen wichtigen Überblick zur Periodisierung der Epoche liefert Koch (1988b), dessen Grundgerüst auch im Vorliegenden als Bezugsrahmen aufgegriffen wird.
Als die wichtigsten Forschungsarbeiten für den Kernbereich vorliegender Arbeit, also die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung von Latein- und Vulgärhumanismus, seien folgende angeführt: An chronologisch erster Stelle sei Strauss (1938) genannt, der bereits früh den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Ursprung des Konzeptes Vulgärlatein und der humanistischen Auseinandersetzung herstellt und nach wie vor zu konsultieren ist. Ebenfalls wertvolle Hinweise finden sich bei Klein (1957), der zahlreiche Aspekte der Gelehrten-Diskussion um das aufkommende volgare in der lateindominierten Literatur auf den Punkt bringt und in seiner Präzision in Bezug auf die sprachhistorischen Zusammenhänge unverzichtbar bleibt. Als Übersichtsstudien mit je unterschiedlichen Schwerpunkten in Form von Aufsätzen seien exemplarisch Migliorini (1949), Fubini (1961), Bahner (1983) und Kristeller (1973/1975; 1984) genannt sowie Faithfull (1953) zum spezifischen Aspekt der lingua viva. Einige ausgewählte Humanisten des 15. und 16. Jhs. werden in der knappen Zusammenstellung bei Dionisotti (1968) diskutiert, allerdings im Wesentlichen unter dem Aspekt der questione della lingua.
Die wichtigsten Protagonisten des 15. Jh. in dieser Debatte werden in der fundierten Darstellung von Tavoni (1984) behandelt, der zahlreiche Einzelfragen behandelt sowie wichtige Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Humanisten herausarbeitet; zudem finden sich dort Auszüge der jeweils relevanten Primärtexte. Auf Tavoni basiert im Wesentlichen auch das Buch von Marchiò (2008), allerdings mit einem leicht veränderten und erweiterten Inventar der an der Debatte beteiligten Humanisten. Auch hier werden Primärtexte in Auszügen präsentiert, die dann im Wesentlichen inhaltlich zusammengefasst und partiell kommentiert werden, allerdings deutlich weniger tief als bei Tavoni. Äußerst wertvoll und kondensiert erweist sich die Monographie von Mazzocco (1993), der ebenfalls die wichtigsten Teilnehmer und den historischen Kontext behandelt, allerdings ohne Textauszüge wie Tavoni und Marchiò, dafür mit reichlich Zitaten und zahlreichen Belegen, die die Zusammenhänge zwischen den humanistischen Autoren verdeutlichen. Eine kürzere aber dennoch aufs Wesentliche reduzierte Darstellung findet sich in einigen Kapiteln bei Coseriu/Meisterfeld (2003). Hier werden ebenfalls keine vollständigen Primärtexte abgedruckt, sondern es finden sich nur einzelnen Schlüsselzitate, die dann kommentiert und in den sprachhistorischen Zusammenhang gestellt werden. Eine kommentierte Auswahl von Textauszügen allein mit Biondo, Bruni, Poggio und Valla wurde kürzlich auf Französisch von Raffarin (2015) herausgegeben, was eine nützliche Quelle in Bezug auf die Texte darstellt, jedoch als Sekundärliteratur wenig ergiebig ist. Eine sehr umfangreiche Einleitung und ausführliche Anmerkungen zu den abgedruckten Primärtexten samt italienischer Übersetzung bieten schließlich aktuell Marcellino/Ammannati (2015), allerdings rein für die Schlüsseltraktate von Bruni und Biondo. Für das 16. Jahrhundert kann außer auf die allgemeinen Darstellungen zur questione della lingua und zur italienischen Sprachgeschichte15 nur auf Schlemmer (1983a) zurückgegriffen werden, der in seiner Untersuchung allerdings den Fokus auf das Superstrat hat,16 sowie partiell auf Marazzini (1989), der das Sprachbewußtsein vom Humanismus bis zur Romantik untersucht. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in der auf Vorlesungen der 1970er Jahre zurückgehenden und erst kürzlich herausgegebenen Sprachwissenschaftsgeschichte von Coseriu (2020). Neuere Aufsätze, die vorliegende Debatte mitberücksichtigen und das 15. und 16. Jh. behandeln, wären Schöntag (2017b) und Eskhult (2018).
Gerade die von italienischen Wissenschaftlern verfassten Arbeiten zu dieser Thematik haben oft eher eine gesamtphilologische Ausrichtung, in dem der hier im Fokus stehende linguistische Aspekt eher beiläufig behandelt wird, d.h. auch, daß Begiffe wie Diglossie oder diastratisch wenn, dann nur beiläufig auftreten und keine durchgehende sozio- oder varietätenlinguistische Verortung der einzelnen Traktate vorgenommen wird. So verwenden beispielsweise Tavoni (1984:XII, XV) und Mazzocco (1993:192, 195, 199) allein den Terminus diglossia, aber keine Begriffe des Diasystems; Marcellino/Ammanati (2015) immerhin neben diglossia (id. 2015:23) auch diastratico (id. 2015:25), während bei Marchiò (2008) mit diesen Begriffen gar nicht operiert wird. Letztlich bieten allerdings auch Schlemmer (1983a) oder Coseriu/Meisterfeld (2003), die sehr wohl einzelne Phänomene diasystematisch benennen, keine systematische varietätenlinguistische Analyse.
Die in der Forschung nachgezeichnete Debatte wird zudem meist auf die Anfangsjahre bzw. maximal auf das 15. Jh. beschränkt (v. supra),17 während hier, aus genannten Gründen (cf. Kap. 1.2) explizit der Zeitraum auf das 16. Jh. bzw. bis Anfang des 17. Jh. ausgedehnt wird (1435–1601) und somit auch mehr Humanisten und ihre Positionen berücksichtigt werden können.
Die Spezialliteratur zu den einzelnen Protagonisten der vorliegend nachgezeichneten Debatte sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen, ebenso die zahlreichen Einzelstudien zu diversen Teilaspekten des abgehandelten Themas.
3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive
Wie bereits in der Einleitung angesprochen (cf. Kap. 1.3 Untersuchungsebenen) besteht die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit darin, eine Analyse auf zwei Ebenen vorzunehmen, um das Ziel, nämlich die Erfassung der Vorstellungen über das antike Latein in der Frühen Neuzeit und den Wandel dieses Verständnisses adäquat erschließen zu können (cf. Kap. 1.4 Untersuchungsmethode- und Untersuchungsziel).
Auf der ersten Analyseebene soll dabei versucht werden, die frühneuzeitlichen Texte rein unter dem Blickwinkel moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Erkenntnisse und Begrifflichkeiten zu erfassen, um sie dann auf der zweiten Untersuchungsebene wieder zu rekontextualisieren, d.h. sie adäquat im Kontext der Zeit zu verorten. Durch die Gegenüberstellung von moderner, rein varietäten- und soziolinguistischer und traditioneller, gesamtphilologischer, historischer Perspektivierung sollen zum einen methodisch schärfer als bisher die beiden Herangehensweise voneinander getrennt werden und zum anderen sollen durch eben diese Trennung auf der Analyseebene die Ansätze moderner Forschung präziser von den zeitgeschichtlichen Implikationen abgehoben werden.
Im Folgenden sei nun deshalb zunächst ein Abriß zu den theoretischen Grundlagen gegeben, in dem Modelle und Begrifflichkeiten im Sinne eines wissenschaftlichen Instrumentariums reflektiert werden sollen.
3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle
3.1.1 Varietätenlinguistische Perspektive
Die im vorliegenden Fall gestellte Aufgabe an ein begriffliches Instrumentarium ist die Fähigkeit zu einer möglichst präzisen Erfassung von bestimmten historischen Phänomenen und Konstellationen.
Vorrangig geht es um die Beschreibung der Architektur des Lateins in der Antike sowie um die Situationen seiner Verwendung, auch im Verhältnis zu anderen Sprachen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, Phasen der Entwicklung des Lateins bis in die Frühe Neuzeit darzustellen sowie den situationsabhängigen Gebrauch von Latein und Italienisch in derselben Epoche. Dabei sollen sowohl die nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben ermittelbaren sprachlichen Phänomene und Situationen der Sprachverwendung beschrieben werden können, als auch deren Wiedergabe aus Sicht der antiken und humanistischen Sprachreflexion.
Zentrale Aspekte sind demnach die Vielfalt und Einheit von Sprachen, situationsbedingter Gebrauch von Sprachen sowie Sprachwandel.
Die beiden hier in Betracht zu ziehenden linguistischen Teildisziplinen Varietätenlinguistik und Soziolinguistik liefern jedoch Modelle, die in ihrer Mehrheit, nicht nur, aber hauptsächlich, für synchron gegenwartsbezogene Phänomene konzipiert sind; nichtsdestoweniger sind sie hier primäre Referenz und sollen hier zunächst weitgehend unabhängig von ihrer Adäquatheit in Bezug auf die anvisierte historische Konstellation untersucht bzw. kritisch hinterfragt werden.
Aus der hier im Vordergrund stehenden romanistischen Perspektive ist das prominenteste Modell zur Beschreibung der Heterogenität einer Sprache das von Coseriu entwickelte System der verschiedenen Dimensionen von Sprachvariation, das sogenannte Diasystem.
Zur adäquaten Erfassung und Beschreibung der Coseriu’schen Theorie gehört zunächst seine grundlegende Unterteilung des Sprachlichen an sich. So differenziert er in Bezug auf die Tätigkeit des Sprechens drei Ebenen, nämlich die universelle Ebene, die historische Ebene und die individuelle (oder aktuelle) Ebene. Was prima facie wie eine Umbenennung der Saussure’schen Konzepte und Begrifflichkeiten langage, langue und parole aussieht (Saussure 1986:23–35), birgt trotz aller unbestreitbarer Referenz an die prägende theoretische Differenzierung des Begründers des Strukturalismus einige Spezifika, die eine direkte In-Bezug-Setzung dieser Begriffspaare nicht zulassen.18 Zunächst einmal liegt der Trichotomie Coserius eine andere Perspektive zugrunde, insofern er durch seine Benennung die jeweilige Zuordnung und die Art der Abstraktion noch deutlicher in den Vordergrund stellt. Zudem weist Coseriu auf bestimmte Charakteristika hin, die der jeweiligen Ebene zugehören, die bei Saussure so nicht in gleicher Weise explizit werden.19 Dazu gehört u.a. die Tatsache, daß der universellen Ebene auch bestimmte sprachliche Phänomene zugeordnet werden können, Sprache also nicht nur eine unbestimmte Abstraktion oder eine reine faculté de langage (Saussure 1986:25) ist,20 oder, daß auf der Ebene der historischen Einzelsprache bestimmte Diskurstraditionen wirksam werden. Hinzu kommt, daß Coseriu dieses Konzept einerseits mit den von Humboldt abgeleiteten Merkmalen der menschlichen Sprache, nämlich ‚Tätigkeit‘ (energeia), ‚Wissen‘ (dynamos) und ‚Produkt‘ (ergon) korreliert (Coseriu 1958)21 und andererseits mit seiner Trichotomie ,System-Norm-Rede‘ (Coseriu 1952), wodurch die Saussure’sche Opposition langue vs. parole ergänzt werden soll.
Auf der Ebene der historischen Einzelsprache, die hier von besonderem Interesse ist, unterscheidet er aufgrund der Tatsache, daß diese für ihn keine Einheit darstellt, wiederum drei verschiedene Ebenen mit bestimmten Charakteristika:
- Unterschiede der geographischen Ausdehnung einer Sprache, d.h. DIATOPISCHE Unterschiede, die Lokaldialekte und Regionalsprachen konstituieren. […]22
- Unterschiede zwischen den sozial-kulturellen Schichten einer Sprache, d.h. DIASTRATISCHE Unterschiede, die sprachliche Ebenen wie Hochsprache, gehobene Umgangssprache, Volkssprache charakterisieren. […]
- Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachstilen, d.h. DIAPHASISCHE Unterschiede, die synphasische Ebenen wie gebräuchliche Umgangssprache, feierliche Sprache, familiäre Sprache, Sprache der Männer, Sprache der Frauen, poetische Sprache, Prosasprache usw. voneinander unterscheiden. (Coseriu 1973:38–39)
Eine wichtige Ergänzung dazu sind seine darauffolgenden Erläuterungen, die deutlich machen, daß er sich die einzelnen Ebenen als sich überlagernde vorstellt, so daß verschiedene Merkmale auch in Kombination auftreten können, wie er an dem Verb se dévorer erläutert, welches sowohl als ‚südfranzösisch‘ (diatopische Ebene) als auch als ‚familiär‘ (diaphasische Ebene) charakterisiert werden kann. Dies bringt ihm zum Ergebnis, daß „eine historische Sprache nie ein einziges Sprachsystem“ sein kann, „sondern immer ein DIASYSTEM, eine Summe verschiedener Sprachsysteme, die miteinander koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen und überlagern“ (Coseriu 1973:40).23
Eine weitere wichtige Unterscheidung, die er in diesem Kontext trifft, ist die zwischen Architektur und Struktur einer Sprache, wobei er unter Architektur die „inneren Unterschiede“ versteht, also nicht die Oppositionen im Saussure’schen Sinne, sondern die Verschiedenheiten, die sich zwischen den eben ausgeführten Ebenen manifestieren, während die Struktur sich gerade durch die Oppositionen, d.h. durch die Unterschiede auf einer Systemebene, also innerhalb einer funktionellen Sprache, konstituiert (Coseriu 1970:32–34; 1973:40).24
Die in der Romanistik prominenteste Weiterentwicklung dieser diasystematischen Ebenengliederung der Sprache wurde nach einigen Vorarbeiten (z.B. Koch/Oesterreicher 1985; Koch 1985, 1986; Oesterreicher 1988) in einer Untersuchung zum gesprochenen Französischen, Italienischen und Spanischen von Koch/Oesterreicher (11990) präsentiert. Im Zuge weiterer Publikationen (z.B. Koch/Oesterreicher 1994, 2001; Koch 1997, 1999; Oesterreicher 1993, 1995, 1997) und einer überarbeiteten spanischen Übersetzung (1997) sowie einer Neuauflage der ersten Monographie (²2011) ist es inzwischen durchaus usus, vom Modell ,Koch/Oesterreicher‘ zu sprechen, wenn man eine bestimmte Betrachtungsweise in der romanistischen Varietätenlinguistik meint.
Dieses im Laufe der Zeit herausgearbeitete Modell ist durch viele moderne sprachwissenschaftliche Theorien und Konzepte inspiriert, dennoch kann man konstatieren, daß es bestimmte Grundpfeiler theoretischer Vorgänger-Modelle gibt, auf denen es ruht und die im Folgenden skizziert werden sollen.
Eine der für Koch/Oesterreicher fundamentalen Differenzierungen im Hinblick auf ihre Untersuchung zur gesprochenen Sprache ist die auf Söll (11974) zurückgehende Opposition von Konzeption und Medium. Ausgehend von der einfachen Feststellung, daß man Umgangssprache auch schreiben bzw. lesen kann und umgekehrt elaborierte Texte auch vorgelesen werden können und damit hörbar werden, trifft er zunächst die mediale Unterscheidung phonisch vs. graphisch mit dem Hinweis, daß erstere Kommunikationsform die primäre sei,25 um dann noch eine konzeptionelle zwischen schriftlich und mündlich vorzunehmen (cf. Söll 1985:19–20).










